Samstag, 21. Dezember 2024

Das bunte Ende der Welt – Luca Signorellis Fresken in der Cappella Nova im Dom von Orvieto

Luca Signorellis gewaltiges Endzeitdrama in ihren verschiedenen Phasen und Schauplätzen

In den Jahren 1499 bis 1502 schuf der italienische Maler Luca Signorelli (1441–1523) in der Cappella Nova des Doms von Orvieto einen der beeindruckendsten Freskenzyklen der italienischen Renaissance. Niemals zuvor war eine so große Fläche in so kurzer Zeit von einem einzigen Meister bemalt worden. Signorelli hatte damit einen Rekord aufgestellt, der erst von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle übertroffen wurde. Dies gilt auch für die handwerkliche und künstlerische Qualität seiner Fresken. „Obwohl er hier – wie bei Aufträgen dieses Umfangs üblich – mit Sicherheit von Gehilfen unterstützt wurde, trägt die gesamte Ausmalung so sehr den Stempel seines markanten und zeichnerisch brillanten Stils, daß die Anteile der Werkstatt kaum auszumachen sind“ (Roettgen 1997, S. 388). Eine derart umfangreiche, in die verschiedenen Phasen und Schauplätze des biblischen Endzeitdramas zerlegte Darstellung hatte es in der Malerei zuvor nicht gegeben.

Der Dom von Orivieto – für sich schon ein Hingucker ersten Ranges

Die Cappella Nova wurde zwischen 1408 und 1444 am nordöstlichen Ende des Doms als Anbau über einem rechteckigen, fast quadratischen Grundriss errichtet. Der Besucher betritt den Kapellenraum durch ein Rundbogentor und sieht sich überaus prächtig geschmückten Wänden gegenüber. Über einer umlaufenden Sockelzone, die etwa die Hälfte der Wandfläche einnimmt und ornamentreiche Architektur in Malerei vortäuscht, blickt er auf die in das Gewölbe hineinragenden Lünetten mit den figurenreichen Malereien Signorellis. Die Bildfelder werden von den Mittelrippen der Gewölbe eingefasst, die zunächst vollplastisch und dann als illusionistisch gemalte Säulen fortgeführt werden. Weitere Malereien Signorellis überziehen die in jeweils vier Segmente unterteilten Gewölbe. Vom Eingang fällt der Blick zunächst auf die Südwand der Kapelle, wo sich über dem von zwei Rundbogenfenstern flankierten Hochaltar noch ein Spitzbogenfenster befindet. Während in der Hälfte der Kapelle, in der sich der Eingang befindet, die letzten Tage der Menschheit und die Auferstehung der Toten geschildert werden, stellte Signorelli im Altarbereich das Jüngste Gericht dar, über dem Christus als Weltenherrscher thront.

Luca Signorelli: Die Taten des Antichrist (für die Großansicht einfach anklicken)

Der Freskenzyklus beginnt mit den Taten des Antichrist auf der vorderen Hälfte der Ostwand. Der Antichrist ist dem biblischen Buch der Offenbarung zufolge der in der Endzeit als Zeichen für die Wiederkunft Christi und das Weltgericht auftretende Mensch, der als Werkzeug Satans durch Scheinwunder einen gewaltigen Glaubensabfall verursachen, aber von Christus vernichtet werden wird. Signorelli hat dieser Figur christusähnliche Züge verliehen, „die ihn als Parodie des Heilands erscheinen lassen und ihm eine eigentümlich diabolische Wirkung verleihen“ (Bokern 1999, S. 17). Auf den zweiten Blick erkennt man, dass sich unter seinen Haaren lange, spitze Ohren verbergen. Der Antichrist steht auf einem Sockel im Vordergrund, und Satan, der neben ihm steht, flüstert ihm die Predigt direkt ins Ohr. Die beiden Figuren verschmelzen miteinander, zumal Satan keinen Unterleib hat und sich kaum bestimmen lässt, ob der linke Arm dem Antichrist oder seinem Einflüsterer gehört. Um ihn herum hat sich seine Anhängerschaft versammelt, die wertvolle Gaben zu seinen Füßen abgelegt hat. Zur Linken des Antichrist erwürgt ein mit einer gestreiften Hose bekleideter Scherge einen Gegner des falschen Christus, während daneben ein Jude in kostbaren Gewändern einer Frau Geld aus seiner Börse überreicht. Die den Antichrist umgebenden Zuhörer setzen sich aus Menschen aller Schichten und Alter zusammen; es sollen aber auch zahlreiche historische Porträts unter den Zuschauern zu identifizieren sein.

Der Antichrist mit dem einflüsternden Satan

Ausgehend von der zentralen Szene, wird der Blick des Betrachters in einer Kreisbewegung nach rechts um das eigentümlich leere Zentrum des Freskos herum durch das Bild geleitet. Direkt hinter der Figur des Antichrist erblicken wir eine Gruppe glaubenstreuer Mönche, deren Anführer bereits gen Himmel auf das kommende Ende des falschen Christus durch das Schwert des Erzengels Michael hinweist. Rechts hinter den Mönchen ist die Ermordung zweier Widersacher des Antichrist von dem Tempel Salomos zu beobachten, bei denen es sich vermutlich um die biblischen Propheten Enoch und Elias handelt – jene zwei Zeugen aus der Johannes-Offenbarung, die der Überlieferung zufolge von den Anhängern des Antichrist erschlagen werden. Der Tempel Salomos, das traditionelle Sinnbild der Kirche, wird von mit Lanzen bewehrten Soldaten gestürmt. Von hier aus wird der Blick des Betrachters nach links gelenkt, wo eine der falschen Wundertaten des Antichrist zu sehen ist, der in Nachahmung Christi einen Toten zum Leben erweckt.

Die letzte dargestellte Episode schildert die Niederlage des Antichrist und der Armeen von Gog und Magog gegen den Erzengel Michael, der den falschen Propheten mit einem Schwert niederschlägt, als dieser versucht, die hochmütigste seiner Taten zu begehen, nämlich in den Himmel aufzufahren. Der in extremer Verkürzung dargestellte, von einer Strahlenaureole umhüllte Erzengel stürzt mit einem Hieb seines Schwertes den Frevler direkt in das Heer seiner grausamen Helfer hinab, die nun vom göttlichen Strafgericht ereilt werden. Als stiller Beobachter der Szenerie hat Signorelli unten links ein Selbstporträt eingefügt, ebenso das eines Dominikanermönches, bei dem es sich vermutlich um Fra Angelico (1395–1455) handelt. Fra Angelico war im Juni 1447 mit der Ausmalung des Gewölbes beauftragt worden und hatte den thronenden Christus als Weltenrichter geschaffen, der umgeben wird von Engelschören und Propheten. Nach 1449 waren dann keine Maler mehr in der Kapelle tätig, die Freskierung wurde dann erst wieder 1499 von Signorelli fortgesetzt.

Luca Signorelli: Das Ende der Welt (für die Großansicht einfach anklicken)

Der Zyklus setzt sich mit dem Ende der Welt fort, das zur Linken des Antichrist-Freskos um den Eingang der Kapelle herum angeordnet ist. Den Übergang vom vorhergehenden Fresko bilden die Figuren einer Sibylle, die in einem Buch mit ihren Prophezeiungen blättert, sowie eines predigenden Propheten, der auf das kommende Unheil weist, und einiger gebannter Zuhörer. Nach der Flut und dem Brand der Meere und Flüsse schwitzen Bäume und Pflanzen Blut, stürzen die Gebäude ein (der Tempel Salomos liegt nun in Ruinen), zerbrechen die Felsen. Dann bebt die Erde und tut sich auf, Berge stürzen ein, die Menschen fliehen aus ihren Unterschlüpfen, und die Erde spuckt die Toten aus.

Bevor das Weltgericht beginnt, fallen die Sterne vom Himmel, stirbt alles Lebendige, und Himmel und Erde brennen. Signorelli lässt diesen Schlussakt mit der Verdunkelung von Sonne und Mond beginnen und mit einem vom Himmel fallenden Blutregen. Besonders effektvoll sind die vier Feuerströme, die die geflügelten Dämonen Im linken oberen Bereich des Freskos auf die Menschenmenge herabspeien (Offenbarung 8,7). Die Menschen kommen aus ihren Verstecken hervor – die Ausweglosigkeit ihres Schicksals zeigt sich daran, dass sich überall das gleiche Verzweiflungsdrama abspielt. Am deutlichsten wird dies an der explosiven Dynamik der Figuren im Vordergrund, die, von dem längsten Feuerstrahl getroffen, zu Boden gestürzt sind und von den Fliehenden zertreten werden.

Luca Signorelli: Auferstehung der Toten (für die Großansicht einfach anklicken)

Die aus dem linken Bildrand flüchtenden Figuren leiten über zur Darstellung der Auferstehung der Toten, die sich direkt gegenüber der Taten des Antichrist befindet. Im oberen Teil dieses Freskos präsentieren sich dem Betrachter zwei große apokalyptische Engel, die auf Posaunen blasen, von denen Fahnen mit dem Kreuz der Auferstehung wehen. Es ist der Auftakt zur Auferstehung der Toten, die sich im unteren Teil des Freskos ereignet. Die Skelette erheben sich aus der Erde, wie es in einer Vision des alttestamentlichen Propheten Hesekiel vorhergesagt wird: „Des Herrn Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des Herrn und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. […] Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. […] Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer“ (Hesekiel 37,1-10; LUT). Die Körper sind in den verschiedenen Stadien ihrer Fleischwerdung dargestellt: Während manche bereits wieder wie lebendige Menschen aussehen, sind andere noch Skelette. Auf traditionellen Darstellungen der Auferstehung stiegen die Toten aus ihren geöffneten Gräbern und Särgen; Signorellis Auferstehende erheben sich dagegen aus einer glatten, harten Fläche und blicken voller Hoffnung gen Himmel zu den beiden von Putten begleiteten Engeln. Das Fresko vermittelt den Eindruck zeitloser Ruhe vor dem tosenden Chaos des Weltgerichts.

Fra Angelico: Christus der Weltenrichter (für die Großansicht einfach anklicken)

In der Gewölbekappe über dem Altar thront der von anbetenden Engeln umgebene Christus als Weltenrichter in einer aus Wolken gebildeten Mandorla. Seine Seitenwunde ist deutlich sichtbar, und in der Linken hält er die von einem Kreuz bekrönte blaue Himmelskugel, die ihn ebenso wie der Kreuznimbus als Herrscher über das All (Pantokrator) ausweist. Christus gegenüber erscheinen die. Die erhobene Rechte Christi mit dem Wundmal und sein Blick sind auf die Verdammten gerichtet, die zu seiner Linken von Teufeln zum Eingang der Hölle getrieben werden. Getrennt durch das Fenster, ist zur Rechten Christi (d. h. auf der linken Altarwand) die Berufung der Erwählten dargestellt. Diese auf der Altarwand vollzogene Scheidung zwischen Gut und Böse, Himmel und Hölle, findet ihre inhaltliche Ergänzung auf den jeweils anschließenden Bildfeldern der Seitenwände.

In den Kappen der Wölbung sind Gruppen von Propheten, Patriarchen, Aposteln, Märtyrern und Jungfrauen dargestellt, die den Weltenrichter umgeben. Sie werden in der Johannes-Offenbarung beschrieben und vertreten das Reich Gottes, was sich daran zeigt, dass diese Felder mit einem geschlossenen Goldgrund hinterlegt sind. Um ihre Identifizierung zu erleichtern, hat Signorelli sie mit lateinischen Inschriften versehen. Maria ist der Gewölbekappe zur Rechten Christi mit den zwölf Aposteln zugeordnet, die Petrus und Paulus als Beisitzer des Weltgerichts anführen, während Johannes der Täufer in dem noch von Fra Angelico gemalten gegenüberliegen Feld mit den 16 Propheten erscheint. Maria und Johannes verweisen durch ihre herausgehobene Position zu Seiten Christi auf das für das Jüngste Gericht entscheidende Motiv der Fürbitte. In der vierten Gewölbekappe dieses Joches sind zehn Engel mit den Arma Christi zu sehen, also den auf die Passion Christi verweisenden Leidenswerkzeuge. Die kompakte Darstellung der Figurengruppen ist eine bedeutsame ikonographische und formale Neuerung in der Kunst des 15. Jahrhunderts. Fra Angelico hat mit seinen Fresken den „Prototypus des Allerheiligenhimmels geschaffen, der insbesondere nach der Gegenreformation in der Ausmalung von Kuppeln barocker Kirchen zu einem dominierenden Thema wurde“ (Roettgen 1997, S. 390). In den Zwickeln der Gewölbekappen steht je eine Posaune blasender Engel – sie verweisen auf die Auferstehung der Toten aus ihren Gräbern. Signorelli hat sie auf der rechten Wand dann nochmals wiederholt.

Luca Signorelli: Eintritt der Seligen in den Himmel (für die Großansicht einfach anklicken)

Zu beiden Seiten Christi werden an den Wänden die Ereignisse geschildert, die dem Jüngsten Gericht folgen: An der Ostwand, zur rechten Jesu, zeigt Signorelli die Krönung der Auserwählten, auf der östlichen Hälfte der Altarwand den Eintritt der Seligen in den Himmel. Wie die Auferstehenden sind auch die die nahezu unbekleideten Seligen Auserwählten alle im idealen Alter von etwa dreißig Jahren dargestellt. Auffallende viel Menschenpaare stehen beieinander, die an Adam und Eva erinnern, jedoch anonym bleiben. Einige von ihnen werden von den Engeln gekrönt, musikalisch begleitet von einem auf Wolken thronenden Engelorchester mit Saiteninstrumenten. Auch auf dem schmalen Wandfeld der Altarwand werden die Erwählten von musizierenden Engeln empfangen. Überhaupt spielen Engel in diesem Freskenzyklus eine beherrschende Rolle. „Diese betonte Rolle der Engel entspricht der Offenbarung des Johannes, die als Grundlage der bildlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts anzusehen ist“ (Roettgen 1997, S. 392). Engel schützen und betreuen nicht nur die Auserwählten, sie überantworten auch die verdammten ihrem Schicksal. Nie zuvor sind sie jedoch in so martialischer Aufmachung dargestellt werden – ganz in Eisen gerüstet, erfüllen die Heerscharen des Weltenrichters ihre Aufgabe.

Luca Signorelli: Die Verdammten (für die Großansicht einfach anklicken)

Zur Linken Christi sind dagegen an der Seitenwand Die Verdammten zu sehen, die von Dämonen grausam gequält und ins Höllenfeuer geworfen werden, Drei im Himmel stehende Engel überwachen das höllische Chaos und halten sich mit ihren Schwertern zudringliche Teufel vom Leib. Zwei nackte Leiber stürzen von oben rücklings in das Flammenmeer des Höllenschlundes, der sich auf der linken Seite auftut, während ein anderer Teufel eine junge Frau auf seinem Rücken gefesselt hat und mit ihr durch die Luft fliegt. An der Altarwand findet der ebenfalls von zwei großen Engeln bewachte Eintritt der Verdammten in die Hölle statt, bei dem im Vordergrund ein Dämon einen Verdammten mit der Linken an den Haaren reißt und mit der Rechten auf ihn einschlägt.

Signorellis Teufel haben bis auf ihre grellen Farben und ihre wilden Gesichter ein geradezu menschliches Aussehen, wodurch sie zwar den Schrecken des Dämonischen und Phantastischen verlieren, aber umso unheimlicher wirken. Das Neuartige an diesen Höllenwesen ist ihre körperliche Vollkommenheit: „Satan und seine Diener treten als faszinierende Verführer auf, die noch eine Ahnung davon vermitteln, daß sie einst Engel waren“ (Roettgen 1997, S. 393). Ebenso wohlgestaltet sind ihre Opfer: Ihre wohlproportionierten und muskulösen Körper weisen keinerlei Anzeichen der ihnen angetanen Qualen auf. Lediglich ihr Gesichtsausdruck gibt eine Vorstellung von ihren körperlichen Leiden. Der Boden, auf dem die Menschen stehen, ist im Höllenbild in starker Aufsicht wiedergegeben, die eine Staffelung der dicht gedrängten Figurengruppen bis in den Mittelgrund ermöglicht. Die riesigen, frei in der Luft stehenden Engel erscheinen frontalansichtig, die herabstürzenden Teufel und Menschen dagegen in starker Untersicht.

Signorelli übernimmt Motive aus Dantes Divina Commedia

Im Zentrum des Eintritts in die Hölle ist der Fährmann Charon dargestellt, der im Inferno von Dantes Divina Commedia die Schatten der Toten über den Fluss in die Unterwelt geleitet. Bei der Gruppe der Verzweifelten auf dem rechten Ufer des Flusses handelt es sich um die Niederträchtigen, die dazu verdammt sind, ewig umherzuirren und die noch nicht einmal in der Hölle Aufnahme finden. Den Vordergrund nimmt eine höchst dramatische Szene ein, in der ein Teufel einen wehrlos auf dem Boden liegenden Mann massakriert. Hinter ihm erkennt man den Grimassen schneidenden Minos, nach Dante der Wächter des Höllentores und Richter der Sünder, an dem mehrfach um seinen Leib gewundenen Schwanz. Szenen aus der Divina Commedia in die christliche Ikonografie des Jüngsten Gerichts einzubeziehen, ist eine der erstaunlichsten Neuerungen, die Signorelli seinen Fresken hinzufügte. An der östlichen Seiten- und an der Altarwand finden sich weitere elf Szenen aus Dantes Werk, nun in Grisaille-Malerei ausgeführt. Sie illustrieren das Purgatorio, Dantes Fegefeuer, das die Vorstufe zum Himmelreich und damit einen Ort des Übergangs zwischen Leben und Tod bildet.

In der Sockelzone der Kapelle hat Signorelli sechs Dichter porträtiert, darunter auch Dante, der hier als einziger neuzeitlicher Autor zwischen antiken Poeten erscheint. Beinahe alle Dichter sitzen an schreibpultartigen Fenstersimsen und sind von Büchern umgeben; ihre Bildnisse werden von Grotesken, aber auch von Grisaille-Szenen umfangen, die Werke des jeweiligen Autors verbildlichen. Die Identifikation der einzelnen Dichterporträts ist allerdings äußerst umstritten.

Luca Signorelli: Dante

Die Fresken an den Seitenwänden des Eingangsbereichs sind, beginnend mit den Taten des Antichrist, in ihrer historisch-dramatischen Abfolge horizontal im Uhrzeigersinn zu betrachten. Mit dem Ende der Geschichte endet auch die Chronologie der Fresken: Im Altarbereich der Kapelle, dessen Szenarien im Gegensatz zur irdischen Umgebung nun in eine himmlische Sphäre versetzt sind, gibt es keine zeitliche Ordnung, das Zentrum ist Christus. „Es entsteht so ein Kontrast zwischen Welt und Geschichte gegenüber Jenseits und Ewigkeit“ (Bokern 1999, S. 20). Die auf den Fresken gezeigten Szenen sollen als simultan ablaufende Ereignisse des Weltgerichtsdramas betrachtet werden. Daraus erklärt sich der ähnliche kompositionelle Aufbau der beiden einander gegenüberstehenden Bildfelder mit den Freuden der Erwählten und den Qualen der Verdammten: Der Harmonie des Paradieses steht das Chaos der Hölle gegenüber, jeweils überfangen von dem himmlischen Aktionsfeld der Engel, formal verbunden durch die parallele Anordnung der gedrängten Masse nackter Leiber.

Signorelli hat unterschiedliche Goldgründe verwendet, um zwischen den verschiedenen Realitätsebenen zu differenzieren: Das Gewölbe und die Gerichtswand sowie die Szene mit den Erwählten haben einen einheitlichen Goldgrund. In der Szene mit der Auferstehung der Toten stehen die riesigen, Posaune blasenden Engel vor einem „gepunzten“ Goldgrund, während die untere Zone ebenso wie die Szene mit dem Antichrist und des Weltuntergangs von einem weißgrundigen Wolkenhimmel hinterfangen wird. „Der bleierne Himmel, der über den Taten des Antichrist liegt, ist ein Attribut des Irdischen, desgleichen die Gebäude und die Landschaft, die den Mittel- und Hintergrund dieser Szene und des Weltendes auf der Eingangswand einnehmen“ (Roettgen 1997, S. 391). Während also die Szenen mit Goldgrund letztlich eine Vision vor Augen stellen, ist hier ein Ausblick in die diesseitige Welt gemeint.

Ein wichtiger Ausgangspunkt für den Zuschnitt der Fresken in der Cappella Nova dürfte die Wandgliederung der Sixtinischen Kapelle gewesen sein, an deren Ausmalung Signorelli mitgearbeitet hatte. Die enorme Höhe der Kapelle – mit 13,90 Metern bleibt sie nur wenig unter der Sixtina – hat Signorelli dadurch bewältigt, dass er der Sockelzone eine sonst nicht übliche Höhe und Gestaltung gab. Indem er außerdem die Lünetten über die Konsolen der Gewölbedienste hinaus nach unten zog, wurden aus den Bogenfüllungen großflächige Wandfelder. Die Gliederung des Raumes in zwei Joche setzt sich in der Wandgliederung fort, indem die Gewölbekonsolen auf gemalte Kleeblattpfeiler gestellt sind, die bis zur Fußleiste der Bildfelder bzw. bis zur Oberkante des gemalten Gesimses reichen. Es trennt die beiden Bildregister voneinander und schafft einen horizontalen Ausgleich zur Höhe des Raumes. Die seitlichen Rahmungen der Bildfelder sind wie Fensterlaibungen in perspektivischer Untersicht gegeben, wobei die fiktiven Öffnungen so gestaltet sind, dass sie sich hinter den real vorhandenen Gewölberippen zu befinden scheinen. Somit ergibt sich zwischen den Bogenöffnungen und der vordersten Bildebene eine Bühne, auf der einige Figuren besonders weit in den Vordergrund rücken. Der Boden, auf dem die Figuren stehen bzw. liegen, reicht teilweise bis an die vorderste Kante des Gesimses heran, das die Sockelzone abschließt. Signorelli stellt hier seine meisterhafte Beherrschung der Perspektivmalerei unter Beweis.

Michael Wolgemut Predigt des Antichrist (1493); Holzschnitt
Michelangelo übernimmt in seinem Jüngsten Gericht die Figuren Charon und Minos von Signorelli

Die Thematik des Antichrist war im 15. Jahrhundert sehr populär und wurde insbesondere in der Druckgrafik des Nordens häufig dargestellt. Als mögliches Vorbild für Signorelli Fresko wurde mehrfach auf den Holzschnitt von Michael Wolgemut (1434–1519) hingewiesen, der in der sehr verbreiteten Weltchronik von Hartmann Schedel enthalten ist. Michelangelo wiederum fand bei Signorelli Anregungen für sein Jüngstes Gericht in der Sixtina: So hat er etwa das Motiv der helfenden Hände für die aufsteigenden Erlösten übernommen, die auferstehenden Skelette, den Verdammten als Rückenlast des Teufels und schließlich auch den konzeptionellen Gedanken, die biblische Hölle mit Elementen aus Dantes Inferno auszustatten, wie etwa den Charonnachen und den Höllenwächter Minos.

 

Literaturhinweise

Bokern, Anneke: »Nun wird keine Zeit mehr sein«. Luca Signorellis Fresken in Orvieto, der Millenniarismus und das Jahr 1500. In: Anneke Bokern/Petra Gördüren, Die letzten Dinge. Jahrhundertwende und Jahrhundertende in der Bildenden Kunst um 1500 und 2000. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1999, S. 15-49;

Roettgen, Steffi: Wandmalerei der Frührenaissance in Italien. Band II: Die Blütezeit 1470–1510. Hirmer Verlag, München 1997, S. 384-421;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Dienstag, 17. Dezember 2024

Ganz Erbarmen und Vergebung – Rembrandts Radierung von der „Heimkehr des verlorenen Sohnes“ (1636)

Rembrandt: Heimkehr des verlorenen Sohnes (1636); Radierung
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Wie viele Künstler vor und nach ihm hat auch Rembrandt (1606–1669) das berühmte biblische Gleichnis (Lukas 15,11-32) bildlich umgesetzt. In einer bewegenden Radierung von 1636 illustriert er die Textstelle, an der es heißt: „Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn“ (Lukas 15,20; LUT). Doch anders als in der neutestamentlichen Erzählung ist der Sohn jedoch bereits an der Türschwelle des Elternhauses angelangt, als der Vater ihn empfängt. Die große Spannbreite seines Schrittes zeigt, wie eilig er es hatte, seinem Sohn entgegenzulaufen. „Die Art, wie er sich über seinen Sohn beugt und ihn umarmt, drückt aus, dass er ihn am liebsten daran gehindert hätte, auf die Knie zu fallen, und ihn möglichst schnell wieder aufrichten will“ (Kreutzer 2003, S. 126).

Dirck Volckertsz. Coornhert nach Maarten van Heemskerck:
Rückkehr des verlorenen Sohnes (um 1548); Kupferstich

Rembrandt hat sich bei seiner Radierung eng an einen älteren Kupferstich von Dirck Volckertsz. Coornhert nach Maarten van Heemskerck aus der Zeit um 1548 angelehnt – in der Hauptgruppe, im Szenarium und selbst in den Nebenepisoden, die das noch folgende, zur Feier der Heimkehr ausgerichtete Mahl und die Klage des älteren Bruders andeuten. In der Vorlage sieht man den bärtigen Vater an der Pforte seines Hauses die Treppen hinabeilen, um den als reuigen Sünder heimgekehrten Sohn, der vor ihm niederkniet, zu sich emporzuheben. Hinter ihnen stehen im Hauseingang drei Gestalten, darunter ein Bärtiger, der auf einen nur ausschnitthaft sichtbaren bartlosen Mann weist. Wahrscheinlich ist damit der ältere Sohn gemeint, der sich bei seinem Vater beklagen wird, dass um den Zurückgekehrten so viel Aufhebens gemacht werde, während er treu gedient und geschuftet habe, leer ausgehe. Am linken Bildrand erkennt man unter einem Torbogen in der Ferne das Mastkalb, das für das Fest geschlachtet werden soll.

Rembrandt übernimmt zwar viele Elemente der Komposition, verändert aber den Raumausschnitt, vor allem aber gestaltet er das Wiedersehen deutlich emotionaler: Der verwahrloste, völlig zerknirschte Sohn hat die Arme, inbrünstig um Verzeihung bittend, erhoben, der Vater, ganz Erbarmen und Vergebung, hat ihn bereits in die Arme geschlossen. Die beiden bilden eine geschlossene Gruppe; sie sind formal in ein gleichmäßiges Dreieck eingeschrieben und werden von einer dicken Mauer hinterfangen. Doch sind die beiden Gestalten nicht statisch dargestellt, sondern inmitten eines Bewegungsablaufs: Der Sohn, dessen von Hunger ausgezehrten Körper Rembrandt realistisch wiedergibt, ist auf den Treppenstufen auf die Knie gefallen, während der Vater sogleich zu ihm hineilt, ihn mit der Rechten umarmt und ihn mit seiner Linken wieder aufrichten will. Der Fokus von Rembrandts Grafik liegt ganz auf den Gesichtern der beiden Hauptpersonen.

Eine Magd hat das Fenster geöffnet, um das Geschehen vor dem Hauseingang zu verfolgen Zwei Knechte eilen im Inneren eine Treppe herab: Auf Geheiß des Vaters tragen sie – anders als bei van Heemskerck – Ring, Schuhe und Gewand für den barfüßigen Sohn herbei, der bis auf ein umgebundenes Tuch gänzlich nackt ist. Das Motiv des weit ausschreitenden Vaters, dessen erhobener Fuß in den Pantoffeln sichtbar wird, hat Rembrandt wiederum der Vorlage von van Heemskerck entlehnt.

Der Augenpunkt der Betrachtenden befindet sich, bedingt durch die Treppenkonstruktion, unterhalb der Szene, der wir direkt gegenüberstehen. Der Wanderstab, den der Sohn neben sich abgelegt hat, verweist darauf, dass er aus der weiten Welt zurückgekehrt ist, und zwar nicht nur auf einer Symbolebene, sondern auch bildlich, da er nach hinten über den Knienden hinausragt und den Blick auf die tiefer liegende Landschaft lenkt, die durch den Torbogen im linken Bilddrittel sichtbar wird. „Daß die Landschaft in Rembrandts Radierung so tief liegt, dürfte ein Hinweis darauf sein, daß der Sohn in dieser weiten Welt auf dem Tiefpunkt seines Lebens angelangt war: Als Schweinehirt – auch als solchen zeichnet der Stab ihn aus – mußte er fremden Herren dienen“ (Stückelberger 1996, S. 130).

Auch das Kleingedruckte hat Gewicht bei Rembrandt

Der Ausblick in die hügelige Landschaft links ist nur skizzenhaft angedeutet, wodurch Rembrandt den Effekt grellen Sonnenscheins erzielt. In dieser Landschaft finden wir gleichzeitig einen Hinweis auf den Fortgang der Geschichte, und zwar in dem Hirten, der die Rinder hütet. Auch er ist nicht bloß Staffage – die Figur muss mit dem Geschehen zu tun haben, denn Rembrandt setzt sie mit dem heimkehrenden Sohn bildlich in Beziehung: Der kurze Schatten, den dessen Wanderstab auf die Treppe wirft, weist zusammen mit der Plattenfuge, die ihn nach rückwärts verlängert, genau auf den Hirten. Nun muss man allerdings die Geschichte kennen, um diesen als den Bruder zu identifizieren, der – vom Feld zurückgekehrt – das Verhalten des Vaters missbilligen wird. „Das Bild sagt uns aber doch soviel, daß die Rückkehr des verlorenen Sohnes einen Schatten wirft, der mit jenem Hirten zusammenhängt“ (Stückelberger 1996, S. 130). Der ältere Bruder ist eine entscheidende Figur innerhalb des Gleichnisses, denn seine Reaktion zeigt, dass die Barmherzigkeit des Vaters – mit dem ohne Zweifel Gott gemeint ist –, der den Sünder ohne Vorhaltungen und freudig wieder aufnimmt, für den Menschen unbegreiflich sein muss. „Denn Gottes Gnade, so verdeutlicht das Gleichnis, ist unverhältnismäßig. Sie verhält sich weder proportional zu den Taten der Menschen noch lässt sie sich erzwingen“ (Müller 2017, S. 194).

Eine Signatur als Statement

Genau über dem Knauf des Wanderstabs und fast mittig unter dem Figurenpaar von Vater und Sohn hat Rembrandt sein „Rembrandt f. 1636“ angebracht. „Die Signatur an einer derartig zentralen Stelle im Bild unterstreicht vielleicht die Bedeutung des Themas für Rembrandt, die mit einer Sympathie für die aus der Gesellschaft Ausgestoßenen einherging und als die die Bettler, die Rembrandt in Figurenstudien häufig abbildete, ebenfalls zu interpretieren sind“ (Kreutzer 2003, S. 126).

Rembrandt: Kreuzigung (1635); Radierung
Rembrandt: Enthauptung Johannes des TÄufers (1640); Radierung

Die Gestalt des büßenden Sohnes kommt als Typus eines männlichen Aktes, an dessen Körper Strapazen und Entbehrungen sichtbar sind, begegnet in Rembrandts gesamter Schaffenszeit. So stellen z. B. der Christus in der Kreuzigung von 1635 oder die Enthauptung Johannes des Täufers von 1640 den gleichen Figurentyp dar.

Rembrandt: Heimkehr des verlorenen Sohnes (um 1666/69); St. Petersburg, Eremitage

Wenige Jahre vor seinem Tod hat Rembrandt das Gleichnis vom verlorenen Sohn nochmals in einem großformatigen Gemälde umgesetzt – es ist das berühmte Bild aus der Eremitage in St. Petersburg. Rembrandt hat ein Hochformat gewählt, und Vertikale bestimmen auch die Bildstruktur. Die steile Gruppe von Vater und Sohn wird von einer dunklen Toröffnung hinterfangen und durch den Torbogen bekrönt. Aus dem Eingang des Hauses lugen Frauenköpfe hervor, die aber ganz in Dämmerlicht gehüllt sind. Die Arme des Vaters bilden eine Rautenform, die den Kopf des reuigen Sünders wie einen Schutzwall umschließt. Die Szene der Umarmung hat aber noch mehr Augenzeugen: Neben einem im Halbdunkel Sitzenden ragt die Gestalt eines bärtigen Mannes in die Höhe, dessen Antlitz hell beleuchtet ist. Es kann wohl nur der ältere Bruder gemeint sein.

 

Literaturhinweise

Kreutzer, Maria: Rembrandt und die Bibel. Radierungen, Zeichnungen, Kommentare. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2003, S. 126;

Müller, Jürgen: Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (1636). In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 194;

Sevcik, Anja K. (Hrsg.): Inside Rembrandt 1606 – 1669. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2019, S. 269;

Stückelberger, Johannes: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. Wilhelm Fink Verlag, München 1996.

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.


Mittwoch, 4. Dezember 2024

Auf kleinem Format groß rauskommen – Albrecht Dürer porträtiert Elsbeth Tucher


Albrecht Dürer: Bildnis der Elsbeth Tucher (1499); Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister
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Elsbeth Tucher gehörte im ausgehenden 15. Jahrhundert zu einer der mächtigsten und angesehensten Familien Nürnbergs. Dass Albrecht Dürer (1471–1528) mehrere Mitglieder dieses wohlhabenden Patriziergeschlechts porträtierte, belegt den künstlerischen Ruf, den er sich damals in seiner Heimatstadt bereits erworben hatte. Sein Bildnis der Elsbeth Tucher gehört zu den bekanntesten Porträts der deutschen Renaissance – denn von 1961 bis 1992 zierte ihr Kopf den 20-DM-Schein der Bundesrepublik Deutschland. Die grafische Version gibt Dürers malerische Vorlage recht originalgetreu wieder; künstlerische Freiheiten erlaubte sich der Grafiker allein in dem beidseitig über die Schultern herabfallenden Tuch und der plastischen Stickerei des Haubenornaments.

Weder der Name des Künstlers noch der der Porträtierten wurde auf der Banknote erwähnt

Dürer konzentriert sein Porträt der Elsbeth Tucher in einem engen Bildausschnitt auf Kopf und Büste, die rechts von einem Brokatvorhang mit Granatapfelmuster und links von einem Landschaftsausblick hinterfangen werden. Die Räumlichkeit ist wenig definiert: Wo in vergleichbaren Bildkompositionen ein Wandvorsprung oder eine Steinkante den Übergang zwischen einer Fensteröffnung und einer stoffbespannten Fläche im Innenraum anzeigen, bricht das Textilmuster des Kasseler Porträts abrupt ab. „Es bleibt somit ungewiss, ob es sich hierbei um eine textilverhüllte Wand oder eine herabhängende, womöglich einen Teil der Fensteröffnung verhüllende Stoffbahn handelt (Carrasco 2018, S. 35).

Trotz des relativ kleinen Bildformats (29 x 23 cm) entwickelt Elsbeth eine fast monumentale Präsenz: „Über dem sockelartigen Dreieck aus Hals und herabfallenden Schultern erhebt sich der durch die mächtige Haube groß wirkende Kopf geradezu statuarisch und nimmt, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehend, ein Drittel des Bildes ein“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 86). Da eine grenzstiftende Brüstung fehlt, wirkt die Figur unmittelbar an den Betrachter herangerückt. Das schmal zulaufende Gesicht, das von einem energischen, knochig hervortretenden Kinn mit Grübchen abgeschlossen wird, und die ausgeprägten, hohen Wangenknochen „legen in ihrer Eigenart ebenso wie der lange, schmale Hals und die stark abfallenden Schultern eine präzise Beobachtung und Erfassung des Modells durch den Künstler nahe“ (Carrasco 2018, S. 33). Den Namen der Dargestellten hat Dürer rechts oben auf dem Vorhang platziert: „ELSPET NICLAS TUCHERIN 26 ALT 1499“.

Gesicht und Blick sind nach links gerichtet. Die 26-jährige Elsbeth wendet sich nämlich ihrem Ehemann Nikolaus Tucher zu, der auf dem verschollenen linken Flügel des Ehepaar-Diptychons zu sehen war. Vom unteren Bildrand überschnitten, sind nur die Spitze ihres Daumens, des Mittel- und Ringfingers der rechten Hand sichtbar, die einen Goldring mit rot-schwarzen Steinen hochhalten. Vermutlich handelt es sich um den Trauring, der auf den Hochzeitstag verweist. Elsbeth trägt ein grünes Kleid mit Goldbordüre, darunter ein kostbares weißes Untergewand mit schlangenförmigen Stickereien, dem die Buchstaben „WW“ eingewebt sind.  Eine breite goldene Kordel oder Kette verschwindet an den Schultern unter dem Ziersaum des reich gefältelten Hemdes. Das Kleid wird von einer Goldbrosche mit den Buchstaben N und T gehalten, den Initialen ihres Mannes. „Das hierfür verwendete Blattgold reflektiert auf der technischen Ebene die Kostbarkeit des dargestellten Schmuckes“ (Carrasco 2018, S. 34).

Die Weiß in Weiß gewebte, mit ovalen Mustern versehene Haube hält ein goldenes Stirnband, das mit der bunten – bis heute nicht erklärbaren – Buchstabenreihe M H M N S K verziert ist. Es handelt sich sehr wahrscheinlich um eine abgekürzte Devise, also einen Wahlspruch des bzw. der Porträtierten. Devisen dieser Art geben dem heutigen Betrachter zumeist Rätsel auf, zu ihrer Zeit „müssen die Buchstabenfolgen jedoch verständlich gewesen sein: entweder als allgemein bekannte Aussprüche, die problemlos zu entschlüsseln waren, oder aber als persönliche Aussagen von privatem Charakter, die nur von einem exklusiven Rezipienten(kreis) verstanden werden konnten oder sollten(Carrasco 2018, S. 66).
Das dünne weiße Tuch von Elsbeths Haube, das weich in die Stirn fällt und über der Schulter liegt, umfasst das Haar in einem glatten, runden Gebilde. Wie es sich damals für eine verheiratete Frau gehört, ist es von der Haube vollends verdeckt. Es handelt sich um das traditionelle „Steuchlein“, bestehend aus der wulstartigen, rückseitig flachen und hier mit hellem Gitterornament verzierten Unterhaube, einer Zierborte, der sogenannten Pleide, und dem darüberliegenden Schleiertuch, das im Nacken gebunden ist und dessen langes Ende über die linke Schulter fällt. Über der Stirn hängt das zarte, fast transparente Gewebe leicht gekräuselt ins Gesicht, dessen kantige Formen es in wirkungsvollem Gegensatz einrahmt.  
Antlitz und Gewand wurden von Dürer in sorgfältiger Feinmalerei ausgeführt, der Brokatbehang und die Landschaft – der Fensterausschnitt zeigt ein bewaldetes Areal vor fernen Bergen und unter einem bewölkten Himmel – „wirken dagegen eher summarisch, sind stärker zeichnerisch belassen“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 86). Der Tiefenzug dieser Landschaft mit ihrer aufsteigenden Wald- und Bergkette (deren Diagonale eine Fortsetzung von Elsbeths rechter Schulterlinie bildet) zieht den Blick des Betrachters weiter nach links zum inzwischen verlorenen Bildpendant des Ehemannes.
Albrecht Dürer: Bildnis des Hans Tucher (1499); Weimar, Kunstsammlungen
Albrecht Dürer: Bildnis der Felicitas Tucher (1499); Weimar, Kunstsammlungen
Parallel zu dem Ehepaar-Doppelbildnis von Nikolaus und Elsbeth Tucher entstand 1499 ein weiteres, und zwar von seinem Bruder Hans Tucher und dessen Frau Felicitas, das sich heute in den Weimarer Kunstsammlungen befindet. Die beiden Diptychen sind kompositorisch eng aufeinander abgestimmt: Auch hier sind die Porträtierten als Brustbilder im Dreiviertelporträt und in sehr knappem Bildausschnitt dargestellt. Dürer zeigt uns ebenfalls nur einige Finger der rechten Hand, die eine Blume bzw. einen Ring halten, und wir sehen wiederum im Hintergrund einen Stoffbehang mit Granatapfel-Muster auf der einen und einen Landschaftsausblick hinter einer Steinbrüstung auf der anderen Seite. 
Die Nelke in den Fingern der Felicitas Tucher korrespondiert als Zeichen ehelicher Verbundenheit mit dem Treuering ihres Mannes, dessen Blick sie jedoch nicht erwidert – ihre Augen sind vielmehr auf den Betrachter gerichtet. In Kleidung und Schmuck gleicht Felicitas Erscheinung der ihrer jüngeren Schwägerin Elsbeth; sie unterscheidet sich jedoch von ihr in Details wie dem gestreiften Haubenornament, dem schwarz gemusterten Hemdsaum und der feingliedrigen Kette sowie den Initialen „H T“ des Heftleins. Analog zur Inschrift des Kasseler Bildnis sind auf den Oberkanten beider Tapisserien in goldener Frakturschrift Name und Alter der Dargestellten sowie das Bilddatum wiedergegeben.
Die Vorhänge auf diesen vier Bildnissen imitieren, so haben Vergleiche mit erhaltenen Textilien gezeigt, mit Goldfäden lancierte Stoffe oder Gewebe aus verschiedenartigen Seiden aus dem nördlichen Italien, wie sie in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hergestellt wurden. Da die Kaufmannsfamilie Tucher intensiven Handel mit Norditalien trieb, dürften die Stoffbehänge auf den Porträts „mit den Wünschen oder sogar Vorgaben der Auftraggeber zusammenhängen, da das Vorhangmotiv auf die Lebenspraxis bzw. den Beruf der Patrizierfamilie anspielt“ (Hirschfelder 2012, S. 111). Zu den Tucher-Brüdern und ihren Frauen hatte Albrecht Dürer sicherlich auch schon vor der Anfertigung dieser Bildnisse Kontakt, und zwar durch nachbarliche Nähe – wohnten sie doch am Nürnberger Milchmarkt, also unweit von Dürers Vatershaus in der Burgstraße. Die persönliche Bekanntschaft und Vertrautheit dürften die Vergabe dieser Porträtaufträge sicherlich begünstigt haben.
Dürer legte den erhaltenen Porträts in Kassel und Weimar einerseits ein einheitliches Bildschema zugrunde, individualisierte die Einzelbilder andererseits, indem er Motive, Details und den Grad der Ausführung modifizierte. Das Verhältnis aus Einheitlichkeit und Variation, das bereits das Weimarer Bildnispaar kennzeichnete, bestimmt somit ebenso die Beziehung der Diptychen zueinander.  „So vermag es hier zum einen der Individualität der Paare, zum anderen deren familiärer Zugehörigkeit visuellen Ausdruck verleihen(Carrasco 2018, S. 68). 
Wolfgang Beurer: Bildnisse eines Mannes und seiner Frau (um 1495/1500);
Frankfurt, Städel Museum
Dürer hat für die repräsentativen Tucher-Porträts auf einen Bildnistypus zurückgriffen, der bereits in den 1480er-Jahren von dem am Mittelrhein tätigen
Maler Wolfgang Beurer entwickelt worden war; der Nürnberger Künstler und Beurer waren sich wahrscheinlich persönlich bekannt. Beurers im Frankfurter Städel aufbewahrte Bildnis-Pendants (um 1495/1500) besitzen die gleiche kompositorische Bildanlage wie die Tucher-Porträts, verzichten wie diese auf eine vordere Brüstung und zeigen ebenfalls eine Tapisserie mit Granatapfelmuster. Dieses für die mittelalterliche Weberei typische Ornament erfreute sich seit dem 2. Drittel des 15. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Der Charakter des Stoffes als Luxus-Exportartikel illustrierte immer auch den Wohlstand der Porträtierten.
Michael Wolgemut: Bildnis Levinus Memminger (um 1485);
Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Auch auf das Porträt des Levinus Memminger von der Hand Michael Wolgemuts, Dürers Lehrmeister von 1486 bis 1490, ist in diesem Zusammenhang zu verweisen. Sowohl der knappe Bildausschnitt wie auch der Fensterausblick und das Brokattuch im Hintergrund könnten von diesem Vorbild angeregt sein, ebenso die Positionierung der Figur auf der Grenze zwischen Tapisserie und Landschaft. Gestalt und Dekor der Initialen des Heftleins, das Elsbeth und Felicitas Tucher tragen, lassen außerdem eine formale Ähnlichkeit mit den prominent platzierten Goldbuchstaben des Memminger-Porträts und deren floral-ornamentalen Einfassungen erkennen. Schließlich bildet auch die rätselhafte Buchstabenfolge eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Bildnissen von Lehrer und ehemaligem Schüler.
Die Ähnlichkeiten bzw. Übereinstimmungen zwischen Wolgemuts Bildnissen und Dürers Tucher-Porträts weisen die Werke des Älteren als maßgeblichen Einfluss für den jüngeren Künstler aus. Wolgemut hatte bereits 1478 bzw. 1481 die Bildnisse von Hans Tucher und Ursula Harsdörffer angefertigt, der Schwiegereltern Elsbeth Tuchers. Dürers Berufung auf denjenigen Künstler, der eine Generation zuvor bereits die Eltern seiner nunmehrigen Auftraggeber porträtiert hatte, lässt sich daher auch als Fortführung der Familientradition verstehen. Neben die individuelle Memoria, also dem persönlichen Andenken, rückt damit zugleich die Inszenierung von familiärer Identität und Zusammengehörigkeit, von Familiengedächtnis und dynastischer Kontinuität (Carrasco 2018, S. 76) in den Blick.
Eine Abweichung bildet jedoch der engere Brustausschnitt von Dürers Bildnissen, der die Büsten bereits unterhalb der Schultern beschneidet, während Wolgemuts Modelle als Halbfiguren mit sichtbaren Armen dargestellt sind. Durch die Verknappung des Ausschnitts rücken Dürers Figuren näher als bei Wolgemut an den Betrachter heran, dessen Aufmerksamkeit deswegen stärker auf das Gesicht und im Kasseler Bildnis auf dessen naturalistische Wiedergabe gelenkt wird. Durch die Prägnanz, mit der Dürer die Züge der von ihm Dargestellten erfasst, verschiebt sich die Wertigkeit des ursprünglichen Bildschemas; die Tucherin wirkt weit präsenter und beherrschender als die Gestalten der älteren Werke. Nicht zuletzt differenziert Dürer auch die Landschaft in einer neuartigen Weise, indem er sie einerseits mit weniger ablenkenden Details versieht und anderseits einen dramatischen Wolkenhimmel einführt, wie er dem stets blauen Äther des 15. Jahrhunderts noch fremd war“ (Kemperdick 2013, S. 98).
Albrecht Dürer: Selbstbildnis (1498); Madrid, Museo del Prado
Albrecht Dürer: Haller-Madonna (um 1498), Washington, National Gallery of Art
Das Motiv von Fenster und Landschaftsausblick in paralleler Anordnung hinter der Figur hatte Dürer bereits in seinem Madrider Selbstbildnis von 1498 (siehe meinen Post
Seht her, ich bin ein Künstler!“) erprobt. Dieses Schema kennzeichnet auch die Komposition der sogenannten Haller-Madonna: Mit dem Ehrentuch, das Maria dort hinterfängt wird die Kombination aus Fenster und Wandbehang als Hintergrund in Dürers Porträtmalerei eingeführt. 
Albrecht Dürer: Bildnis Oswolt Krel (1499); München, Alte Pinakothek
Albrecht Dürer: Selbstbildnis im Pelzrock (1500); München, Alte Pinakothek
Die zeitlich nachfolgenden Tucher-Bildnissen
zeigen eine solche Raumsituation wiederum  in reduzierter Form – die räumlichen Angaben beschränken sich lediglich auf eine rückwärtige Fensterbank – , die dann in dem großformatigen Porträt des Oswolt Krel nochmals variiert wird: Dargestellt ist die Halbfigur des Kaufmanns, dessen rechter Arm auf einer nicht sichtbaren Brüstung ruht, vor einem roten, offenbar textilen Fond, der die Gestalt von dem schmalen Landschaftsausblick links abschirmt. Durch den Wegfall der Fensterbank, die die Figuren der Tucher-Porträts in einem Innenraum lokalisiert, verschwimmen hier die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum in noch stärkerem Maß. „Diese Bildnisgruppe markiert den Schlusspunkt in der Auseinandersetzung mit dem Fenstermotiv in Dürers Porträtmalerei, die nach der Zäsur des außerordentlichen Selbstbildnisses von 1500 dauerhaft zum monchromen Grund zurückkehrt“ (Carrasco 2018, S. 54; siehe meinen Post Stolze Bescheidenheit).

Literaturhinweise

Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010;

Carrasco, Julia: Albrecht Dürers Bildnis der Elsbeth Tucher. Gedächtnis, Tradition und Identität im deutschen Porträt vor 1500. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2018;

Hirschfelder, Dagmar: Dürers frühe Privat- und Auftragsbildnisse zwischen Tradition und Innovation. In: Daniel Hess/Thomas Eser, Der frühe Dürer. Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2012, S. 101-116;
Kemperdick, Stephan: „Nach mir selbst kunterfeit“. Bildnisse und Selbstbildnisse. In: Jochen Sander (Hrsg.), Dürer. Kunst – Künstler – Kontext. Städel Museum, Frankfurt am Main 2013, S. 92-100;

Richter, Kerstin: Unverwechselbar. Zur Porträt-Tradition bis 1500 in Deutschland und den Niederlanden. In: Messling, Guido/Richter, Kerstin (Hrsg.), Cranach. Die Anfänge in Wien. Hirmer Verlag. München 2022, S. 35-43.

(zuletzt bearbeitet am 5. Dezember 2024)