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Pieter de Hooch: Die Mutter (um 1662); Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken) |
Eine Frau sitzt neben einer
Korbwiege und hat wohl soeben ihr Kind gestillt, das wir allerdings nicht
sehen. Aus heutiger Sicht setzen wir voraus, dass es sich um die Mutter
handelt, aber das Bild ist um 1662 entstanden, und im 17. Jahrhundert war es
nicht selbstverständlich, dass eine Mutter ihren Säugling selbst stillt, vor
allem nicht in den höheren Gesellschaftsschichten. Das blieb häufig einer Amme
überlassen. Auf unserem Bild von Pieter de Hooch (1629–1684), einem
holländischen Genremaler, trägt die Mutter eine elegante schwarze Jacke mit
Pelzbesatz und darunter ein rotweißes Schnürmieder. Die Wiege steht vor einem
Alkoven, der von einem gestreiften Vorhang zur Hälfte verdeckt wird, daneben
hängt ein glänzender Bettwärmer aus Messing und an der Seite an einem
Garderobenhaken ein roter Mantel. Die Mutter beginnt, sich das zum Stillen geöffnete
Mieder wieder zu schnüren, hält aber kurz inne, wendet sich nochmals ihrem Baby
zu und nimmt liebevoll lächelnd Blickkontakt zu ihm auf; ihre ausgestreckte
rechte Hand, in der sie die Miederschnur hält, unterstreicht ihre Blickrichtung.
Eine Tür auf der rechten Seite der Wohnung führt in ein von warmem Licht
erhelltes Foyer oder vorhuis: Hier steht ein kleines Mädchen, im
verlorenen Profil gezeigt, nahe der offenen Halbtür und blickt nach draußen ins
Freie. Der untere Teil des hoch angesetzten Fensters am rechten Bildrand ist
mit hölzernen Läden verschlossen; durch die obere Hälfte fällt mildes
Tageslicht, das sich diagonal über die Szene ausbreitet. Unter dem Fenster steht
an die Wand gerückt ein kleiner Tisch mit Kerzenleuchter und Keramikkrug; ein
Hündchen verharrt dicht neben der Mutter auf dem gekachelten Fußboden, auf dem
sich nicht nur das – virtuos gemalte – von der Haustür hereinströmende Licht,
sondern auch die Hinterläufe des Tieres spiegeln.
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Der ausgestreckte Arm der Mutter lenkt unseren Blick hin zum Säuling – den wir nicht sehen
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Der vom halbdunklen Zimmer
vorn abgesetzte lichterfüllte Flur dahinter verleiht den beiden Interieurteilen
eindrucksvoll Raumtiefe. Perspektivisch äußerst genau hat de Hooch das
Fliesenmuster wie auch die Zimmerdurchblicke konstruiert – sie wurden
nachgerade zu einem Markenzeichen des Künstlers. De Hoochs Darstellungen des häuslichen
Lebens sind stets von der Architektur des Innenraumes her erdacht und
gestaltet. Mit malerischer Sorgfalt sind auf dem Berliner Bild auch die Farbakzente
gesetzt: Das kostbare Funkeln des Messings von Wärmepfanne und Kerzenleuchter
wie auch das intensive Rot von Wiegendecke, Mieder und Mantel leiten das Auge
in sorgsam kalkulierter Abfolge hin zum sonnigen Licht des Vorraums. „Erst aus
der Harmonie von Farbe und Licht entsteht jene anheimelnde Sphäre, die der
dargestellten Situation angemessen ist“ (Kelch 1998, S. 274).
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Die Schwelle, hinter der die Zukunft wartet
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Die Mutter wird von de Hooch nicht nur als
fürsorglich und liebevoll zugewandt charakterisiert – sie ist offensichtlich
auch eine mustergültige Hausfrau, wie der glänzende Fußboden und die
auffallende Ordnung des Raumes belegen. De Hooch schreibt in sein Bild auch den
kindlichen Entwicklungsprozess mit ein: vom bedürftigen, noch ganz auf die
Mutter angewiesenen Säugling hin zum Kleinkind, mit immer größerer
Bewusstwerdung seiner selbst und der Außenwelt, für die das einfallende
Sonnenlicht steht. Das junge Mädchen geht auf die Schwelle zu, hinter der seine
Zukunft wartet: sich allmählich ablösen von der Mutter (von der sie sich ja
schon behutsam abgewendet hat), hinaustreten, um das Draußen zu entdecken, und
zunehmend eigenständiger werden als erwachsene Frau.
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Pieter de Hooch: Das Schlafzimmer (1669); Washington D.C., National Gallery of Art
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Pieter de Hooch: Junge Mutter und Dienerin (1664); Wien, Kunsthistorisches Museum
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Nicolaes Maes: Der unartige Trommler (um 1655); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
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Das Berliner Gemälde zeigt
eine der schönsten und einfühlsamsten häuslichen Szenen, die de Hooch geschaffen
hat, und es ist zugleich ganz und gar charakteristisch für seine Werke der
1660er Jahre, wie etwa Das Schlafzimmer aus Washington D.C. oder Junge
Mutter und Dienerin in Wien. Es galt früher als ein Werk von Nicolaes Maes (1634–1693),
dessen Frühwerk de Hoochs häusliche Szenen wahrscheinlich beeinflusst hat; als
Beispiel sei hier Der unartige Trommler aus Madrid genannt (um 1655).
Literaturhinweise
Gemäldegalerie Berlin (Hrsg.): Von Frans Hals bis Vermeer Meisterwerke
holländischer Genremalerei. Weidenfeld Kunstbuch GmbH, Berlin 1984, S. 196-198;
Giltaij, Jeroen (Hrsg.): Der Zauber des Alltäglichen.
Holländische Malerei von Adriaen Brouwer bis Johannes Vermeer. Hatje Cantz
Verlag, Ostfildern-Ruit 2005, S. 237-239;
Kelch, Jan: Pieter de Hooch, Die Mutter (um 1661/1663). In: Gemäldegalerie Berlin.
200 Meisterwerke. Nicolaische Verlagsbuchhandlung Beuermann, Berlin 1998, S. 274.