Freitag, 28. Februar 2025

Demütiger Glaube schmutziger Pilger – Caravaggios „Madonna di Loreto“

Caravaggio: Madonna di Loreto (1604/05); Rom, Sant'Agostino
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Caravaggios Bild der Madonna di Loreto, auch Madonna dei Pelegrini genannt (1604/05 entstanden), befindet sich bis heute an dem Platz, für den es geschaffen wurde: dem Altar der Kapelle der Familie Cavaletti in der römischen Kirche Sant‘Agostino. Der Titel di Loreto nimmt Bezug auf eine Legende, nach der, als im 13. Jahrhundert das Heilige Land von muslimischen Armeen erobert wurde, das Haus der Mutter Jesu auf wundersame Weise aus Nazareth nach Loreto umgesetzt wurde. Um das Haus herum wurde daraufhin eine Kirche gebaut, die sich zu einem bedeutenden Pilgerzentrum entwickelte.

Auf den Bildern, die die Legende von Loreto darstellen, steht in der Regel das Haus Mariens im Mittelpunkt. Bei Caravaggio ist davon nur ein Türrahmen und ein kleines Stück Wand zu sehen, von der der Putz abblättert. Seine Madonna di Loreto scheint, verglichen mit anderen Loreto-Madonnen, recht irdisch. Sie ist eine attraktive junge Frau, die ihren unbekleideten Sohn auf dem Arm hält. Ein weißes Tuch umspielt Rücken und Gesäß des Knaben, der auf dem Arm seiner Mutter sitzt, sodass sein Körper nur im Profil zu sehen und sein Schambereich verdeckt ist.

Maria ist in den typischen Farben rot und blau gekleidet, was sie als Gottesmutter erkennbar macht. Sie steht leicht erhöht auf einer steinernen Stufe an der Schwelle ihres Hauses und lehnt dabei mit übergeschlagenem rechtem Bein am Türrahmen. Ihr schon ungewöhnlich großes Kind hält sie mit einer Leichtigkeit, die den Knaben fast schwerelos erscheinen lässt. Caravaggio betont das physische Gewicht des Jungen, so Jutta Held, um „seine Menschlichkeit, die Inkarnation des Gottessohnes, seine Materialität“ (Held 2007, S. 130) hervorzuheben.

Ein schwacher Nimbus umstrahlt die Häupter Mariens und ihres Sohnes, die sich zu zwei wohl gerade erschienenen Pilgern herabbeugen. Zu ihren Füßen knien ein Mann und eine Frau – sie tragen noch ihre Pilger-Pelerinen und halten noch ihre Wanderstäbe zwischen den Armen. Noch hatten sie keine Gelegenheit, sich zu waschen, der Staub des Weges haftet noch an ihren unbeschuhten Füßen, die Caravaggio nah an uns Betrachter heranrückt. Ihre ärmliche Kleidung – der Mann trägt eine geflickte Hose –ist in verschiedenen Brauntönen gehalten; während der Kopf der Frau von einem Tuch oder eine Haube bedeckt wird, ist der Mann barhäuptig; ihre Physiognomien charakterisieren sie als Angehörige eines niedrigen Standes. Beider Blicke richten sich auf das Kind, das ihnen in einer Segensgeste den rechten Arm entgegenstreckt, während sie ihre Hände andächtig bzw. anbetend gefaltet haben: Sie sind am Ziel, sind dort angekommen, wohin sich aufgemacht hatten, und scheinen nun in ungläubig-gläubigem Staunen gefangen, während Mutter und Kind sich huldvoll den Pilgern zuneigen und ihnen in scheinbar routinierter Gelassenheit Zeit geben, die Situation zu begreifen.

Die Cavalletti-Kapelle im heutigen Zustand

Caravaggio präsentiert die vor ihrer Haustür stehende Madonna wie in einer Nische, vor der die Anbetenden knien. Die Darstellung gleicht einer denkbaren Szene vor einer entsprechenden Statue in einer Kirche oder Kapelle. Man gewinnt den Eindruck, Maria und ihr Kind seien durch den Glauben der Pilger zum Leben erwacht. Marias dunkler Schatten fällt auf den Türrahmen, auch das unterstreicht ihre reale Präsenz und ihre Körperlichkeit. Fast schwebend erscheint sie, nur auf einem Fuß stehend, während der andere nur mit den Zehenspitzen den Boden berührt.

Caravaggio schildert auf seinem Bild nicht das Wunder eines fliegenden und vor Ungläubigen flüchtenden Hauses – er zeigt das Wunder des Glaubens, das den Anbetenden die Nähe und den Segen Christi beschwert. „Durch den Glauben werden Mutter und Kind lebendig für sie, sie können für sie wirken, liegen nicht tot im Grab oder leben entfernt im Himmelreich. Sie sind präsent, sie zeigen Anteilnahme, Mitgefühl und Verständnis für die Menschen zu ihren Füßen“ (Steinbrück 2007, S. 59). Es verwundert nicht, dass Caravaggio gerade mit diesem Gemälde, wie ein früher Biograf des Künstlers berichtet, beim römischen Volk Anklang und Bewunderung fand. Gleichwohl ist Maria durch die Stufe erhöht und durch ihren Heiligenschein ebenso wie durch ihre Anmut und Jugend, die fein geschnitten Gesichtszüge, das helle Inkarnat und das samtglänzende dunkeltote Obergewand herausgehoben. Die Szene wirkt, als sei durch die Kraft des Glaubens eine Statue zum Leben erweckt worden, die Trost und Zuversicht spenden kann. Die persönliche Begegnung zwischen Maria, dem Gottessohn und Gläubigen steht ganz im Mittelpunkt, das Wunder der Translatio spielt keine Rolle.

Sog. Thusnelda (2. Jh. n.Chr.);
Florenz, Loggia dei Lanzi

Das Bewegungsmotiv Marias mit dem übergeschlagenen rechten Bein ist der antiken Statue sogenannten Thusnelda aus der Villa Medici entlehnt (2. Jh. n.Chr.), die sich heute in der Loggia die Lanzi in Florenz befindet. Zugleich ist Maria sehr naturnah wiedergegeben, und angeblich soll Caravaggio dabei eine mit ihm liierte Frau namens Lena als Modell benutzt haben.

Was uns am nächsten kommt, sind schmutzige Füße

Später wurde die naturalistische Darstellung der Pilger kritisiert, vor allem die verdreckten Fußsohlen in vorderster Bildebene betrachtete man als Verstoß gegen das decorum. So schrieb der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) in seinem Cicerone, dem einflussreichsten Kunstreiseführer des Bildungsbürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Caravaggios „Freude besteht darin, dem Beschauer zu beweisen, daß es bei all den heiligen Ereignissen der Urzeit eigentlich ganz so ordinär zugegangen sei wie auf den Gassen der südlichen Städte gegen Ende des 16. Jahrhunderts“ (Burckhardt 1933, S. 373). Tatsächlich entsprachen jedoch gerade die nackten Füße der Pilgerpraxis in Loreto. Weder für den Stifter des Altarbildes noch für die Chorherren von Sant’Agostino ist überliefert, dass sie Caravaggios Darstellung in irgendeiner Weise beanstandet hätten.

 

Literaturhinweise

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Band 2. (= Jacob Burckhardt-Gesamtausgabe, Band 4). Hrsg. von Heinrich Wölfflin. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1933, S. 373;

Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 172-176;

Goez, Werner: Caravaggio: vier umstrittene Bilder eines umstrittenen Malers. In: Karl Möseneder (Hrsg.), Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 119-140;

Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage), S. 184-191;

Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson, London 1983, S. 102-117;

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011, S. 122/125;

Steinbrück, Martin: Portrait oder kein Portrait. Zur Bedeutung des Portraits im Marienbild Caravaggios. In: Martin Steinbrück u.a. (Hrsg.), Das Porträt. Eine Bildgattung und ihre Möglichkeiten. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 57-70.


Mittwoch, 26. Februar 2025

Alt, einsam und dunkel nachsinnend – die „Pietà“ der Käthe Kollwitz

Käthe Kollwitz: Pietà (1937-1939); Köln, Käthe Kollwitz Museum
(H 38,6 x B 28,8 x T 40,3 cm)

Die Pietà von Käthe Kollwitz (1867–1945) gehört ohne Frage zu den weltweit bekanntesten Skulpturen der deutschen Bildhauerin und Grafikerin – sicherlich auch aufgrund der vierfach vergrößerten, posthum entstandenen Kopie, die seit 1993 den figürlichen Mittelpunkt der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in der Berliner Neuen Wache bildet.

Die vierfach vergrößerte Pietà in der Berliner Neuen Wache

Eine breitbeinig sitzende, in ein weites Gewand gehüllte alte Frau hält in ihrem Schoß einen nackten, leblosen jüngeren Mann. Mit seinen angewinkelten Beinen ist er so tief zurückgesunken, dass beider Körper nicht scharf getrennt sind, sondern ineinander überzugehen scheinen. Der nach hinten gefallene Kopf des junge Mannes wird beschattet vom rechten Arm und der Hand der alten Frau, die sie auch zum Mund geführt hat. Die Geste signalisiert Nachdenklichkeit, lässt sich aber auch so verstehen, als spreche die Frau hinter vorgehaltener Hand. Mit ihrer schalenförmig geöffneten Linken hat sie die schlaffe rechte Hand des Jünglings aufgenommen; unter gesenkten Lidern scheint sie auf die Begegnung der beiden Hände hinabzublicken. Als zärtliche Berührung erinnert diese Geste an das Grabrelief Trauernde Eltern, das Kollwitz 1917 entworfen hatte (nur noch als Fotografie erhalten).

Käthe Kollwitz hat die blockhafte Zweiergruppe mit einer eindeutigen Hauptansichtsseite gestaltet und in einem gemeinsamem Umriss zusammengefasst, um sie als Einheit erscheinen zu lassen. Das bestimmende Kompositionsschema ist die Pyramide, die durch zwei gegenläufige Diagonalen – die embryoartig angezogenen Unterschenkel der männlichen Gestalt und den rechten Unterarm der Mutter andererseits – gegliedert wird. Zudem wird die linke Hand der Frau durch die um das Gelenk kreisende Faltengebung betont.

Käthe Kollwitz: Grabrelief Trauernde Eltern (1917); nicht erhalten

In einem Tagebucheintrag vom 22. Oktober 1937 schreibt Käthe Kollwitz: „Ich arbeite an der kleinen Plastik, die hervorgegangen ist aus dem plastischen Versuch, den alten Menschen zu machen. Es ist nun so etwas wie eine Pietà geworden. Die Mutter sitzt und hat den toten Sohn zwischen ihren Knien im Schoß liegen. Es ist nicht mehr Schmerz, sondern Nachsinnen“ (Kollwitz 2012, S. 690). Die Bildhauerin hat allerdings mehrfach betont, dass ihre Pietà nicht als religiöses Werk zu verstehen ist (siehe meinen Post Der Schmerz einer Mutter“). Sie wird zumeist als Reflex auf den Verlust ihres Sohnes Peter Kollwitz gesehen, der als achtzehnjähriger Soldat bei der Ersten Flandernschlacht am 23. Oktober 1914 umgekommen war. Unbestritten war dessen Tod die schmerzhafteste unter den prägenden Erfahrungen im Leben der Künstlerin. Sie selbst brachte diesen Einschnitt im Tagebucheintrag vom 12. Oktober 1917 mit ihrem Altern in Verbindung: „Von da an datiert für mich das Altsein. Das dem Grabzugehn. Das war der Bruch. Das Beugen bis zu einem Grade, daß es nie mehr ein ganzes Aufrichten gibt“ (Kollwitz 2012, S. 334). Den Tod ihres jüngsten Sohnes hat sie nie verwunden, wohl auch deshalb nicht, weil sie es selbst war, die ihren Ehemann trotz dessen Widerstands dazu überredet hatte, Peter an die Front gehen zu lassen.

Annette Seeler ist der Ansicht, dass in Käthe Kollwitz‘ Pietà aber nicht nur ihres großes persönlichen Verlustes gedacht wird. Bei der Figur des Toten handele es sich ebenso um ein Kind im übertragenen Sinn, nämlich die Verkörperung des künstlerischen Schaffens von Käthe Kollwitz. Sie verweist darauf, dass die Künstlerin im November 1936 erleben musste, wie zwei ihrer Werke aus der Akademie-Ausstellung „Berliner Bildhauer von Schlüter bis zur Gegenwart“ einen Tag vor der Eröffnung entfernt wurden. Dass diese Erfahrung für sie der Tötung ihres Schaffensimpulses gleichkam, lasse sich mit einem Tagebucheintrag aus diesem Monat entnehmen. Dort spricht sie über ihr Vorhaben, einen alten Menschen darzustellen, und empfindet gleichzeitig, „daß ich wirklich mit meiner Arbeit zu Ende bin“, dass es nicht mehr wichtig sei, weiterhin produktiv zu sein oder nicht (Kollwitz, 2012, S. 686).

Michelangelo: Grabmal Lorenzo de Medici (1524-1531); Florenz, San Lorenzo
Michelangelo: Jeremias (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle

Als mögliche Anregungen für die Kollwitz-Pietà sind zum einen Werke von Michelangelo genannt worden: Für die sinnende Gebärde lässt sich auf die Skulptur Lorenzo de‘ Medicis auf dem Grabmal in der Florentiner Medici-Kapelle von San Lorenzo verweisen (1524-1531), ebenso auf die Figur des Propheten Jeremias aus der Sixtinischen Kapelle (1508-1512) in Rom.

Michelangelo: Pietà Bandini (unvollendet); Florenz, Museo dellOpera dell Duomo
Michelangelo: Pietà Rondanini (unvollendet); Mailand, Castello Sforzesco

Denkbar ist auch, dass sich die Bildhauerin bei dem Einzelmotiv der kraftlos zusammengesunkenen Beine an der Christus-Figur von Michelangelos Florentiner Pietà Bandini orientiert hat, die Kollwitz spätestens 1907 bei einem Aufenthalt in der Villa Romana kennengelernt haben wird, oder an Michelangelos Pietà Rondanini in Mailand, von der wohl eine Fotografie über dem Bett ihres Sohnes Peter hing.

Auguste Rodin: Der Denker (1880-1882); Bielefeld, Kunsthalle

Wichtigstes Vorbild für die Melancholiegeste bleibt aber neben dem berühmten Dürer-Kupferstich von 1514 die ebenso berühmte Statue des Denkers von Auguste Rodin (1840–1917), der seinen Kopf auf die an den Mund gelegten Faust stützt.

 

Literaturhinweise

Kollwitz, Käthe: Die Tagebücher 19081943. Hrsg. von Jutta Bohnke-Kollwitz, btb Verlag, München 2012;

Seeler, Annette: Käthe Kollwitz: Die Plastik. Werkverzeichnis. Hirmer Verlag, München 2016, S. 340-353.


Samstag, 22. Februar 2025

An ihren Hüten sollst du sie erkennen – die „Thronende Madonna mit den vier lateinischen Kirchenvätern“ von Moretto da Brescia

Moretto da Brescia: Thronende Madonna mit den vier lateinischen
Kirchenvätern (um 1540/50); Frankfurt, Städel Museum
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Bei den vier lateinischen Kirchenvätern handelt es sich um bedeutende Theologen aus frühchristlicher Zeit, deren Werke vom Papst oder von einem Konzil als für die katholische Kirche verbindliche Lehre anerkannt wurden: Es sind dies Ambrosius (340–397), Hieronymus (340–420), Augustinus (354–430) und Gregor der Große (540–604). In der christlichen Kunst werden sie häufig in einer Vierergruppe dargestellt, so etwa auf dem Gemälde Thronende Madonna mit den vier lateinischen Kirchenvätern von Moretto da Brescia (1498–1554) im Frankfurter Städel. Doch wer ist wer auf dieser riesenhaften Leinwand (290,4 x 195,8 cm)? Wie lassen sich die lateinischen Kirchenväter voneinander unterscheiden? Denn der Maler hat die Figuren nicht mit Inschriften oder Namensschildern ausgestattet.

In der christlichen Kunst sind die Darstellungen von Heiligen schon früh mit Attributen versehen worden, um sie identifizierbar zu machen. (Auch die vier lateinischen Kirchenväter gelten als Heilige.) Bei einem Attribut handelt es sich um einen Gegenstand (manchmal sind es auch mehrere), der eine wichtige Rolle im Leben des/der Heiligen gespielt hat und deswegen eindeutig zu ihm/ihr gehört. Oft handelt es sich um das Marterwerkzeug, mit dem der/die Heilige gefoltert bzw. ermordet wurde. Doch solche eindeutigen Attribute scheinen auf Morettos Gemälde zu fehlen. Alle vier halten ein Buch in ihren Händen, dadurch lassen sie sich also nicht bestimmen. Was dem Betrachter aber zur Hilfe kommt, sind die Kopfbedeckungen und Roben der Männer.

Von Gregor dem Großen wissen wir, dass er von 590 an bis zu seinem Tod 604 Papst gewesen ist. Entsprechend hat Moretto ihn mit einer weißen, von drei goldfarbenen, edelsteinverzierten Kronreifen umschlossenen Tiara abgebildet. Diese hohe, kegelförmige Krone trug der Papst früher bei feierlichen nichtliturgischen Anlässen. Seit 1315 war die Tiara mit drei Kronreifen geschmückt und am hinteren Ende mit zwei Bändern ausgestattet, und seit dem 16. Jahrhundert hatte sie auf der Spitze einen Knauf mit Kreuz. Sie symbolisierte die dreifache Gewalt des Papstes: „Vater der Fürsten und der Könige, Lenker des Erdkreises und Stellvertreter Christi auf Erden“. Zuletzt wurde Papst Paul VI. (1963–1978) damit gekrönt.

Bei dem links vorne sitzenden bartlosen Kirchenvater, der ein geöffnetes Buch in den behandschuhten Händen hält, haben wir also Gregor den Großen vor uns. Er trägt über Hemd und roter Soutane ein weißes, gefältetes Chorhemd, darüber einen Chormantel aus Goldbrokat. Die breiten Säume sind mit Vierpässen besetzt, in denen u.a. der Verkündigungsengel, einzelne Heilige und stilisierte Flammen zu erkennen sind.

Diese beiden Herren machen es uns relativ einfach

Der graubärtige Kirchenvater, der neben Gregor dem Großen sitzt und mit seiner Rechten auf das geöffnete Buch deutet, trägt einen flachen scharlachroten Hut mit breiter Krempe. Man nennt diesen Hut Galero, und er ist den vom Papst ernannten Kardinälen vorbehalten. Der Galero ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass wir hier den Kirchenvater Hieronymus sehen. Dank seiner umfassenden Bildung genoss Hieronymus das besondere Vertrauen von Papst Damasus I., in dessen Auftrag er ab 382 die lateinische Übersetzung der Bibel schuf, die Vulgata. Sie ist seine herausragende literarische Leistung; die Vulgata war über viele Jahrhunderte die maßgebliche Bibelübersetzung der katholischen Kirche. Wegen seiner Tätigkeit für den Papst wurde Hieronymus fast durchweg als Kardinal abgebildet, obwohl er diesen Rang tatsächlich nie bekleidete. Die scharlachrote Amtstracht kennzeichnet ihn oft selbst in jenen Darstellungen, auf denen er als Eremit in der Wüste gezeigt wird.

Hieronymus trägt über einem weißen Hemd und einer roten Soutane das wiederum weiße Chorhemd, darüber aber die scharlachrote Kardinalsrobe mit einer hermelingefütterten Cappa magna. Auch Hieronymus ist mit weißen Handschuhen versehen, aber im Gegensatz zu Gregor dem Großen sind keine Ringe an den Fingern zu erkennen.

Die beiden Kirchenväter, die Maria links und rechts wie Thronwächter flankieren, halten Krummstäbe in ihren Händen, die sie dem Betrachter wie Hellebarden präsentieren. Ihre Kopfbedeckungen, eine Mitra, weisen sie als Bischöfe aus – sie ist deren Insignie und Teil ihrer Amtstracht. Wie die Tiara ist die Mitra an ihrer besonderen Form erkennbar: einer jeweils spitz zulaufenden Stirn- und Nackenseite. Die Mitra der beiden Bischöfe auf Morettos Gemälde besteht aus weißem Stoff und ist mit goldfarbenen Borten sowie goldgefassten Edelsteinen verziert.

Wir wissen nun, dass sowohl Ambrosius wie auch Augustinus Bischöfe waren, der eine von Mailand, der andere vom afrikanischen Hippo. Aber wie nun die beiden zuverlässig unterscheiden? Beide sind in ihrer in Farbe und Muster übereinstimmenden Tracht als Bischöfe wiedergegeben: Über einem weißen Hemd tragen sie eine schwarze Soutane, ein weißes, gefältetes Chorhemd sowie einen vorn von einer Schließe zusammengehaltenen Chormantel aus bordeauxfarbenem Samt. Die breiten Säume des Chormantels sind mit goldgestickten Heiligenfiguren unter Baldachinen verziert; das Futter ist flaschengrün. Hellbraune, ebenfalls mit Edelsteinen besetzte Handschuhe und mehrere Ringe vervollständigen die Ausstattung. Spiegelbildlich halten sie in der einen Hand ein ledergebundenes, mit Schließen versehenes Buch, in der anderen ihren Bischofsstab mit silbernem Schaft und goldfarbener Krümme. Der Kirchenvater links trägt zusätzlich ein weißes, mit roten Kreuzen besticktes Pallium über seiner Albe.

Je älter, desto grauer

Und nun? Hier kommen wir tatsächlich ohne weitere Vorkenntnisse nicht weiter. Wer weiß, dass Ambrosius der ältere von beiden ist, dem hilft Moretto weiter, denn der Künstler hat Ambrosius graubärtig, Augustinus hingegen mit einem braunen Vollbart ausgestattet. Aber um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, hat Moretto Ambrosius doch noch ein leicht zu übersehendes persönliches Attribut in die rechte Hand gedrückt: eine Geißel. Sie steht für seinen energischen Kampf gegen die Lehre der Arianer. Damit wären alle vier Kirchenväter auf dem Frankfurter Bild eindeutig identifiziert.

 

Glossar

Der Arianismus war eine frühe christliche Lehre aus dem 4. Jahrhundert, benannt nach dem Priester Arius. Nach arianischer Lehre ist Jesus Christus nicht wesensgleich mit Gott, aber dessen erstes und edelstes Geschöpf und ihm am ähnlichsten.

Die Albe ist ein aus der antiken Tunika hervorgegangenes, knöchellanges Gewand aus weißem oder heute auch naturfarbenem Leinen. Traditionell wird es von katholischen Priestern als liturgisches Untergewand unter dem Messgewand getragen.

Mit dem Begriff Chorhemd ist ein weißes Leinengewand mit weiten Ärmeln gemeint. Es wird in der nicht-eucharistischen Liturgie der römisch-katholischen und der anglikanischen Kirche vom Priester über der Soutane, in der Heiligen Messe von den Ministranten, Kommunionhelfern über dem Talar getragen.

Bei einem Chormantel handelt sich um einen halbkreisförmigen, ärmellosen Mantel oder mantelähnlichen Umhang mit einem einfachen Verschluss über der Brust.

Als Cappa magna bezeichnet man den Umhang von katholischen Kardinälen und Bischöfen mit rückwärtiger großer Schleppe. Der Kragen aus Hermelinfell, der in den Wintermonaten zur Cappa magna getragen werden konnte, ist seit 1984 verboten.

Das Pallium ist ein ringförmiges, etwa 5 bis 15 cm breites Band, eine Art Stola, das über dem Messgewand getragen wird.

Die Soutane ist ein mit engen Ärmeln versehenes knöchellanges und tailliertes Obergewand, das von katholischen, koptischen oder anglikanischen Geistlichen getragen wird. In den meisten Fällen ist sie aus schwarzem Stoff, in den wärmeren Ländern kommt auch weißer Stoff zum Einsatz.

Ein Talar ist ein weitärmeliges, knöchellanges Obergewand, das von Professoren, Absolventen, Geistlichen und Juristen getragen wird.

 

Literaturhinweis

Sander, Jochen: Italienische Gemälde im Städel 1300–1550. Oberitalien, die Marken und Rom. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2004, S. 352-361.


Montag, 17. Februar 2025

Ruhm und Rätsel – der Torso vom Belvedere


Torso vom Belvedere; Rom, Vatikan
Unter dem klangvollen Namen Torso vom Belvedere kennt die Welt den Marmorrumpf eines muskulösen nackten Mannes, der auf einem schmalen Felsbrocken sitzt. Kopf, Arme und beide Unterschenkel fehlen; darüber hinaus ist an der Brust eine Partie weggebrochen; die Marmoroberfläche ist „zum Teil abgewittert oder verrieben“ (Wünsche 1993, S. 7). Keinem anderen Fragment antiker Skulptur sind über Jahrhunderte hinweg so viele Lobeshymnen gewidmet worden wie diesem Torso, kaum ein anderes antikes Fundstück hat solche Bedeutung für die abendländische Kunstgeschichte: Von Michelangelo bis Rodin haben sich viele der größten Künstler mit dem Torso beschäftigt und von ihm anregen lassen.
Michelangelo: einer der zwanzig Ignudi an der Decke der Sixtina
So sind z. B. die Ignudi Michelangelos an der Sixtinischen Decke – insgesamt 20 nackte, muskulöse junge Männer – nicht ohne den Torso vom Belvedere denkbar: Sie sitzen nämlich ebenso frei und ohne wirkliches Abstützen der Beine, wie das auch am Torso der Fall zu sein scheint. Die Kraft ihres Körpers konzentriert sich im Rumpf, der dessen ausfahrende Bewegungen mühelos hält (siehe meinen Post Michelangelo feiert das schöne Geschlecht“). Das dominierende Bewegungsmotiv des Torso, die starke Drehung und Neigung des Oberkörpers im Sitzen, „wird von Michelangelo bei den Ignudi nicht nur in allen Möglichkeiten variiert, sondern die Bewegtheit von Körper und Gliedern ungemein gesteigert“ (Wünsche 1998, S. 31).
Der Torso gelangte zwischen 1533 und 1536 in den Statuenhof des vatikanischen Belvedere. Papst Clemens VII. (1523–1534) ließ auf Anregung Michelangelos durch dessen Schüler Giovanni Antonio Montorsoli einen Teil der dortigen Skulpturen restaurieren. Montorsoli arbeitete am Laokoon, am berühmten Apoll (siehe meinen Post „Der Apoll vom Belvedere“) und an dem Herakles mit dem Knaben. Am Torso hingegen, daran besteht kein Zweifel, ist nie ein Ergänzungsversuch unternommen worden, seit er aufgefunden wurde. Selbst Michelangelo soll sich, so teilen spätere Quellen mit, nicht zugetraut haben, ihn zu vervollständigen. Und da sogar der „Divino“ zauderte, wagte es auch nach ihm keiner mehr. Es ist vor allem diese enge, legendenumwobene Verbindung des Torso mit Michelangelo, die dem antiken Werk seinen fast fünf Jahrhunderte andauernden Ruhm bescherte.  
Hendrick Goltzius: Torso vom Belvedere (vor 1591); Kreidezeichnung
Peter Paul Rubens: Torso vom Belvedere (um 1601); Kreidezeichnung
Immer wieder wurde der Torso von Künstlern gezeichnet. Im 16. und 17. Jahrhundert entstanden die meisten Zeichnungen noch vor dem Original; im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert waren Abgüsse schon so weit verbreitet, dass man die Figur fast überall studieren konnte – die Beschäftigung mit dem Torso gehörte von nun an zum Pflichtprogramm der Akademiestudenten. Als die Figur 1798 von Napoleon im Triumphzug nach Paris gebracht wurde und im Musée Napoleon einen Höhepunkt der Skulpturensammlung bildete, vergrößerte sich ihr Ruhm noch weiter. 1815 kehrte der Torso dann wieder zurück nach Rom.
William Turner: Torso vom Belvedere (um 1789/1793); Kreidezeichnung
Im Hof des Belvedere stand der Torso in der Mitte. Alle anderen, ringsum aufgestellten Antiken blickten sozusagen auf ihn. „Sein trümmerhafter Zustand, seine stark angegriffene Oberfläche, die zahlreichen Bruchflächen, in denen rostende Dübel steckten, setzten ihn deutlich von den übrigen, sorgfältig ergänzten und auch an der Oberfläche meist besser erhaltenen Skulpturen ab“ (Wünsche 1993, S. 20). Es lag nahe, daß der Torso damit auch zum Symbol der Vergänglichkeit wurde. Im 19. Jahrhundert schließlich wandelte sich die Einstellung gegenüber fragmentarischen Skulpturen – man akzeptierte sie immer mehr. Das Unvollständige, Verwitterte wurde nicht mehr beklagt, sondern als besondere Qualität empfunden. Das gilt auch für den Torso: Kein Künstler wollte mehr daran rühren und ihn ergänzen.
Wen aber stellte der Torso ursprünglich dar? Jahrhundertelang wurde er als Herakles gedeutet – was wegen des Löwenfells, auf dem der antike Heros sitzt, durchaus naheliegt, denn es handelt sich um eines seiner wichtigsten Attribute. Doch 1887 erkannte der Anatom Carl Hasse, dass es sich bei diesem Fell keinesfalls um das eines Löwen handeln könne: Der Kopf sei zu klein, es fehlten der Ansatz der Mähne und die Quaste am Schwanz. Wahrscheinlich ist ein Pantherfell gemeint, das als Attribut allerdings nicht so personenspezifisch ist wie die Löwenhaut. Oft weist es einfach nur darauf hin, dass sein Träger von wildem Charakter ist oder in freier Natur lebt.
Reinhard Wünsche hat mit überzeugenden Argumenten dafür plädiert, den Belvedere-Torso, der ja offensichtlich einen reifen kräftigen Mann zeigt, als „sinnenden Aias vor dem Selbstmord“ zu deuten. Das Thema war in der antiken Literatur sehr beliebt und ist von Aischylos, Sophokles und vielen anderen Dichtern immer wieder neu gestaltet worden. Der Kern der Erzählung: Aias, der größte griechische Held nach Achill, hat den Leichnam des Achill aus der Schlacht geborgen. Durch List und geschickte Rede vermag aber Odysseus die Ratsversammlung der Griechen zu überzeugen, dass ihm und nicht Aias die Waffen des Helden zugesprochen werden. Aias gerät deswegen in Raserei und metzelt im Glauben, es seien Odysseus und die anderen griechischen Heerführer, eine Herde von Rindern und Schafen nieder. Als Aias aus dem Wahnsinn erwacht, verfällt er in tiefe Scham und Trauer und stürzt sich in sein eigenes Schwert.
So könnte der Torso vom Belvedere ausgesehen haben: Sinnender Aias (augusteisch);
Bronze, Sammlung G. Ortiz
Wünsche präsentiert einen Rekonstruktionsversuch, bei dem der Ellenbogen des rechten Armes auf dem rechten Oberschenkel aufliegt; die rechte Hand wird an das Kinn geführt und hält ein nach unten weisendes Schwert am Griff; in der Linken hält der Heros parallel zum linken Oberschenkel eine Schwertscheide. Die von Wünsche vorgeschlagenen Ergänzungen erklären tatsächlich schlüssig alle fünf antiken Bruchflächen bzw. Stückungslöcher. „Das Sitzen mit den gespreizten Beinen zeigt die Ermattung an; der rechte Arm und Kopf sind in der typischen Haltung des Sinnens gegeben und dieses Bewegungsmotiv kann auch die Scham des Aias über seine Tat ausdrücken, während die Momentanität der Oberkörperdrehung und des zurückgeführten linken Arms auf das vorherige Rasen, wie auch auf die kommende Tat hinweisen“ (Wünsche 1993, S. 37). Die stark angespannte Muskulatur wiederum, die mit dem ermatteten Sitzen und Sinnen kontrastiert, zeigt die innere Erregung des Aias an. Auf den Wahn des Helden verweist auch das Pantherfell, auf dem er sitzt. Den Kopf des Raubtieres hat der Bildhauer auf dem linken Oberschenkel des Aias aufliegen lassen, damit auch in der Hauptansicht das Pantherfell sichtbar und die Aussage klar wird: Wie ein Raubtier ist Aias in die Herde gefahren. Denn Wünsche geht davon aus, dass zwischen und unter seinen Beinen nachgebildete tote Tiere lagen, die von seiner vorausgegangenen Raserei zeugen.
Um die etwa 2,70 große Figur darzustellen, benötigte der antike Bildhauer einen etwa sieben Tonnen schweren Marmorblock, aus dem er die Gestalt – abgesehen vom Schwertblatt – in einem Stück fertigte: eine bravouröse Leistung, die er zu Recht mit seinem Namen signierte, nämlich „Apollonios“. Wünsche datiert die Skulptur in die Zeit des Hochhellenismus, also zwischen 250-150 v.Chr.
Michelangelo: Grabmal des Giuliano de’ Medici; Florenz, San Lorenzo
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Michelangelo hat das Torso-Motiv in den beiden Sitzfiguren am Grabmal des Lorenzo und des Giuliano de’ Medici (Florenz) verwendet. Für die Darstellung der Vita contemplativa und der Vita activa, die man in den beiden Skulpturen sehen kann, war der Torso in gleicher Weise geeignet, denn er vereinigt beides: Lorenzo als der Sinnende, Giuliano als der erregte Kriegsherr.
Michelangelo: Grabmal des Lorenzo de’ Medici; Florenz, San Lorenzo
John Quincy Adams Ward: The Freedman (1863); New York, MoMa
Der amerikanische Bildhauer John Quincy Adams Ward (1830–1910) schuf 1863 mit The Freedman eine naturalistische Bronzeskulptur, die unverkennbar auf den Torso vom Belvedere zurückgreift. Die zerbrochenen Fesseln am linken Handgelenk und in der rechten Hand des Schwarzen geben das Thema der Figur – die Sklavenbefreiung – unmissverständlich zu erkennen.
Auguste Rodins berühmter Denker (zwischen 1880 und 1882 entstanden) schließlich bildet für das 19. Jahrhundert den Abschluss der Torso-Rezeption. Rodin (1840–1917) wählte den Denker als sein Grabmal. Diese Skulptur repräsentiert wie keine andere seiner Arbeiten Rodins Anspruch, in der Tradition der Antike und der Kunst Michelangelos zu stehen. Denn die Statue des Denkers ist ohne das Vorbild des Torso nicht denkbar. „Diese letzte Formulierung des Torso-Motivs kommt der inhaltlichen Aussage der Figur und ihrer ursprünglichen Funktion am nächsten. Auch der sinnende Aias muß einest eine Grabstatue gewesen sein – geweiht in das Grabheiligtum dieses Helden in der Ebene von Troja“ (Wünsche 1993, S. 38). Denn der Aias des Apollonios ist eine römische Kopie nach diesem verlorenen griechischen Vorbild.
Rodins Grabmal
Literaturhinweise
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001, S. 167;
Mai, Ekkehard/Wettengl, Kurt (Hrsg.): Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. Edition Minerva, Wolfratshausen 2002, S. 411-415;
Wünsche, Reinhard: Der Torso vom Belvedere – Denkmal des sinnenden Aias. In: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst XLIV (1993), S. 7-46;
Wünsche, Raimund (Hrsg): Der Torso. Ruhm und Rätsel. Glyptothek München, München 1998.

(zuletzt bearbeitet am 23. Februar 2025)

Donnerstag, 6. Februar 2025

Der Schmerz einer Mutter – Vesperbilder des Spätmittelalters

Pietà Roettgen (um 1350/60); Bonn, LVR LandesMuseum
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Das sogenannte Vesperbild, auch Pietà genannt (von lat. pietas, Erbarmen), gehört zu den um 1300 neu entstehenden selbständigen Andachtsbildern. Dargestellt ist eine Zweiergruppe, bei der die Mutter Jesu den liegenden oder halb aufgerichteten Körper ihres am Kreuz gestorbenen Sohnes auf dem Schoß hält. Die deutsche Bezeichnung für diesen Bildtyp ist abgeleitet von der Einteilung des Tages in Stundengebete, die den Ablauf der Passion nachvollzog. Danach fielen Kreuzabnahme und Beweinung in die Vesperstunde, nachmittags zwischen fünf und sieben Uhr.

Ihren Ursprung hat die Pietà nicht in liturgischen Zusammenhängen, sie geht vielmehr zurück auf die in der spätmittelalterlichen Mystik geübte compassio, dem Mitleiden als Ausdruck innigen Mitgefühls am Passionsgeschehen. Dabei vermischen sich die Anteilnahme am Leiden Jesu und am Schmerz seiner Mutter mit dem Schuldbewusstsein des Betrachters, der in der eigenen Sündhaftigkeit wie der aller Menschen die Ursache für die Passion Jesu erkennt – und schließlich mit der Freude über das durch den Kreuzestod vollbrachte Erlösungswerk. Es sind vor allem die Texte eines Meister Eckhart (um 1260–1328) und Heinrich Seuse (1295–1366), die dem Vesperbild den Boden bereitet haben. Neben den für die persönliche Andacht bestimmten Vesperbildern haben sich aber auch frühe, überlebensgroße Pietà-Darstellungen erhalten, die als Reliquiendepositorien dienten und wahrscheinlich auf einem Altar standen. Außerdem ist bei manchen Vesperbildern Christus abnehmbar – ein Hinweis darauf, dass solche Zweiergruppen in liturgischen Spielhandlungen benutzt wurden.

Im Gegensatz zur Kreuzabnahme wird eine Beweinung Christi in den Evangelien nicht erwähnt; sie hat sich im Spätmittelalter als eigenständiges Bildthema entwickelt, an dem mehrere Figuren beteiligt sind. Die Pietà-Darstellung reduziert dieses Motiv wiederum auf die Trauer der Mutter um ihren Sohn und schafft dabei ein archetypisches Bild menschlichen Leidens. Dabei wird vor allem der Leichnam Christi mit schonungslosem Realismus dargestellt, der die Zeichen seines Todes und der ihm vorangegangenen Peinigungen bar jeglicher Idealisierung präsentiert.

Der Körper Jesu ist meist ausgezehrt, vom Haupt mit der Dornenkrone und aus der klaffenden Seitenwunde sowie den aufgerissenen Nägelmalen an Händen und Füßen tropft und rieselt das Blut bis zu traubenartiger Verdickung (ein Verweis auf den Wein im Sakrament der Eucharistie). Es sind diese sichtbaren Zeichen der Passion und der Schmerz Mariens, die die emotionale Beteiligung des Betrachters herausfordern. Die oft drastische Ausgestaltung des Leichnams auf den spätmittelalterlichen Vesperbildern wie auch deren große Verbreitung und Beliebtheit kann sozialgeschichtlich auch mit den seit Mitte des 14. Jahrhunderts überall in Europa wütenden Pestwellen in Verbindung gebracht werden. Angesichts der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Seuche und die von ihr verursachte hohe Sterblichkeit boten Pietà-Darstellungen in besonderem Maß die Möglichkeit zur Identifizierung.

Eines der eindrücklichsten, expressivsten Vesperbilder ist die sog. Pietà Roettgen (um 1360; Bonn, LVR LandesMuseum): Auf einem thronartigen Sitz hält Maria den ausgemergelten Leib ihres toten Sohnes, der noch die Dornenkrone trägt. Mit schmerzvollem Gesichtsausdruck beugt sie ihren leicht nach links geneigten Kopf in inniger Trauer über den treppenartig gestuften Leichnam, dessen Haupt nach hinten zurückgesunken ist. Die Proportionen der beiden Figuren sind verzerrt, die Köpfe zu groß, die Körper zu klein. Die fünf Wunden Christi, aus denen das Blut traubenförmig hervorquillt, werden dem Betrachter zur Verehrung dargeboten, entsprechend einer damaligen frommen Praxis, den „Fünf-Wunden-Gebeten“. Die Form des Vesperbildes, die die Pietà Röttgen zeigt, wird manchmal auch abgewandelt: Zeitweilig ist Christus in Leichenstarre diagonal gestreckt oder in die Horizontale gekippt. Bei dem Pietà corpusculum genannten Typus erscheint Christus kindhaft klein. Dieser Typus wird als Verbildlichung einer Rückschau Mariens von Golgatha nach Bethlehem wie auch als Vorausschau von Bethlehem nach Golgatha gedeutet.

Pietà aus Unna (um 1360); Münster, LWL-Museum
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Ein weiteres Hauptwerk unter den deutschen Vesperbildern ist die Pietà aus Unna (um 1380), die heute im LWL-Museum in Münster aufbewahrt wird. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gruppen ist sie nicht ortlos, sondern verweist darauf, dass die Beweinung Christi auf der „Schädelstätte“, d. h. Golgatha stattfindet. Offenbar wird hier der Moment unmittelbar nach der Kreuzabnahme gezeigt. Maria thront auch nicht, sondern kniet mit einem Bein inmitten von menschlichen Knochen nieder und umarmt innig den von der Totenstarre versteiften Leichnam ihres Kindes. „Die Drapierung des Mantels und seiner Säume paraphrasiert den Gedanken der Umarmung“ (Suckale 2009, S. 73). Dass Maria mit ihrem linken Fuß auf einen Schädel tritt, versinnbildlicht den Triumph Christi über den Tod durch sein das Erlösungsopfer.

Das Kopftuch Mariens ist um das von der Dornenkrone verunstaltete Haupt Jesu herumgezogen und verbindet Mutter und den deutlich kleineren Sohn. Deutlich kontrastieren das von ihrem Schmerz gezeichnete, jugendlich-schöne Gesicht Mariens, ihr weich fließendes, die beiden Figuren umhüllendes Gewand und der knochig-dürre, erstarrte Körper ihres Sohnes mit seinen wirklichkeitsnah wiedergegebenen Wundmalen. Dass Ort und Zeitpunkt des Geschehens in die Darstellung einbezogen sind sowie die Wahl eines fast lebensgroßen Formats, zielt darauf ab, dass sich der Betrachter im Geist an die Stätte der Passion Christi versetzen soll, um mit Maria seinen Tod zu beklagen und ihre Schmerzen mitzuerleiden. Als ehemaliger Aufstellungsort der Gruppe ist eine Ecke oder Nische wahrscheinlich. Dabei boten sich den Gläubigen mehrere Ansichten, die einmal den Hinweis auf die Qualen Christi, einmal auf die zärtliche Verbindung von Mutter und Sohn in den Vordergrund rückten.

Pietà (um 1390); Frankfurt, Liebieghaus
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Die Pietà des Liebieghauses in Frankfurt a.M. (um 1390) verbindet Elemente der Pietà Roettgen mit solchen der Skulptur aus Unna: Sie übernimmt von der Unnaer Gruppe die Darstellung des Ortes Golgatha mit seinen Totenschädeln, jedoch nicht den Sockel. Die unteren Partien des Marien-Mantels sind aus weich geschwungenen Schlaufenfalten zusammengesetzt. Der Bildschnitzer hat den Mantel schirmartig über den Kopf nach vorne gezogen, um so den Kopf Mariens zu verschatten. Der Leib Christi ist – gerade im Kontrast zum Körper seiner Mutter – deutlich ausgemergelt; der Unterbauch bildet eine tiefe Mulde. Die dürren, überlängten Arme hängen steif herab, aber der Leib Christi ist nicht gänzlich totenstarr. Er folgt in seiner Expressivität wie auch in der Formung des Gesichts der Pietà Roettgen. Er liegt allerdings nicht wie bei der Pietà Roettgen zweifach gebrochen quer zum Betrachter, sondern wird von Maria vorsichtig zum Betrachter hin gedreht, sodass alle Wundmale gut zu sehen sind. „Nicht die letzte leidenschaftliche Umarmung des zu Tode gemarterten Sohnes durch die Mutter ist das Thema, sondern die Präsentation des Elends zur Anteilnahme der Gläubigen und die stille Trauer der Mutter“ (Suckale 2009, S. 77). Das Zeigen des Christuskörpers erinnert außerdem an das Vorweisen der Hostie in der katholischen Messe durch den Priester. „Das verbildlicht die Vorstellung, der Leib Christi sei mit der Hostie identisch“ (Roller 2008, S. 76).

Das herabgesunkene Haupt Christi ist zugleich eine Abwendung von seiner Mutter und ein Bild der Trennung durch den Tod. Die Bluttrauben der Pietà Roettgen sind zu – immer noch plastischen – Gerinnseln geworden. Die Schmerzen haben tiefe Furchen in das Antlitz Marias und Jesu gegraben, aber Maria ist keineswegs eine verweinte alte Frau wie bei der Bonner Figur. Die Gestik ist dieselbe: Mit der rechten Hand hält sie ihren Sohn unter dessen rechtem Arm, die Linke hat sie über seinen Schoß gelegt – auf ihr ruht sein linker Arm. Mit der linken Hand hält sie außerdem ein Stück des Lendentuches. Das Holz der Statue ist stark beschädigt durch Trockenfäule und Anobienbefall, was bei Christus zum Verlust von Fingern und Zehen geführt hat.

Michelangelo: Pietà (1499/1500); Rom, St. Peter

Das sonst überwiegend in Mitteleuropa verbreitete Vesperbild findet in der Spätgotik durch importierte Exemplare auch Eingang in Italien. Die berühmteste italienische Pietà ist zweifelsohne die Marmor-Skulpturengruppe von Michelangelo im Petersdom (1499/1500; siehe meinen Post „Tief schlafend oder tot?“). Der Renaissance-Künstler verzichtet allerdings auf jegliche Drastik – trotz aller erlittenen Qualen haben die wohlproportionierten Glieder des Gottessohns nichts von ihrer Anmut eingebüßt; seine Wundmale sind nur sehr verhalten dargestellt, Spuren der Geißelung oder von der Dornenkrone fehlen völlig. Der Leib Christi scheint darüber hinaus eher ein tief schlafender als ein toter Körper zu sein. Michelangelo hat zwar das transalpine Sujet übernommen, es aber in eine völlig andere Form übersetzt, und zwar in eine ideale, an der Antike orientierte Ästhetik, die das Publikum weniger durch veristische Darstellung leiblichen und seelischen Schmerzes als vielmehr durch künstlerisch gestaltete Schönheit rühren sollte.

Käthe Kollwitz: Pietà (1938); Köln, Käthe Kollwitz Museum

Im 20. Jahrhundert griff Käthe Kollwitz (1867–1945) das Thema in einer Bronzegruppe auf (1938), die ihrem im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn gewidmet ist (siehe meinen Post Alt, einsam und dunkel nachsinnend). Eine vierfach vergrößerte Fassung dieser Skulptur steht seit 1993 in der damals neu eingerichteten zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in der Berliner Neuen Wache.

 

Literaturhinweise

Geese, Uwe: Mittelalterliche Skulptur in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Petersberg 2007;

Klotz, Heinrich: Geschichte der deutschen Kunst. Erster Band: Mittelalter 600 – 1400. Verlag C.H. Beck, München 1998, S. 330-333;

Kvapilová, Ludmila: Vesperbilder in Bayern von 1380 bis 1430 zwischen Import und heimischer Produktion. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017;

Poeschel, Sabine: Handbuch der Ikonographie. Darmstadt 22007;

Roller, Stefan: Vesperbild. In: Meisterwerke im Liebieghaus. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2008, S. 76;

Schneider, Norbert: Geschichte der mittelalterlichen Plastik. Von der frühchristlichen Antike bis zur Spätgotik. Köln 2004;

Suckale, Robert (Hrsg.): Schöne Madonnen am Rhein. E.A. Seemann Verlag, Leipzig 2009, S. 70-77, 189-190 und 194-195.