Montag, 27. Mai 2024

Il Gigante – Michelangelos „David“

Michelangelo: David (1502-1504); Florenz, Galleria
dell Accademia (für die Großansicht einfach anklicken)

Der Marmor, aus dem Michelangelo (1475–1564) seinen berühmten David schuf, stammt aus einem Steinbruch nordöstlich der italienischen Stadt Carrara. Hier brachen Arbeiter den über fünf Meter langen Block 1464 aus dem Felsen – zu diesem Zeitpunkt war der Künstler selbst noch gar nicht geboren. Den Auftrag dazu hatte der Bildhauer Agostino di Duccio (1418–1481) erteilt, der daraus die überlebensgroße Figur eines Propheten für den Dom von Florenz hauen wollte. Bestimmt war die Skulptur als Bekrönung für einen der Strebepfeiler der östlichen Absidenaußenseiten, aufgestellt in einer Reihe mit anderen Prophetenstatuen. Zwei Jahre darauf gab di Duccio das Projekt auf. 1476 unternahm ein anderer Bildhauer, Antonio Rossellini (1427–1479), einen weiteren Versuch, den riesigen Stein zu bearbeiten. Auch er scheiterte nach einigen Monaten.

Es folgten unruhige Zeiten in Florenz. Nach dem Tod des mächtigen Lorenzo de‘ Medici (1449–1492) rangen sein unfähiger Sohn und Nachfolger Piero (1472–1503), die bürgerliche Oberschicht der Stadt und die Anhänger des religiösen Fanatikers Savonarola (1452–1498) um die Macht. Schließlich erlangten die Bürger die Oberhand, und am 4. August 1501 wurde in Florenz die Republik ausgerufen. Nur zwölf Tage später beauftragte die Stadt den gerade einmal 26 Jahre alten Künstler Michelangelo, eine Statue zu fertigen. Ein David sollte es sein, jener Hirtenjunge, der laut biblischer Erzählung (1. Samuel 17) mit seiner Steinschleuder den Riesen Goliath besiegt hatte und anschließend König wurde.

Michelangelo erinnerte sich des Marmorblocks, der in der Stadt herumlag, seit er denken konnte. Im Dombauhof von Santa Maria del Fiore errichtete der junge Bildhauer rings um den Block herum einen Verschlag aus Brettern und bearbeitete den Riesenstein drei Jahre lang. Da niemand zusehen durfte, sind bis heute einige Details der Herstellung geheimnisumwoben. Die schlanken Beine des Helden können zum Beispiel den tonnenschweren Torso theoretisch kaum tragen. Als Stütze dient dem David lediglich ein kleiner Baumstumpf hinter dem rechten Fuß. Wie diese fragile Konstruktion der Belastung bei der Bearbeitung des Steins standhielt, ist kaum nachvollziehbar. Bereits nach fünf Monaten hatte Michelangelo den Block so weit bearbeitet, dass die Auftraggeber seinen Lohn von sechs Golddukaten im Monat (vertraglich vorgesehen war ein Zeitrahmen von zwei Jahren) auf 400 Golddukaten heraufsetzte.

Donatello: Judith und Holofernes (um 1453-1457); Florenz, Palazzo
Vecchio (für die Großansicht einfach anklicken)

Als die Auftraggeber erkannten, dass Michelangelo die Tücken des Blockes meistern würde, schlug sie einen neuen Standort für die Statue zu ebener Erde vor. Das technische Problem, eine fünfeinhalb Tonnen schwere Figur auf eine Höhe von 25 Metern zu heben, hat sicherlich zu dieser Entscheidung beigetragen. Aber es dürfte auch der Wunsch gewesen sein, die erstaunliche Anatomie des David so nah wie möglich an die Betrachtenden heranzurücken. Am 25. Januar 1504 wurde eine aus 30 Mitgliedern bestehende Kommission eingesetzt, die über die endgültige Aufstellung des David befinden sollte, unter ihnen sowohl berühmte Künstler wie Sandro Botticelli und Leonardo da Vinci als auch Sprecher der Ratsversammlung. Man entschied sich für die Aufstellung auf der Piazza della Signoria, neben dem Eingang des Rathauses der Stadt. Dafür sollte Donatellos Statue der Judith, die bislang an diesem Platz gestanden hatte, entfernt werden (siehe meinen Post „Ein äußerst kopfloser Heerführer“). Am 15. Mai 1504 begann der sich über fünf Tage hinziehende Transport der 5,16 Meter hohen Skulptur zum Regierungspalast. Schließlich wurde die Statue am 8. September 1504 auf ihrem neuen Sockel an jene Stelle gesetzt, die zuvor die Judith eingenommen hatte.

Die Seitenansicht lässt die ursprüngliche Form
des Marmorblocks erkennen

Die Höhe der finalen Figur ist nahezu deckungsgleich mit der des Blockes, den Michelangelo vorfand. Offenbar ging es dem Bildhauer darum, die Form des David mit einem Minimum an Materialverlust aus dem Marmor herauszuschlagen. „Wie akribisch Michelangelo jeden Zentimeter auszunutzen versuchte, ist an der Linie abzulesen, die vom linken Knie bis zum Handrücken der linken Hand verläuft. In der Seitenansicht zeichnet sich somit die flache Kastenform des Blocks ab, wie sie in Carrara gebrochen worden ist“ (Bredekamp 2021, S. 132).

Donatello: David (um 1440); Florenz, Museo Nazionale
del Bargello (für die Großansicht einfach anklicken)

In seiner Nacktheit lässt Michelangelos David zunächst an Donatellos Bronze-David denken (siehe meinen Post „Androgyne Sinnlichkeit“), zumal die Grundhaltung der Skulptur verwandt erscheint. Der Körper ruht jeweils auf dem rechten Standbein, während das linke Spielbein leicht angehoben nach vorn geführt ist. Dennoch hat Michelangelos David nichts von der Nachdenklichkeit, ja Melancholie, die Donatellos Gestalt auszeichnet. Der entscheidende Unterschied liegt in der Hüfte, so Horst Bredekamp. Die Taille der Bronzefigur ist tief eingezogen, als würde der Oberkörper allein auf dem Standbein lasten, wohingegen sich die Bauchpartie von Michelangelos David von innen heraus anspannt, „sodass die weichen Umrisslinien, wie sie Donatellos Statue kennzeichnen, vermieden werden und die Last auf beide Beine verteilt wird“ (Bredekamp 2021, S. 132).

Wächter vor den Toren des Regierungspalastes
Andrea del Verrocchio: David (um 1475); Florenz, Museo
Nazionale del Bargello (für die Großansicht anklicken)
Donatello: David (1415/16); Florenz, Museo Nazionale
del Bargello (für die Großansicht einfach anklicken)

„Il Gigante“, wie Michelangelos Skulptur auch genannt wird, hat die linke Hand zum Kopf erhoben, dessen Augen auf einen Zielpunkt auf gleicher Höhe gerichtet sind. Hierin knüpft die Statue an Andrea del Verrocchios Bronze-David (siehe meinen Post „Stolz und spöttisch“) und den Marmor-David von Donatello an (siehe meinen Post „Kecke Kampfbereitschaft“). Der Kopf des Giganten scheint sich in seiner mächtigen Präsenz regelrecht vom Körper zu lösen, als wüchse er geradezu aus diesem heraus. Zumindest von vorn wirkt er eine Spur zu groß. Auch die weiteren Körperpartien erscheinen unproportioniert; so wirken die Arme etwas zu lang, die rechte Hand zu groß und das Standbein zu kurz. Als Michelangelo seine Arbeit begann, musste er davon ausgehen, dass der Gigant auf einen Strebepfeiler des Domes gehoben werden würde. Er berechnete den David daher auf Fernsicht. Mit der Überbetonung des Kopfes wollte er vermutlich die in der Höhe zu erwartende perspektivische Verzerrung der riesigen Skulptur ausgleichen.

Ein Kerl wie aus dem anatomischen Lehrbuch
Virtuos arbeitet Michelangelo heraus, was unter der menschlichen Haut liegt, beginnt bei den Füßen, an denen sich das Spiel der einzelnen Zehen abzeichnet. Es folgen die Sehnenzüge des Fußrückens und des Knöchels bis zu den Knien, die den Wechsel von Stand- und Spielbein erkennen lassen. Über dem Muskelrelief der Oberschenkel zeichnet sich die Bauchdecke mit differenzierter Binnenstruktur ab. Deutlich ausgeprägt sind auch die Rippen sowie das Brustbein und die Schlüsselbeine. Am Halsansatz steigen die beiden kräftigen Sehnen auf, die den Kopf in seiner seitlichen Wendung fixieren; eine Ader überzieht die bloßgelegte Halsseite. Den Höhepunkt bildet die rechte Hand, „die wie ein Demonstrationsobjekt aus einem anatomischen Lehrbuch das Zusammenspiel von Adern, Sehnen, Muskeln und Knochen“ (Bredekamp 2021, S. 135) präsentiert. Sie mutet entspannt an, offenbart aber mit ihrer Struktur aus kräftigen Adern, sichtbaren Sehnen und Muskeln die Fähigkeit, schnell reagieren und zugreifen zu können.

Apoll vom Belvedere (1489 aufgefunden); Rom, Vatikanische Museen
Einer der beiden Dioskuren (Castor) vom Quirinalsplatz in Rom

Als Vorbild für den David werden immer wieder die beiden antiken Statuen des Apoll vom Belvedere und des Castor vom Quirinalsplatz genannt, die mit ihren nach rechts über die Schulter gerichteten Köpfen Michelangelo durchaus als Anregung gedient haben können. Ihre Maßverhältnisse haben allerdings mit denen des David wenig gemeinsam. „Michelangelo hat den klassischen Kontrapost in einen Körper eingegeben, dessen Antikenbezug sich darin erschöpfte, eine nackte Monumentalfigur darzustellen“ (Bredekamp 2021, S. 134).

Von links betrachtet, wirkt die Gestalt in Kopf und Oberkörper eher statuarisch-unbewegt, als schätze sie eine für den Betrachter unsichtbare Situation an. Die innerlich sich anstauende Kampfbereitschaft kommt in der Frontalansicht stärker zur Geltung, und vollends in der Perspektive von halbrechts konzentriert der Körper das Zusammenspiel von Lässigkeit und Energie. „Das Spielbein und die Muskelanspannung von Bauchpartie und Oberkörper erzeugen aus dieser Position jene Wechselwirkung von Loslassen und Kontraktion, die in der überdimensionierten rechten Hand wiederholt ist, und die Bewegung des wie zur Abwehr erhobenen linken Armes leitet in das nun frontal zu erblickende Gesicht mit seinem fixierenden Blick und dessen Außenbezug über“ (Bredekamp 2021, S. 136). Unter den starken Haarlocken wölbt sich die Stirn in den zusammengezogenen Augenbrauen, deren Dynamik sich in den Zornesfalten und der Nasenwurzelfalte fortsetzt. Diese „leonine“, also die löwenhafte Physiognomie, sollte vorbildliche Kampfbereitschaft und Tapferkeit symbolisieren. Dagegen bleiben die weichen Partien der Wange und des Mundes unbewegt. Nur die leicht aufgeworfene Oberlippe könnte auf einen Affekt wie Widerwillen oder Verachtung hindeuten.

Symbol der wehrhaften Republik Florenz

Der David Michelangelos erzählt zum ersten Mal die alttestamentliche Geschichte seines Kampfes mit Goliath ohne Goliath und damit das Ereignis und die Handlung in einer einzigen Figur. Gestaltet ist der Moment, in dem David den Kontrahenten erblickt. Den Riesen taxierend, hat David mit der Linken die Lederschlaufe mit dem Stein angehoben, um sie mit der rechten über den Rücken zurückzuziehen und das Geschoss so nach vorne, in Richtung des Feindes zu schleudern. Er tritt uns also als kontentrierter und überlegen-überlegender Kämpfer“ (Zöllner 2007, S. 48) entgegen. 

In den Jahren zwischen dem Vertragsabschluss im August 1501 und der Aufstellung des David im September 1504 befand sich die Republik Florenz in einer Phase andauernder Bedrohung. Die Auftragsvergabe an Michelangelo fiel in eine Zeit, in der aufgrund der steten Kriegsgefahr das traditionell aufgebotene Söldnerheer in ein Bürgerheer umgewandelt wurde. Mit dem David besaß die wehrhafte Republik jetzt ihr neues Symbol, ihr Wahrzeichen: ein Wächter vor den Toren des Regierungspalastes.

Bis 1873 stand der Gigant auf der Piazza della Signoria. Dann erzwangen Witterungsschäden und Verätzungen durch Taubenkot, ihn in einen Innenraum zu versetzen. Man baute ihm einen Kuppelraum, die „Tribuna“ der Florentiner Galleria dell’Accademia. Mit der Eröffnung der Accademia am 22. Juli 1882 wurde der David schließlich wieder der Öffentlichkeit präsentiert, und dort ist er bis heute zu sehen. Der Übergang des David vom Stadtraum zum musealen Innenraum bedeutete „seine Umdeutung vom öffentlichen Monument zum auratischen Kunstwerk“ (Enzensberger 2019, S. 112). Die ursprüngliche Bedeutung des David als Sinnbild der freien Republik wurde aufgegeben und mit der eigens für die Skulptur errichteten „Tribuna“ ein Ort für ihre Verehrung geschaffen.

Luigi Arrighettis Marmorkopie des David vor dem Palazzo della Signoria

37 Jahre lang blieb der Platz vor dem Palazzo della Signoria leer – 1910 wurde dort schließlich eine Marmorkopie des David von Luigi Arrighetti aufgestellt. Einmal noch tobte sich Hass an ihm aus: 1991 schlug ein psychisch gestörter Mann mit einem Hammer auf den linken Fuß des Standbilds ein – die Schäden konnten glücklicherweise rasch behoben werden. Als Folge wurde der freie Zugang zum David unterbunden, und zwar mit einer halbhohen, bis zum Fuß der Skulptur reichenden Glasumzäunung.

 

Literaturhinweise

Bredekamp, Horst: Michelangelo. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021, S.119-145;

Enzensberger, Alexandra: Das inszenierte Meisterwerk. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2019, S. 97-150;

Giuliani, Luca: Michelangelos David und seine Schleuder. In: Nicole Hegener (Hrsg.), Nackte Gestalten. Die Wiederkehr des antiken Akts in der Renaissanceplastik. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2021, S. 189-212;

Lavin, Irving: Davids Sling and Michelangelos Bow. In: Matthias Winner (Hrsg.), Der Künstler über sich in seinem Werk. Weinheim 1992, S. 161-190;

Verspohl, Franz-Joachim: Michelangelo Buonarroti und Niccolò Machiavelli. Der David, die Piazza, die Republik. Stämpfli Verlag, Bern 2001;

Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007, S. 43-49. 

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