Michelangelo: Ignudo (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Michelangelos Ignudi, zwanzig nackte Jünglinge an der Decke der Sixtinischen
Kapelle, stellen die Kunsthistoriker bis heute vor erhebliche Probleme, denn
sie lassen sich beim besten Willen keiner biblischen Erzählung zuordnen. Die Ignudi sind oberhalb des durchgehenden (gemalten)
Gewölbe-Gesimses angebracht. Es trennt die sieben alttestamentlichen Propheten
und die fünf antiken Seherinnen (Sibyllen) von den Genesis-Szenen. Paarweise
sitzen die Ignudi einander auf
Postamenten gegenüber und sind damit beschäftigt, mächtige Eichengirlanden und
große bronzefarbene Medaillons zwischen ihren Beinen an Bändern zu halten. In
einem Gewölbefeld mit einem Ignudi-Paar
bleibt deshalb nur Platz für ein Genesis-Bild in kleinem Format.
Die mächtigen Pflanzengirlanden, mit denen
die Ignudi hantieren, sind in etwa
der Hälfte der Fälle mit deutlich dargestellten Eicheln versehen. Die Eiche,
italienisch „rovere“, bezieht sich natürlich unübersehbar auf Michelangelos
Auftraggeber Papst Julius II. bzw. Giuliano della Rovere. „Der Name eignete
sich gut zur heraldischen Verwendung, denn das Wappen der Familie – wie auch
des Papstes – zeigt eine stark stilisierte Eiche mit übergroßen Eicheln“
(Herzner 2015, S. 250/251).
Michelangelo: Ignudo (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Die Postamente, auf denen die Ignudi sitzen, haben nicht ganz die Höhe
einer üblichen Sitzfläche. Das niedrige Postament macht entspanntes Sitzen von
vornherein unmöglich; der Körper versucht, den Nachteil der Unterlage
wettzumachen: Entweder werden die Beine angewinkelt oder hochgezogen, häufig
auf kissenartigen Auflagen, sodass die unterschiedlichsten Sitz- und
Stützhaltungen entstehen. Bei den Postamenten der Ignudi handelt es sich nicht um eine originäre Erfindung
Michelangelos. Vielmehr diente ihm ein Tondo im Hof des Palazzo Medici als
Vorbild: Er zeigt den Raub des trojanischen Palladiums durch Diomedes und geht
auf eine antike Gemme zurück, die sich damals im Besitz von Lorenzo de’ Medici
befand.
Diomedes-Tondo im Innenhof des Palazzo Medici, Florenz |
Torso vom Belvedere; Rom, Vatikanische Museen |
Die Positionen der Ignudi sind in ihrem Bewegungsreichtum aber nur zum geringen Teil dem
Vorbild antiker Gemmen entlehnt. Bei den meisten handelt es sich um Abwandlungen
des Torso vom Belvedere (siehe meinen
Post „Ruhm und Rätsel“). Die Ignudi
ähneln dem Torso vom Belvedere nicht
allein durch ihren muskulösen Körper. „Dessen dominierendes Bewegungsmotiv, die
starke Drehung und Neigung des Oberkörpers im Sitzen, wird von Michelangelo bei
den Ignudi nicht nur in allen
Möglichkeiten variiert, sondern die Bewegtheit von Körper und Gliedern wird
ungemein gesteigert. (...) Durch ihre lebhaften Bewegungen der Glieder, die um
ihre Körpermitte wie um ein Kraftzentrum kreisen, wirken die Ignudi, ganz im Gegensatz zum Torso, fast
schwerelos sitzend, was den Figuren bei aller dargestellten Kraft den Ausdruck
größter Selbständigkeit verleiht“ (Wünsche 1998, S. 31). Michelangelo muss den Torso vom Belvedere sehr bewundert haben – jedenfall nutzte er ihn, „um das
unvergleichliche Pathos männlicher Kraft und Schönheit einer antiken Skulptur
in den Dienst seines eigenen Hymnus auf männliche Jugendschönheit zu stellen“
(Herzner 2015, S. 268). Die Ignudi sind
nur sie selbst, sie haben keine vorgegebenen Bedeutungen; ebenso reagieren
sie nicht erkennbar auf die an der Decke abgebildeten Ereignisse – sie scheinen
einzig ihre jugendlich-männliche Schönheit zur Schau zu stellen.
Michelangelo: Ignudo (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Michelangelos Interesse an männlicher
Schönheit war schon den Zeitgenossen bekannt – und ist auch heute unübersehbar,
wenn man sich seine Kunstwerke vor Augen führt. Der Renaissance-Meister hat
sich in seiner Kunst, in der Skulptur wie in der Malerei, für nichts außer dem
Menschen interessiert, genauer: für den männlichen Menschen. Wenn Michelangelo
weibliche Figuren darzustellen hatte, verwendete er männliche Modelle. Und der
männliche Mensch interessierte ihn vor allem als nackter Mensch. „Die männliche
Aktfigur war der eigentliche Gegenstand von Michelangelos Kunst“ (Herzner 2015,
S. 265).
Michelangelo: Die Erschaffung Adams (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Für Michelangelo ist der Mann das
„schöne Geschlecht“ – am deutlichsten manifestiert sich das in seinem berühmten
Adam (siehe meinen Post „Der beseelte Mensch“), der von Gott in vollendeter Gestalt geschaffen wird. Die
Darstellungen der Eva in der Sixtinischen Kapelle können in dieser Beziehung
nicht mithalten. Durch die Ignudi
wird diese männliche Vorrangstellung nachdrücklich betont, denn die körperliche
Verwandtschaft mit dem Adam der Erschaffung
ist nicht zu übersehen.
Michelangelo: Ignudo (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle |
Polyklet: Doryphoros (um 440 v.Chr.), röm. Marmorkopie; Neapel, Nationalmuseum |
Man hat die Michelangelos Vorliebe für den männlichen Akt mit einer
homoerotischen Neigung des Künstlers in Verbindung gebracht – es gibt
allerdings keine Belege dafür, dass er diese Neigung ausgelebt hätte. In
Michelangelos Präferenz spiegelt sich aber auch die behauptete Höherwertigkeit
des Mannes gegenüber der Frau, die in der biblischen Schöpfungsgeschichte
ebenso ihren Niederschlag gefunden hat wie in der griechischen Philosophie. Bei
Aristoteles etwa verkörpert der Mann das aktive, formende Prinzip, das immer
darauf ziele, einen männlichen Menschen hervorzubringen. Dabei könnten aber
auch weibliche Menschen entstehen, die als „mas occasionatus“, als „unvollkommener
Mann“ bezeichnet werden. Ebenso galt die antike Statue des Doryphoros, geschaffen
von Polyklet, dem berühmtesten griechischen Bildhauer, zu ihrer Zeit als das
Maß menschlicher Schönheit in der Kunst (siehe meinen Post „Polyklets Musterknabe“).
Literaturhinweise
Dunkelmann, Martha: From Microcosm to Macrocosm: Michelangelo and Ancient Gems. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 73 (2010), S. 363-376;
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015;
Himmelmann, Nikolaus: Ideale Nacktheit. Westdeutscher Verlag, Opladen 1985, S. 25-41;
Joost-Gaugier, Christiane L.: Michelangelo’s Ignudi, and the Sistine Chapel as a Symbol of Law and Justice. In: artibus et historiae 34 (1996), S. 19-43;
Wester, Ursula/Simon, Erika: Die Reliefmedaillons im Hofe des Palazzo Medici zu Florenz. In: Jahrbuch der Berliner Museen 7 (1965) S. 15-91;
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015;
Himmelmann, Nikolaus: Ideale Nacktheit. Westdeutscher Verlag, Opladen 1985, S. 25-41;
Joost-Gaugier, Christiane L.: Michelangelo’s Ignudi, and the Sistine Chapel as a Symbol of Law and Justice. In: artibus et historiae 34 (1996), S. 19-43;
Wester, Ursula/Simon, Erika: Die Reliefmedaillons im Hofe des Palazzo Medici zu Florenz. In: Jahrbuch der Berliner Museen 7 (1965) S. 15-91;
Wünsche, Raimund (Hrsg): Der Torso. Ruhm und
Rätsel. Glyptothek München, München 1998.
(zuletzt bearbeitet am 14. Juli 2020)
(zuletzt bearbeitet am 14. Juli 2020)
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