Mittwoch, 13. November 2024

Vorgeführt – Lovis Corinths „Ecce Homo“ von 1925

Lovis Corinth: Ecce Homo (1925); Basel, Kunstmuseum

Ecce Homo ist das letzte Historienbild des deutschen Malers und Grafikers Lovis Corinth (1858–1925); es entstand 1925, vor einer Reise nach Holland, auf der ihn der Tod überraschen sollte. Das Gemälde erzählt vom Moment nach Geißelung, Dornenkrönung und Verspottung Jesu, der nun vor dem Gerichtsgebäude des Pilatus mit den Worten „Sehet, welch ein Mensch“ (Johannes 19,5; LUT) vor dem Volk zur Schau gestellt wird. Daraufhin fordern die Hohepriester und deren Knechte seine Kreuzigung.

In zwei Tagen hatte Corinth die Hauptgestalt gemalt, je einen Tag benötigte er für die Nebenfiguren, die erregte Volksmasse ist weggelassen. Die drei Personen sind in Ganzfigur und leicht überlebensgroß in der vordersten Bildebene dargestellt. Wir sehen den jugendlichen Christus mit Dornenkrone, blutüberströmt, in roter Toga und vor dem Körper über Kreuz gefesselten Händen. In seiner Rechten hält er eine Rute als spöttischen Ersatz für das Königszepter. Jesus wird von einem grobschlächtigen, großen Soldaten an einem Seil vorgeführt, das dieser fest in der Hand hält. Der Soldat trägt den Brustpanzer einer Ritterrüstung und hohe Stiefel: „Dieses unpassende Kostüm ist ein Stilbruch, der das Theatralische der Szene bewusst macht: gemaltes Passionsspiel mit Laiendarstellern“ (Wyss 2008, S. 318).

Wir kennen die Namen der Beteiligten: Leo Michelson, ein Schüler Corinths, spielt den Christus, der Maler Paul Paeschke den geharnischten Schergen. Pilatus trägt die Züge des Schriftstellers Michael Gusemann; er ist jedoch nicht mit der weißen Tunika des Richters bekleidet, der von sich sagt, er wasche seine Hände in Unschuld, sondern mit dem Malerkittel Corinths, bekannt von Selbstporträts an der Staffelei. Für Lothar Brauner sind die drei Figuren „Symbolgestalten des Zweifels und der Unsicherheit (Pilatus), des Stumpfsinns und der Barbarei (der Kriegsknecht) und der geschundenen Menschheit (Christus)“ (Brauner 1996, S. 320). Auch das Bild selbst wurde ein Opfer der Barbarei, als es 1937 von den Nationalsozialisten als „entartet“ beschlagnahmt und in der diffamierenden Ausstellung „Entartete Kunst“ – zuerst in München – gezeigt wurde. 1939 konnte es mit einem Sonderkredit der Basler Regierung für das Kunstmuseum Basel erworben werden und blieb so erhalten.

Corinths Gemälde wird dominiert vom harten Rot-Schwarz-Kontrast des Umhangs Jesu und der Rüstung des Soldaten; Pilatus, der mit seiner Rechten auf den Gefangenen zeigt und mit der linken Hand beschwörend nach oben weist, wirkt dagegen farblich an den Rand gedrängt. Sein mit Blau durchsetztes helles Gewand „trägt mit bei zur Charakterisierung seiner Schwäche, Ohnmacht und Farblosigkeit“ (Stückelberger 1996, S. 180). Pilatus und der Soldat werden von den Bildrändern links und rechts angeschnitten, wodurch „ein Gefühl der Enge, des In-die-Enge-Getrieben-seins“ entsteht (Stückelberger 1996, S. 180).

Die wuchtige dunkle Masse des Soldaten drängt Jesus regelrecht nach links. Diese Bewegung wird noch verstärkt durch die Schrittstellung des Soldaten sowie dadurch, dass er in die gleiche Richtung blickt. Zudem befinden sich die Köpfe der drei Figuren auf einer nach links abfallenden Linie. Dass Jesus abgedrängt wird, ist nicht zuletzt an der Rute in seiner Rechten ablesbar, die genau die Mittelachse des Bildes markiert. Der Körper Jesu befindet sich am unteren Bildrand präzis in der Mitte des Bildes, gegen oben verschiebt er sich jedoch mehr und mehr von der Achse weg nach links: „Die Auslieferung des Angeklagten an das Volk ist unabwendbar“ (Stückelberger 1996, S. 180).

Corinth präsentiert uns die drei Figuren in Untersicht und intensiviert diese Perspektive noch durch die vom Bildrand abgeschnittenen Füße. Leicht erhöht, gut sichtbar, wird Jesus dem Volk vorgeführt. „Daß Pilatus in eine andere Richtung blickt als Jesus und der Soldat, vermittelt dem Betrachter das Gefühl, nicht allein vor dem Bild zu stehen, sondern Teil der Volksmenge zu sein, die schreit: »Kreuziget ihn!« (Stückelberger 1996, S. 180).

Lovis Corinth: Aquarell-Skizze (1913); Zürich, Eidgenössische Technische Hochschule
Lovis Corinth: Ecce Homo (1925); Radierung

Corinth entwickelte sein Gemälde nach einer aquarellierten Skizze, die er zwölf Jahre zuvor angefertigt hatte und die der Komposition des Gemäldes sehr nahe kommt. 1925 wiederholte er das Motiv zudem in einer Kaltnadelradierung.

 

Literaturhinweise

Francini, Esther Tisa: Ein künstlerisches Vermächtnis. Verfemung und Rettung von Lovis Corinths »Ecce Homo«. In: Uwe Fleckner (Hrsg.), Das verfemte Meisterwerk. Schicksalswege moderner Kunst im »Dritten Reich«. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 197–224;

Brauner, Lothar: Ecce Homo, 1925. In: Klaus-Peter Schuster u.a. (Hrsg.): Lovis Corinth. Prestel-Verlag, München/New York 1996, S. 320;

Stückelberger, Johannes: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. Wilhelm Fink Verlag, München 1996, S. 179-180;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Donnerstag, 10. Oktober 2024

Das Messer an der Kehle – Rembrandts „Opferung Isaaks“


Rembrandt van Rijn: Die Opferung Isaaks (1635), St. Petersburg, Eremitage
(für die Großansicht einfach anklicken)
Rembrandts großformatiges Gemälde (193 x 133 cm) aus der Eremitage in St. Petersburg zeigt einen der dramatischsten Augenblicke des Alten Testaments: Gott befiehlt dem greisen Abraham, seinen einzigen Sohn Isaak ins Gebirge zu führen, ihn dort zu töten und als Brandopfer darzubringen (1. Mose 22, 1-13). Ein ungeheuerlicher, ein monströser Befehl, eine Prüfung, die kein Vaterherz bestehen kann. Und doch gehorcht Abraham. Drei Tage ist er mit seinem Sohn unterwegs, und sie müssen entsetzlich gewesen sein für den alten Mann. Abraham soll nicht nur das Schrecklichste tun, was einem Vater zuzumuten ist, er erhält auch keinerlei Erklärung von Gott.
Im Land Morija angekommen, errichtet Abraham auf einem der Berge einen Altar. Wir sehen links eine Wegesschlucht, die den Abhang hinunterführt – sie verdeutlicht sowohl, welche Entfernung Vater und Sohn zurückgelegt haben, wie auch den beschwerlichen Aufstieg. Dem tiefen Ausblick, der sich links im Bild auf eine bergige Flusslandschaft eröffnet, steht rechts die weitere Erhebung des Berges gegenüber. Wir sehen Walddickicht, durch das warmes Licht bricht. Unterhalb davon befindet sich ein Opferbecken, aus dem Flammen züngeln. Unmittelbar hinter dem Kopf Abrahams treten die Wurzeln einer knorrigen Eiche hervor, deren breiter Stamm von der oberen Bildkante angeschnitten ist für Nicola Suthor weist dieser Baum sinnbildlich auf die Stammvaterschaft Abrahams voraus (1. Mose 22,16-19).
Abraham schichtet Holz auf den Altar, fesselt den bis auf einen Lendenschurz entkleideten Isaak und legt ihn rücklings auf den Scheiterhaufen, um ihn mit einem orientalischen Krummdolch zu schlachten. Er geht rechts von Isaak in die Knie gegangen, beugt sich über seinen Sohn – und drückt ihm das Gesicht mit seiner Linken nach hinten, um die Kehle des Jungen bloßzulegen, die er im nächsten Moment durchschneiden will. Die Drastik, mit der Abrahams Hand den Kopf Isaaks zurückzwingt, zeigt die Entschlossenheit des Patriarchen, dem göttlichen Willen zu gehorchen und sein einziges Kind zu töten. Die Schutzlosigkeit des auf seinen Gewändern liegenden Knaben wird durch den scharfen Lichtschein, der den entblößten Oberkörper ausleuchtet, und die auf den Rücken gebundenen Hände besonders betont. Aber was könnte das Preisgegebensein Isaaks schmerzhafter veranschaulichen als der Anblick seiner Kehle! Abrahams Hand bedeckt das Gesicht des Sohnes fast vollständig, ja er erstickt ihn fast. Denn der Patriarch möchte seinen Sohn mit diesem Griff auch schützen: Er erspart Isaak so, mit ansehen zu müssen, wie der eigene Vater Hand an ihn legt. Und er verhindert zugleich, dass wir als Betrachter in das angstgepeinigte Antlitz des Kindes blicken können.
„... und reckte seine Hand aus und fasste das Messer,
dass er seinen Sohn schlachtete“ (1. Mose 22,10; LUT)
Doch bevor Abraham das grausame Menschenopfer vollziehen kann, schreitet ein Engel ein. Anders als in der biblischen Erzählung ist es bei Rembrandt nicht nur die Stimme eines Engels, die Abraham Einhalt gebietet, sondern der Engel eilt selbst vom Himmel herab, um dem Greis in den Arm zu fallen. Mit der einen Hand greift er nach dem rechten Handgelenk Abrahams, der sein Messer erschrocken fallen lässt, mit der anderen deutet er nach oben, denn von dort kommt die erlösende Weisung: Isaak soll leben.
Von dem plötzlichen Erscheinen des Engels überrascht, wendet Abraham jäh den Kopf – die in Falten gelegte hohe Stirn des alten Mannes zeigt an, dass ihm noch völlig unverständlich ist, was hier geschieht. Fassungslos, je regelrecht verstört blickt Abraham nach oben, das Gesicht von Wellen des schlohweißen, rauschenden Bartes und des schütteren Haupthaares umkränzt. „Das gesträubte Haar trägt gleichsam die innere Erregung nach außen“ (Suthor 2014, S. 135). Die buschigen, nach oben abstehenden Augenbrauen tragen ebenfalls zum Eindruck erschreckten Erstaunens bei, das sich dem bleichen Antlitz insgesamt eingeschrieben hat.
Es sind vor allem die Hände und Blicke dieser zwei Figuren, die uns diese atemberaubende Geschichte erzählen – zusammen mit dem göttlichen Licht, das der rothaarige Engel mit sich führt und das hoffnungslose Dunkel der Szene erleuchtet. Der heranfliegende Engel wirft einen tiefen Schatten auf die Gestalt Abrahams, aber die Körperteile, die für das Geschehen wichtig sind – sein Gesicht und die Hände – liegen voll im Licht. „Die Pelzverbrämung von Abrahams Obergewand, die auf den ersten Blick wie eine Fortsetzung der Wolke des Engels erscheint, unterstreicht den göttlichen Eingriff ins Geschehen: Abrahams Hand scheint von seinem verschattenen Körper abgetrennt“ (Suthor 2014, S. 133). Durch diese Lichtregie, die von der Helldunkel-Malerei Caravaggios inspiriert ist, gewinnt Rembrandts Bild eine besondere dramatische Wucht. Das Antlitz des Engels ist verschattet, das des Sohnes verdeckt, das Gesicht des Greises hingegen vom Licht getroffen – Abraham wird begreifen, so deutet sich hier an, dass er von seiner Prüfung erlöst ist.
Die drei lebengroßen Figuren agieren auf einer recht schmalen, durch das dichte Unterholz hinterfangenen Bühne im Vordergrund; miteinander füllen sie nahezu die gesamte Bildfläche. Der Eindruck großer Nähe wird durch den weiten Landschaftsausblick zusätzlich gesteigert. Abraham verbindet mit seinen weit ausgreifenden Armen die beiden zentralen Handlungsmomente: das bevorstehende Opfer des Sohnes – der Körper Isaaks führt von links unten diagonal hinauf zum Vater – und die göttliche Intervention durch den von links mit wehendem Ärmel herbeifliegenden Engel.
„Da rief ihn der Engel des Herrn von Himmel und sprach: Abraham! Abraham!“ (1. Mose 22,11; LUT)
Die Opferung Isaaks bleibt eine verstörende Geschichte
. 1. Mose 22 erzählt davon, dass Gott als kaum zu bewältigende Zumutung an den Menschen herantreten kann – dunkel, rätselhaft und verborgen. In der calvinistischen Welt Rembrandts war Abraham jedenfalls ein leuchtendes Vorbild für den unbedingten Gehorsam gegenüber den Ratschlüssen und Anweisungen des Allmächtigen – denn gerade dieser für uns heute kaum mehr nachvollziehbare Gehorsam galt als „Erkennungszeichen des wahren Glaubens“ (Schama 2000, S. 411).
Unbekanner Schüler Rembrandts: Die Opferung Isaaks (1636); München,
Alte Pinakothek (für die Großansicht einfach anklicken)
Es existiert eine Kopie von Rembrandts Gemälde im Maßstab 1:1, die in seinem Atelier entstanden sein muss. Sie befindet sich in der Alten Pinakothek in München und unterscheidet sich in drei Punkten vom Original: Der Engel schwebt nicht mehr von links heran, sondern taucht plötzlich hinter dem Erzvater auf, „sich gleichsam um den mächtigen, den Berggipfel angebenden Baumstamm windend“ (Dekiert 2004, S. 43); der Widder, den Abraham statt seines Sohnes opfern wird, fehlt in der St. Petersburger Fassung – auf dem Münchner Bild wurde er im Mittelgrund links eingefügt; das Feuerbecken rechts von Abrahams Ellbogen ist durch ein Gebüsch ersetzt. Die meisten Kunsthistoriker gehen heute davon aus, dass diese Kopie zu großen Teilen von einem Schüler stammt, dessen Arbeit Rembrandt allerdings verbessert hat.
Pieter Lastman: Abrahams Opfer (1612); Amsterdam, Rijksmuseum
Rembrandt dürfte bei seiner Bildgestaltung von einer Komposition seines früheren Lehrmeisters Pieter Lastman (1583–1633) ausgegangen sein: Dessen Grisaille von 1612 ähnelt in der Szenerie und den vertikal angeordneten Figuren Rembrandts Gemälde sehr. Vor allem die Konfrontation zwischen Abraham und dem Engel ist wohl als Vorbild bedeutsam gewesen – wobei Rembrandt gegenüber Lastman einen körperlichen Kontakt zwischen den beiden Gestalten herstellt. Bei Lastman hält Abraham außerdem noch ein Schwert in der Hand, was einem Übersetzungsfehler der lateinischen Vulgata („portabat in manibus ignem et gladium“, 1. Mose 22,6) und der darauf fußenden Bildtradition geschuldet ist. Rembrandt dagegen stellt, der korrekten Übersetzung Martin Luther entsprechend, ein Messer dar.
Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1602); Rom, San Luigi dei Francesi
Doch Rembrandt hat von Lastman nicht nur einzelne Motive für sein Bild übernommen: Der junge Künstler erhielt über den nach Italien gereisten Lehrer Kenntnis von der römischen Malerei des Frühbarock, insbesondere von der Kunst Caravaggios. Denn die kleine Amsterdamer Tafel Lastmans greift zurück auf das berühmte, um 1602 entstandene Altarblatt der Contarelli-Kapelle in der römischen Kirche San Luigi dei Francesi, in dem ein Engel in vergleichbar kühnem Flug zu dem Evangelisten Matthäus herabfährt (siehe meinen Post Matthäus, der Analphabet“). Die Drastik wiederum, mit der Abraham bei Rembrandt den Kopf seines Sohnes auf den Opferaltar zwingt, ist mit der Rohheit vergleichbar, die Caravaggio in seinem Gemälde von 1597/98 vor Augen stellt: Unter dem Druck der väterlichen Hand, die den Sohn im Nacken packt, schreit Isaak in Todesangst auf (siehe meinen Post ,Nimm deinen einzigen Sohn, den du lieb hast ...‘). Auch das Motiv des zugreifenden Engels ist bei Caravaggio vorgebildet – es gibt allerdings keinerlei Beleg dafür, dass Rembrandt, wie auch immer vermittelt, das Gemälde des Italieners bekannt war.
Caravaggio: Die Opferung Isaaks (1597/98); Florenz, Uffizien
In der kunsthistorischen Forschung wird noch ein weiterer Künstler genannt, der mit seiner Umsetzung des Themas Rembrandts Gemälde maßgeblich beeinflusste: Peter Paul Rubens (1577–1640). Er hatte 1614 eine Opferung Isaaks vollendet, die noch im gleichen Jahr durch einen Nachstich von Andreas Stock verbreitet wurde. Offenbar war Rembrandt vor allem an der Gestalt des unbekleideten Isaak interessiert:
„Dreht man die Rubenssche Komposition um 45 Grad nach rechts und betrachtet den Knaben gleichsam liegend, so ist die Orientierung Rembrandts an dieser Figur evident“ (Dekiert 2004, S. 64/65). Außerdem scheint auch der Bildraum mit dem dichten Gehölz auf der rechten Seite und dem kontrastierenden Fernblick links der Fassung Rembrandts nahezukommen.
Peter Paul Rubens: Die Opferung Isaaks (1613/14);
Kansas City, Nelson-Atkins-Museum
Die Opferung Isaaks gehört zu einer Reihe von ambitionierten Historiengemälden mit lebensgroßen Figuren, die Rembrandt in den mittleren 1630er Jahren geschaffen hat. In Dramatik und Drastik vergleichbar sind zwei Bilder mit ebenfalls alttestamentlichen Themen: das wohl gleichfalls 1635 geschaffene Gastmahl des Belsazar in der Londoner National Gallery und die monumentale Blendung Simsons von 1636 im Frankfurter Städel (siehe meinen Post Mit den Waffen einer Frau“). Dem Motiv des fallenden Opfermessers ähnlich werden im Gastmahl des Belsazar zwei Goldpokale von den panisch erschrockenen Figuren umgestoßen bzw. ausgeschüttet.
Rembrandt van Rijn: Gastmahl des Belsazar (1635);
London, National Gallery (für die Großansicht einfach anklicken)

Literaturhinweise
Ausstellungskatalog Rembrandt – Caravaggio. Rijksmuseum Amsterdam und Van Gogh Museum 24. Februar bis 18. Juni 2006, Belser Verlag, Stuttgart 2006, S. 97-103;  
Brown, Christopher u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 181-183; 
Dekiert, Marcus: Rembrandt – Die Opferung Isaaks. Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München 2004;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000;
Schwartz, Gary: Das Rembrandt-Buch. Leben und Werk eines Genies. Verlag C.H. Beck, München 2006, S. 343-346;
Suthor, Nicola: Rembrandts Rauheit. Eine phänomenologische Untersuchung. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014, S. 130-136;
Tümpel, Christian: Rembrandts Ikonographie: Tradition und Erneuerung. In:  Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.), Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont Verlag, Köln 2006, S. 105-127;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 11. Oktober 2024)

Mittwoch, 9. Oktober 2024

„Meine Augen haben deinen Heiland gesehen“ – Rembrandts „Darbringung im Tempel“


Rembrandt: Darbringung im Tempel (1627/28); Hamburg, Kunsthalle
Die Darbringung im Tempel von 1627/28 gehört zu Rembrandts frühen Meisterwerken, die in seiner Leidener Zeit (1625–1630) entstanden sind, bevor er 1631 nach Amsterdam übersiedelte. Dargestellt ist eine im Lukas-Evangelium geschilderte Begebenheit: Josef und Maria bringen ihren Erstgeborenen nach Jerusalem, um ihn – dem jüdischen Gesetz folgend – Gott zu präsentieren und durch eine Opfergabe auszulösen (Lukas 2,22-39). Hier begegnen sie dem alten, gottesfürchtigen Simeon, dem vorhergesagt worden war, er werde erst sterben, wenn er den Messias gesehen habe. Simeon erkennt in dem Kind den Erlöser, nimmt ihn in seine Arme, spricht ein Dankgebet zu Gott und segnet die Eltern. Auch die hochbetagte Prophetin Hanna preist Gott beim Anblick des Messias.
Rembrandt verdichtet die Erzählung in seinem Bild und fasst zusammen, was eigentlich nacheinander geschieht: Simeon richtet seine prophetischen Worte an die Eltern, während gleichzeitig Hanna angesichts des Neugeborenen Gott zu preisen beginnt. Das alles ereignet sich jedoch nicht, wie bislang in der Bildtradition üblich, vor dem Hochaltar, sondern in einem eher abgelegenen Winkel der Synagoge. Außer den fünf ausdrücklich im Bibeltext genannten Personen ist niemand anwesend. Simeon und das Elternpaar knien sich gegenüber, der Greis hält das Kind im Arm, und mit begütigender Geste richtet er seine Worte an die erschrockene, überwältigte Maria. Von hinten ist Hanna herangetreten, um mit erhobenen Händen die Heilsbotschaft Simeons zu bekräftigen. Josef ist als dunkle Repoussoirfigur im verlorenen Profil dargestellt; er hat die beiden Opfertauben auf dem Boden abgesetzt (sie sind heute nicht mehr zu erkennen), um seine Hände unter dem abgenommenen Hut zum Gebet zu falten. Die Stimmung des Bildes ist daher zum einen geprägt von einer andächtigen, intimen Frömmigkeit, zum anderen durch die extrovertierte Pathosgeste Hannas.
Theologisch interessant ist die „Eliminierung von Priester, Altar und Ritus“ (Keller 1979, S. 97) auf Rembrandts Gemälde. Kunsthistoriker sehen darin eine Stellungnahme des Künstlers: gegen die Amtskirche bzw. eine von Priestern abhängige Gnadenvermittlung und für eine unmittelbare Gottesbegegnung, die sich auf den wörtlichen Bibeltext berufen kann.
Marcantonio Raimondi: Die Jungfrau an der Wiege; Kupferstich nach Raffael
Für die Figur der Hanna, die mit ihren erhobenen Armen dargestellt wird, hat sich Rembrandt möglicherweise an einen Kupferstich von Marcantonio Raimondi (1480–1534) angelehnt. Martin Warnke hat allerdings darauf hingewiesen, dass ihre Gestik auch von Orantenfiguren auf altchristlichen Mosaiken übernommen sein könnte. Wie dort die Gestalten oft vor einem Goldgrund stehen, sei Hanna auf Rembrandts Gemälde vor hellgelbes Licht gestellt. Rembrandt aktiviere damit eine alte Formel, um den „urchristlichen Geist gegen eine in dogmatische Zwiste verstrickte Kirche in Erinnerung zu bringen“ (Warnke 1986, S. 40).
Hl. Apollinaris (6. Jh.); Mosaik aus S. Apollinare in Classe bei Ravenna
Das blendend hell von links oben in den dunklen Tempelraum einfallende Licht ist sicherlich ein Effekt, der auf die Utrechter Caravaggisten wie Gerrit van Honthorst oder Dirck van Baburen zurückgeht. Aber Rembrandts Lichtregie hat auch inhaltliche Bedeutung: So spricht Simeon in seinem Lobpreis an Gott davon, der neugeborene Heiland sei „ein Licht, zu erleuchten die Heiden“ (Lukas 2,23; LUT). Allerdings ist nicht das Jesuskind selbst die die Lichtquelle; es bricht deutlich als Naturlicht von einem Fenster ein, dessen Gitter als Schatten auf die gekalkte Wand fallen. Dabei erleuchtet es den Raum so heftig, „daß die Lichtzone um das Christuskind mit dem zart flackernden Heiligenschein eher als sekundäres Reflexlicht wirkt“ (Warnke 1986, S. 41). Von der wuchtigen Säulentrommel ragt eine Halterung nach rechts in den dunklen Innenraum: Die einsame Kerze darauf ist erloschen und könnte den Alten Bund symbolisieren, der mit der Geburt Jesu ihr Ende findet. Die Zeit des Gesetzes ist von der Zeit der Gnade und des Glaubens abgelöst worden. 
In den besonders hellen Partien des Bildes – wie dem Christuskind, der Kleidung von Simeon sowie der vom Sonnenlicht beschienenen Teile der Mauer und der Säule im Hintergrund – finden sich die dicksten Farbschichten, während in den verschatteten Bereichen die Farbe viel dünner und gleichmäßiger aufgetragen wurde. In der hell aufleuchtenden Wand deuten Variationen von Braun, Gelb und Grau Feuchtigkeitsflecken und andere Unregelmäßigkeiten an – Rembrandt gelingt es auf diese Weise, den optischen Effekt einer verputzten Mauer zu erzeugen.
Rembrandt: Paulus im Gefängnis (1627); Stuttgart, Staatsgalerie
Rembrandt: Petrus und Paulus im Gespräch (1628); Melbourne, The National Gallery of Victoria
Rembrandts Darbringung im Tempel weist große kompositorische Übereinstimmungen mit seinem etwa zeitgleich entstandenen Paulus im Gefängnis auf (1627): Auch hier fällt das Licht von links durch ein nicht gezeigtes Sprossenfenster auf eine Wandzone mit wuchtiger Säule, vor der sich der Apostel markant abhebt. Der Bildteil rechts von ihm mit einer Holztür bleibt ebenfalls im Schatten. Rembrandts Gemälde Petrus und Paulus im Gespräch von 1628 zeigt vorne links eine Figur, die in vergleichbarer Weise wie Josef in der Darbringung im Tempel als Repoussoir fungiert, allerdings wesentlich schärfer konturiert. Die kniende Gestalt des Josef ist außerdem eng mit einer Hieronymus-Radierung verwandt, die im gleichen Zeitraum wie das Hamburger Gemälde entstanden sein dürfte.
Rembrandt: Simeons Lobpreis im Tempel (1631); Den Haag, Mauritshuus
(für die Großansicht einfach anklicken)
Wenige Jahre später, 1631, hat der Künstler in einer vielfigurigen Darstellung von Simeons Lobpreis im Tempel die prominente Platzierung der Hanna wieder aufgegeben: Sie wird nun ersetzt durch einen Hohepriester im verlorenen Profil, der segnend seine rechte Hand erhebt, während das Licht der göttlichen Erleuchtung hell auf die Dreiergruppe von Simeon, Jesuskind und Maria fällt.

Rembrandt: Der kniende Hieronymus im Gebet (um 1627/28); Radierung
1630 hat Rembrandt das Thema der Darbringung auch in einer Radierung wiedergegeben, in einer eng verwandten Komposition: Die Figuren sind jetzt wie auf einer Drehbühne um eine imaginäre Achse gedreht. Simeon ist mit dem gleichen Gestus nahezu von vorne zu sehen. Maria nimmt als Rückenfigur die Position Josefs ein, der am äußersten rechten Rand kniet; auch die stehende Figur der Hanna, mit geändertem Spiel der Hände, wurde gedreht, ein Engel weist sie mit ausgestrecktem Arm auf den neugeborenen Erlöser hin. Auch in der Radierung ragt im Rücken der Gruppe eine wuchtige, durch ein Band verzierte Säule hoch auf; allerdings gibt Rembrandt nun im Hintergrund einen Einblick in die übrige Tempelarchitektur. 
Rembrandt: Lobpreis Simeons (1630); Radierung
(für die Großansicht einfach anklicken)
Um 1640/41 entsteht dann eine weitere Radierung, die eine Darbringung im Tempel zeigt, diesmal jedoch im Querformat: In der friesartigen Komposition ist das Gegenüber von Maria und Simeon dadurch hervorgehoben, dass die beiden die einzigen kräftiger modellierten Gestalten sind: Alle übrigen Figuren, auch die mit einem Stock herbeieilende Prophetin Hanna, werden durch die schräg einfallenden Lichtstrahlen ausgeleuchtet und erscheinen regelrecht entkörperlicht. Über der Prophetin hat Rembrandt ein konventionell-sakrale Taube in einer Aureole angebracht – ein in seiner Bildwelt ungewöhnliches Motiv.
Rembrandt: Darbringung im Tempel (um 1640/412); Radierung
Rembrandt: Darbringung im Tempel (um 1657/58), Radierung
Ende der fünfziger Jahre schließlich greift Rembrandt das Thema nochmals auf, und zwar in einer ganz dunkel gehaltenen Radierung. Hier kehrt die Figurenpyramide des Hamburger Gemäldes wieder – aber Maria und Josef gehören ihr nicht an. Wir sehen nicht mehr, wie Simeon das Kind von Maria in Empfang nimmt, sondern nur, wie er es kniend dem auf einem hohen Podest thronenden Hohepriester darbringt. Simeon ist die wichtigste Figur des Geschehens geworden, die alle anderen buchstäblich in den Schatten stellt: Maria und Josef hinter ihm lassen sich gerade noch erkennen,
bis auf eine Andeutung verschwindet Hanna am rechten Bildrand in der Finsternis des Tempels. Ihren Platz auf dem Hamburger Bild hat nun der hoch aufragende Tempelhüter eingenommen. „Simeons Erleuchtung aber wird nicht durch von oben, also von außen herniedergesandte Strahlen bewirkt; es ist ein von innen her Erleuchtetsein, das insbesondere Haar und Bart zu einem Weißglühen bringt, von dem aus gespenstisches Licht auf die Prunkgewänder von Hohepriester und Tempelhüter fällt“ (Pächt 2005, S. 139). Um alle Aufmerksamkeit auf Simeons Antlitz zu konzentrieren, ist sogar der Kopf des Jesusknaben verschattet, zum Ausgleich jedoch mit einem leichten Nimbus versehen.

Glossar

Repoussoirfiguren sind Gestalten im Vordergrund eines Gemäldes, die die Funktion haben, den Blick des Betrachters in die Tiefe zu ziehen. Sie werden deswegen häufig von hinten dargestellt.

Das verlorene Profil ist eine Ansicht von hinten, bei der nur noch die Konturen der Wangenknochen zu sehen sind; das Gesicht dreht sich in die Bildtiefe hinein.

Der Orantengestus ist eine Körperhaltung beim Gebet: Der Beter steht dabei mit in Schulterhöhe ausgebreiteten Armen, den Kopf entweder gesenkt oder zum Himmel erhoben.

 

Literaturhinweise
Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont Verlag, Köln 2006, S. 246;
Keller, Ulrich: Knechtschaft und Freiheit. Ein neutestamentliches Thema bei Rembrandt. In: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 24 (1979), S. 77-112;
Ketelsen, Thomas (Hrsg.): Rembrandt, oder nicht? Hamburger Kunsthalle. Die Gemälde. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2000, S. 25-28 und 42;
Pächt, Otto: Rembrandt. Prestel-Verlag, München 2005, S. 38-40 und 138-140;
van den Boogert, Bob: Rembrandt Harmensz. van Rijn – Simeon im Tempel, um 1627/28. In: Ernst van de Wetering/Bernhard Schnackenburg (Hrsg.), Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge. Edition Minerva, Wolfratshausen 2001, S. 214-217;
Warnke, Martin: Zur Herkunft und zur Deutung der »Lobpreisung Simeons« von Rembrandt in der Kunsthalle. In: IDEA. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle V (1986), S. 33-45;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 20. Oktober 2024)

Montag, 7. Oktober 2024

Für alle Konfessionen geeignet –Rembrandts Radierung „Der Tod Mariens“ (1639)

Rembrandt: Der Tod Mariens (1639); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)

Über den Tod Mariens, der Mutter Jesu, wird in der Bibel nichts berichtet. Doch die Legenda aurea, das im späten 13 Jahrhundert zusammengestellte Standardwerk der Heiligenverehrung, erzählt, dass sämtliche Apostel auf wundersame Weise an ihrem Sterbebett zusammengekommen seien. Diese zwölf Gefährten Jesu zeigt Albrecht Dürers Marientod – eines der insgesamt 20 Blätter aus seiner 1502 bis 1510 entstandenen Holzschnittfolge zum Marienleben (siehe meinen Post „Ein Buch für die Himmelskönigin“). Dürer präsentiert die schmächtige, tief in die Kissen zurückgesunkene Maria in einem von einem Bogen überwölbten Baldachinbett. Um die stark verkürzt dargestellte Figur reihen sich die Abschied nehmenden Apostel. Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, reicht Maria die Sterbekerze, während sie von Petrus mit Weihwasser besprengt wird; andere lesen aus heiligen Schriften; Kreuzstab, Weihwasser und Räucherwerk unterstreichen den rituellen Charakter der Szene.

1638 erwarb Rembrandt (1606–1669) Dürers Marienleben. Deutlichstes Zeugnis seiner Auseinandersetzung mit dieser Serie ist eine Radierung von 1639, die uns die Todesstunde der Gottesmutter zeigt. Rembrandt übersetzte das Werk des Nürnberger Meisters in die ihm eigene Bildsprache und schuf dabei eine seiner großformatigsten und anspruchsvollsten Grafiken überhaupt (41 x 31,4 cm).

Albrecht Dürer: Marientod (aus dem Marienleben, 1502-1510);
Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken)

Bei Rembrandt haben sich nicht die Apostel, sondern klagende Frauen und Männer um das Lager der Sterbenden geschart. Ihre Aufmerksamkeit gilt mehr dem körperlichen Zustand als dem Seelenheil der sichtlich ausgezehrten Maria. Reglos liegt sie in einem Himmelbett: Ihre Arme sind schwer und die Augen geschlossen, aus ihrem Mund läuft Speichel. Der orientalisch kostümierte Priester – gemeint ist wohl ein jüdischer Tempelgeistlicher – und sein Gefolge am linken Bildrand beobachten die Szene ebenso untätig wie der vor einem aufgeschlagenen Buch sitzende Mann im Vordergrund. Ganz nah an Maria herangetreten ist ein bärtiger Helfer, der ihr ein Kissen zurechtrückt und ihr den Mund mit einem Tuch abtrocknet. Ein Arzt fühlt sorgenvoll den Puls – ein im Zusammenhang mit dem Marientod völlig neuartiges Motiv. Durch ihren hervorgehobenen Figurenmaßstab setzen schließlich die klagende Frau vorn am Bett sowie die hell beleuchtete Figur mit den ausgebreiteten Armen einen besonderen Akzent in der ausdrucksstarken Trauer der Anwesenden. Der riesige Vorhang am rechten Bildrand wiederum wird von Rembrandt wie ein Hoheitszeichen eingefügt.

Während die untere Bildpartie detailreich und naturalistisch ausgearbeitet ist, erscheint der obere Bereich nur skizziert. Unbemerkt von den Besuchern bricht das Jenseits in das Sterbezimmer ein: Ein übernatürliches Licht fließt herab und erhellt das Sterbebett. Auf einem Wolkenband erscheinen rudimentär gezeichnete Engel und rufen die Gottesmutter in die himmlische Herrlichkeit, deren Glanz bereits die bleiche Gestalt der Liegenden beleuchtet.

Katholiken – im protestantisch geprägten Holland eine Minderheit – konnten in der Radierung die Darstellung eines für sie wichtigen Themas bewundern. Zugleich hat Rembrandt aber auf alle liturgisch-katholischen Geräte verzichtet, darunter auch auf das Kreuz. Calvinisten und Lutheraner hatten so die Möglichkeit, die Szene als eine „reformierte Totenbettzeremonie zu betrachten und in der Figur der sterbenden Maria ein Beispiel für Demut, Glauben und Gehorsam zu finden“ (Peterlini 2017, S. 190). Deswegen dürfte Rembrandt im Vordergrund auch das aufgeschlagene Buch platziert haben – sicherlich ist eine Bibel gemeint, als Grundlage und Bindeglied aller christlichen Denominationen. Darüber hinaus dürfte Der Tod Mariens auch als Kunstwerk von hohem Rang und eindringliche Schilderung menschlicher Endlichkeit über konfessionelle Grenzen hinweg geschätzt worden sein.

Rembrandt: Maria und Kind auf den Wolken (1641); Radierung
Rembrandt: Maria mit den Leidenswerkzeugen (1642); Radierung
Rembrandt: Die Heilige Familie mit Katze und Schlange (1654); Radierung

Katholische Kunstliebhaber hatte Rembrandt sicherlich auch im Blick gehabt, als er in späteren Jahren weitere Marien-Darstellungen schuf, so etwa die Radierungen Maria und Kind auf den Wolken und Maria mit den Leidenswerkzeugen, 1641 und 1642 entstanden, sowie Die Heilige Familie mit Katze und Schlange aus dem Jahr 1654.

 

Literaturhinweise

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen.  Schirmer/Mosel, München 1991, S. 203-205;

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Ein Virtuose der Druckgraphik. SMB DuMont, Köln und Berlin 2006, S. 82;

Peterlini, Giuseppe: Der Tod Mariens, 1639. In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 190-191.


Sonntag, 6. Oktober 2024

Hochzeitsbild oder religiöse Meditation? – Caspar Davids Friedrichs „Kreidefelsen auf Rügen“


Caspar David Friedrich: Kreidefelsen auf Rügen (1818), Winterthur,
Kunst Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Kreidefelsen auf Rügen gehören zu den berühmtesten Gemälden von Caspar David Friedrich. Der Maler selbst hat sein Bild zu Lebzeiten nicht öffentlich ausgestellt. Der Ort, den Friedrich uns zeigt, lässt sich genau benennen: Es handelt sich um eine Montage der Kleinen und der Großen Stubbenkammer. Friedrich hat also keine Vedute, keine topografisch genaue Wiedergabe der viel besuchten Sehenswürdigkeit liefern wollen. Es ist nachvollziehbar, warum er die Ansichten kombiniert hat: Es ging ihm offensichtlich darum, auf beiden Seiten steil abfallende Felsen darstellen zu können. Die Aussicht wird durch die in der Höhe gesteigerten fragilen Felsnadeln dramatisiert, die Tiefenwirkung gesteigert, außerdem das Bild ziemlich in der Mitte geteilt und die Frau links von den beiden Männern abgesondert. „Die hellen Kreidefelsen sollten sich als eine bizarre Kulisse zwischen den schmalen abschüssigen Vordergrund und das sich in der Ferne gleichsam auftürmende Meer schieben“ (Börsch-Supan 2008, S. 114). Die Symmetrie der Komposition wird oben durch zwei sich mit ihren Kronen einander zuneigende Bäume ergänzt, wobei der den Männern zugeordnete in seiner Laubmasse fülliger ist als der zur Frau gehörige links. So bildet sich eine Art natürliches Portal oder Fenster, wie es auch auf anderen Bildern Friedrichs als feierliches Motiv zu finden ist, wie z. B. der Gartenlaube aus Greifswald in der Münchner Pinakothek.
Caspar David Friedrich: Gartenlaube bei Greifswald (1818); München, Neue Pinakothek
Licht und Farbe verleihen dem Bild Heiterkeit – und dennoch hat es etwas Unheimliches, denn das Gefährliche der Situation ist offensichtlich. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts faszinierte die Stubbenkammer-Steilküste auf Rügen die Reisenden. Der Weg am oberen Rand der Kreidefelsen entlang war gefährlich und daher stellenweise mit einem Geländer abgesichert. Wegen der herrlichen Ausblicke auf das Meer war er dennoch sehr beliebt.
Wer sind nun aber die drei Personen, die Friedrich im Vordergrund seines Gemäldes abgebildet hat und die in ihrer städtischen Kleidung auf den ersten Bick wie Touristen wirken? In der kunsthistorischen Forschung besteht Einigkeit zumindest darüber, dass ein Zusammenhang mit der Hochzeitsreise des Malers besteht, die ihn im Sommer 1818 in seine Heimat führte. Am 21. Januar 1818 hatte der bereits dreiundvierzigjährige Friedrich die vierundzwanzigjährige Caroline Bommer geheiratet. Der Künstler unternahm die Reise in seine Heimat, um Caroline den in Greifswald lebenden Brüdern vorzustellen. Jens Christian Jensen hat das Gemälde deswegen auch als „Hochzeitsbild“ betrachtet. Ausschlaggebend für seine Deutung ist, „daß der durch Grasbühne und Bäume gebildete Rahmen im Bild herzförmig ist. Die Spitze des Herzens ist durch den Einschnitt des Grasbodens zwischen Frau und knieendem Mann bezeichnet, die Wölbungen der beiden Herzschwellungen durch die Zweige der beiden Bäume: Mann und Frau, durch einen Abgrund getrennt, vereinigen sich in diesem Gezweig“ (Jensen 1980, S. 186). Gisela Greve erkennt eher einen kreisförmigen Bildaufbau, der den Gedanken an einen grünen Kranz aufkommen lasse und dem Gemälde einen festlichen Charakter verleihe (Greve 2006, S. 97).
Bedrohliche Tiefe und erhabene Weite
Auffallend ist dennoch, dass die drei Personen auf Friedrichs Bild relativ weit voneinander entfernt sind. „Sollte man aber von einem Hochzeitsbild nicht eine eindeutige Klärung der Beziehungen erwarten dürfen?“ (Grave 2000, S. 139). Die anmutige Frau links, in Rot gekleidet, deutet mit ihrer Rechten auf rote Blumen, die am Rand des steilen, zerklüfteten Felsabsturzes wachsen. Sie steht, wie die beiden anderen Gestalten, auf einem schmalen Erdstreifen im Bildvordergrund. Die Grasnarbe senkt sich auf die Mitte zu. Wie an dieser Stelle das Land ins Rutschen geriet, so wird auch der Blick in eine scheinbar bodenlose Tiefe hinabgeführt. Sicheren Stand gibt es hier nicht. Belaubte Zweige umgeben das Haupt der jungen Frau wie ein Rahmen, aber der Strauch hinter ihr, an dem sie sich mit der linken Hand festhält, hat fast alle Blätter verloren.
In der Mitte des Bildvordergrundes hat ein Mann in hellen Hosen und blauem Rock Zylinder und Wanderstock neben sich abgelegt und sich kriechend an den äußersten Rand des Abgrunds vorgewagt. Er hält sich an dürrem Gras fest und blickt wie gebannt senkrecht in die bedrohliche Tiefe, die ihn geradezu hinabzuziehen scheint. Die dritte Gestalt lehnt, aufrecht stehend, mit verschränkten Armen an einem zersplitterten Baumstumpf, die Füße unmittelbar am Abgrund auf ein paar Äste gestellt. Der Mann in altdeutscher Tracht richtet seinen Blick über den Abgrund in die Ferne, er „verschmäht es, mit den Händen Halt zu suchen und erscheint so als der Held der kleinen Gruppe“ (Börsch-Supan 2008, S. 117).
In der Frau wird zumeist Caroline gesehen – das Rot ihres Kleides ist die Farbe der Liebe; der am Boden Kriechende wiederum ist wohl Friedrich selbst. Man erkennt ihn an dem rundlichen Schädel mit den blonden Haaren. Die dritte Gestalt lässt sich nicht so einfach bestimmen. Helmut Börsch-Supan geht davon aus, dass es sich um Friedrichs Bruder Christian handelt, der dem Maler von seinen Brüdern am nächsten stand. Es gibt keine andere Figur im Werk Friedrichs, die so selbstbewusst und kühn dasteht, ausgenommen der Mann, der im Hamburger Wanderer über dem Nebelmeer den Gipfel eines Berges erstiegen hat.
Caspar David Friedrich: Wanderer über dem Nebelmeer (1818); Hamburg, Kunsthalle
Jens Christian Jensen benennt die beiden männlichen Figuren entgegengesetzt: Der Maler könne nur in der altdeutsch gekleideten Gestalt ganz recht gesehen werden; er sei über die Herzform der Bäume mit Caroline verbunden; außerdem habe er sich auf dem im selben Jahr 1818 entstandenen Bild Auf dem Segler ebenso dargestellt (siehe meinen Post Wellenfahrt ins Glück“). Der Mann in der Mitte müsse somit eine Person sein, die dazu beitrug, das Paar zusammenzuführen: entweder der ältere Bruder Carolines oder eben Friedrichs Bruder Christian. 
In einer klugen psychoanalytischen Deutung des Gemäldes spricht sich Gisela Greve wiederum dafür aus, in den beiden männlichen Gestalten ein doppeltes Selbstbildnis des Künstlers zu sehen. Sie vermutet, daß es sich hier um eine Spaltung handelt, bei der zwei divergente psychische Einstellungen auf die beiden Selbstdarstellungen des Malers verteilt sind“ (Greve 2006, S. 102). Friedrich verarbeite in in den Kreidefelsen auf Rügen seinen Schritt in die Ehe und seine Beziehung zu seiner jungen Frau: „Das Bild zeigt, daß sich sein Ich wohl nur partiell in ein Wir verwandelt hat“ (Greve 2006, S. 112). Der Mann in der Bildmitte ist durch eine gemeinsame Blickrichtung mit der Frau links verbunden; der stehende Mann rechts jedoch, souverän und gelassen in seiner Haltung, beachtet die Frau nicht; er ist in die Betrachtung des Meeres und des Himmels in seiner Unendlichkeit versunken. „Dieser Mann scheint eine Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Freiheit zu haben. Sein Blick zeigt, daß er dem Vordergrund des Bildes und einer engen Beziehung zu der jungen Frau entrückt ist“ (Greve 2006, S. 103). Sein fehlendes Realitätsinteresse werde daran erkennbar, so Greve, dass er mit seinen Füßen nicht fest auf dem Boden steht, sondern auf zwei Zweigen halb darüber zu schweben scheint.  
Die gezackten, scharfen Spitzen der Kreidefelsen werden in solcher Deutung als „schreckenerregende Realisierung eines feindseligen Objekts“ (Greve 2006, S. 115) verstanden; Friedrich könnte die Angst des stehenden Mannes vor der ihn einengenden, »bösen« jungen Frau als Projektion in die Kreidefelsenlandschaft eingeschrieben haben. Zahnmetaphern gelten in der Psychoanalyse wie auch in der Mythologie vieler Kulturen als klassisches Symbol der Angst des Mannes vor der Frau.
Caspar David Friedrich: Auf dem Segler (1818); St. Petersburg, Eremitage
Während sich die Frau an den Blumen erfreut, übt der Abgrund einen regelrechten Sog auf den Mann neben ihr aus. „Sie wendet sich dem Leben zu, wogegen er, von ihr abgerückt, sich den Tod vor Augen führt. Bei allem Hochgefühl, mit dem Friedrich den neuen Lebensabschnitt begann, wird er sich der Unterschiede zwischen sich und Caroline, nicht nur im Alter, sondern auch in ihren Grundhaltungen bewußt gewesen sein“ (Börsch-Supan 2008, S. 118). Zu dieser Deutung passt auch das kompositorisch zwischen den Felsen wie Sand in einer Sanduhr eingeschlossene Meer: Symbol der unerbittlich verrinnenden Lebenszeit. Alle Lebensfreude, so könnte die Aussage des Bildes lauten, ist der Vergänglichkeit unterworfen, ist vom Abgrund des Todes bedroht – auch das Eheglück.
Vermutlich schon früh entstandene Verse von Friedrich drücken aus, was Friedrichs Denken und künstlerisches Schaffen lebenslang geprägt hat:

„Warum, die Frag‘ ist oft zu mir ergangen,
  Wählst du zum Gegenstand der Malerei
  So oft den Tod, Vergänglichkeit und Grab?
  Um ewig einst zu leben,
  Muß man sich oft dem Tod ergeben.“ (Hinz 1968, S. 67)

Malen war für Friedrich religiöse Meditation, Besinnung auf das Wesentliche, Vergewisserung des eigenen Glaubens: ,,Ich meinesteils fordere von einem Kunstwerk Erhebung des Geistes und – wenn auch nicht allein und ausschließlich – religiösen Aufschwung“, schrieb der Künstler um 1830 (Hinz 1968, S. 112). Der Gewissheit des Todes steht bei ihm der Trost der christlichen Auferstehungshoffnung und Ewigkeitsverheißung gegenüber.
Friedrich hat die drei Reisenden als Rückenfiguren wiedergegeben – deswegen fühlt sich der Betrachter beinahe als vierte Person in die Darstellung einbezogen. Unser Blick folgt dem des Stehenden durch Bäume und Felsen hindurch nach draußen aufs offene Meer. Die beiden Segelschiffe, die in der ruhigen Weite des Meeres dahinziehen, sind, wie auf vielen anderen Gemälden Friedrichs, christlich zu verstehende Sinnbilder: Sterben bedeutet, aus dem irdischen Dasein in eine jenseitige, ersehnte Heimat aufzubrechen. Der Blick in den Abgrund und in die Weite richtet sich also auf die Zukunft – auf das, was uns erwartet und was Christen erhoffen.

Literaturhinweise
Börsch-Supan, Helmut: Zur Deutung der Kunst Caspar David Friedrichs. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 27 (1986), S. 199-224;
Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Gefühl als Gesetz. Deutscher Kunstverlag, München 2008;
Grave, Johannes: Eine »wahrhaft Kosegartensche Wirkung«? Caspar David Friedrichs Kreisefelsen auf Rügen. In: Pantheon 58 (2000), S. 138-149;
Greve, Gisela: »… seit sich das Ich in Wir verwandelt …« Kreidefelsen auf Rügen – Ein »Hochzeitsbild« von Caspar David Friedrich In: Gisela Greve (Hrsg.), Caspar David Friedrich. Deutungen im Dialog. edition diskord. Tübingen 2006, S. 95-119;
Hinz, Sigrid (Hrsg.): Caspar David Friedrich: Was die fühlende Seele sucht. Briefe und Bekenntnisse. Henschel Verlag, Berlin 1968;
Hofmann, Werner: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit. Verlag C.H. Beck, München 2000, S. 119-130; 
Jensen, Jens Christian: Caspar David Friedrich. Leben und Werk. DuMont Buchverlag, Köln 51980, S. 182-189; 
Möseneder, Karl: C.D. Friedrichs ›Kreidefelsen auf Rügen‹ und ein barockes Emblem in der romantischen Malerei. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 46 (1983), S. 313-320; 
Vignau-Wilberg, Peter: Caspar David Friedrichs ›Kreidefelsen auf Rügen‹. Notizen zur Landschaftmalerei der Romantik. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 31 (1980), S. 247-258.

(zuletzt bearbeitet am 6. Oktober 2024)