Montag, 3. November 2025

Betörendes Kleinformat – Adam Elsheimers „Pietà“ und „Drei Marien am Grab Christi“

Adam Elsheimer: Pietà (um 1603); Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum
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Vor Kurzem konnte ich kurz hintereinander in zwei verschiedenen Museen zwei betörend schöne, wegen ihrer geringen Größe leicht zu übersehende Gemälde von Adam Elsheimer (1578–1610) bestaunen: Das eine befindet sich im Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum, das andere im Rheinischen Landesmuseum in Bonn. Bei dem Braunschweiger Bild handelt es sich um eine Pietà: Es zeigt Maria, die sich mit einer umarmenden Bewegung über ihren toten Sohn beugt. Sie hat den jugendlichen, fast zierlichen Körper gegen einen Felsblock gelehnt, stützt seinen Kopf mit der rechten Hand und trocknet mit ihrer Linken das Blut, das aus seiner Seitenwunde quillt. Hinter dem Kopf Christi, auf dem von der Dornenkrone herrührende Blutspuren zu sehen sind, kennzeichnen kleine Lichtstrahlen den Toten als Sohn Gottes. Am linken Bildrand liegen auf einem Stein die für die Hinrichtung verwendeten blutigen Nägel neben einem Glasgefäß mit Salböl und einem ebenfalls blutbenetzten Schwamm. Die Darstellung wird bekrönt von einer Gruppe schwebender Engel die – nach dem Vorbild Raffaels – als körperlose himmlische Wesen nur mit Kopf und Flügeln erscheinen. Auf der Felswand im Hintergrund sind Weinranken erkennbar, hinten links steht ein Feigenbaum, davor ein Holunderbusch und eine blühende Immergrünpflanze. Ein schmaler Bereich unterhalb der Engel, auf dem vielleicht ein von ihnen gehaltenes Tuch vorgesehen war, ist offenbar unvollendet geblieben.

Annibale Carracci: Pietà (1603); Wien, Kunsthistorisches Museum
Michelangelo: Pietà (1499/1500); Rom, St. Peter

Elsheimers Pietà erinnert in ihrer Form an verwandte Darstellungen von Annibale Carracci (1560–1609), in ihrer Stimmung aber auch an Michelangelos Skulptur in St. Peter von 1499/1500. Doch Elsheimer betont gegenüber diesen Werken noch stärker die innige Nähe von Mutter und Sohn und die Verletzlichkeit ihrer schmalen Körper. Stilistisch steht das kleinformatige, auf Kupfer gemalte Bild (21 x 16 cm) in enger Beziehung zu seinem Gemälde Drei Marien am Grab Christi aus dem Rheinischen Landesmuseum in Bonn. Beide Werke verbindet die Nahsicht, die die Figuren nur in Kniehöhe zeigt. Die minutiös wiedergegebenen Pflanzen und Ranken, die von der Felswand herabhängen, bilden bei beiden Werken einen nischenartigen Hintergrund. Außerdem ist ihnen eine intensive, auf Weiß, Blau und Rot gestimmte Farbigkeit gemeinsam. Ähnlich erscheint auch die mädchenhafte Gestalt der Mutter Jesu mit ihrem schmalen, von Trauer gezeichneten Gesicht.

Adam Elsheimer: Drei Marien am Grab Christi (um 1603); Bonn,
Rheinisches Landesmusum (für die Großansicht einfach anklicken)

Das Bonner Gemälde zeigt uns die drei Frauen, die nach dem Ende des Sabbats zum Grab Christi gingen, um seinen Leichnam zu salben. Ein Engel erwartete sie am leeren Grab und verkündete ihnen, dass Jesus von den Toten auferstanden sei (Matthäus 28,1-8; Markus 16,1-8; Lukas 24,1-11; Johannes 20,1-9). Auf Elsheimers Bild wendet sich der Engel den trauernden Frauen zu und stützt sich dabei auf die Deckplatte des Sarkophags, auf dem lateinische Zeilen aus dem Markus-Evangelium erkennbar sind, das damit wohl als Textgrundlage für die Darstellung zu betrachten ist. Im Hintergrund nähern sich Petrus und Johannes, die Maria Magdalena herbeigerufen hatte, ein Detail, das nur im Johannes-Evangelium erwähnt wird.

Caravaggio: Grablegung Christi (1603/04); Rom, Pinacoteca Vaticana

Die erschrocken erhobenen Arme der Trauernden erinnern an die gleiche deklamatorische Geste einer Figur aus Caravaggios Grablegung Christi (siehe meinen Post „Dies ist mein Leib“), die um 1602 entstanden ist und dem damals in Rom lebenden Elsheimer sicherlich bekannt gewesen ist. Mittelpunkt des 25,8 x 20 cm großen Bonner Gemäldes sind die beiden Gestalten im Vordergrund: links Maria Magdalena, die mit ausgestrecktem linkem Arm Auskunft über das leere Grab verlangt, und rechts der Engel, der sich zur Erklärung des Geschehens auf die Steinplatte mit dem Markus-Evangelium stützt. Die genaue Wiedergabe der auch vom Betrachter lesbaren Zeilen der Vulgata mit den Versen 1 bis 7 des 16. Kapitels ist für ein Bild dieser Zeit ungewöhnlich. Die Bäume und Pflanzen, die sich in der Grabeshöhle ausgebreitet haben, erinnern an die urtümlichen Landschaften des niederländischen Landschaftsmalers Paul Bril (1554–1626), der wie Elsheimer in Rom lebte und dem Deutschen persönlich nahestand. Bril war später Besitzer dieses Bildes.

Adam Elsheimer: Verherrlichung des Kreuzes (um 1604/05); Frankfurt,
Städel Museum (für die Großansicht einfach anklicken)

Zwei der Frauenfiguren aus den Drei Marien am Grab Christi hat Elsheimer dann etwa ein Jahr später in seinem Frankfurter Kreuzaltar wieder aufgenommen, und zwar in der Haupttafel der Verherrlichung des Kreuzes. Dort sind sie im Zentrum des Bildes platziert: Erneut ist Maria Magdalena mit dem gläsernem Salbgefäß abgebildet, und aus der zweiten Maria wiederum wird die hl. Katharina, erkennbar an dem Schwert in ihrer Rechten, ihrem Attribut.

 

Literaturhinweis

Klessmann, Rüdiger: Im Detail die Welt entdecken. Adam Elsheimer 1578–1610. Edition Minerva. Wolfratshausen 2006, S. 84-89.

 


Sonntag, 19. Oktober 2025

Rembrandt radiert das Dunkel – „Anbetung der Hirten“ (1657) und „Kreuzabnahme Christi“ (1654)

Rembrandt: Anbetung der Hirten (1657); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)

Rembrandts Nachtstücke gehören ohne Frage zu der beeindruckendsten Gruppe seiner zahlreichen Radierungen. Sie waren schon zu Lebzeiten des Künstlers bei Sammlern sehr gefragt. Gemeint sind nächtliche Szenen mit meist biblischen Motiven, die nur durch Lichtquellen wie Laternen, Fackeln oder Kerzen schwach erhellt werden. Rembrandt setzte bei diesen Grafiken die Kaltnadeltechnik ein, um einen tiefen, satten Schwarzton zu erzielen. Zwei dieser Arbeiten will ich hier näher vorstellen, weitere sollen folgen.

Auf der Anbetung der Hirten von 1657 sind die in einem nicht näher bestimmbaren Raum verteilten Personen nur schemenhaft zu erkennen. Allein eine Laterne im Bildzentrum spendet Licht. Da und dort beleuchtet sie eine Hand, lässt ein Gesicht oder den Kopf eines Tieres erkennen. Rembrandt gelingt es, durch die extreme Verdichtung der Schraffen überzeugend die nächtliche Atmosphäre eines abgeschlossenen Raumes wiederzugeben. Wir müssen als Betrachtende dicht an seine Radierung heranrücken, quasi zum Geschehen hinzutreten, um wenigstens einige Details ausmachen zu können.

Die entscheidende Szene wird jedoch nicht vom Schein der Laterne erfasst. Am rechten Bildrand erkennen wir zwischen Stoffen und Stroh den Kopf Mariens und das Antlitz des schlafenden Jesusknaben. Dies ist nur dank einer separaten Lichtquelle möglich, die sich außerhalb des Bildes befindet. Unmittelbar am Rand sitzt mit einem aufgeschlagenen Buch auch Joseph, der im verlorenen Profil gezeigt wird. Er nutzt das Licht aus dem jenseitigen Raum zur Lektüre und scheint kurz aufzublicken, um über die Schlafenden zu wachen.

Die Figuren auf der linken Bildhälfte, bei denen es sich um die herbeigeeilten Hirten aus dem Lukas-Evangelium handelt (2,16; LUT), haben sich andächtig dem ruhenden Paar zugewandt und versuchen trotz des undurchdringlichen Dunkels, einen Blick auf die friedvolle Szene zu erhaschen. Selbst das Vieh wendet sich der rechten Bildhälfte zu. Entgegen der Bildtradition zeigt Rembrandt jedoch nicht Ochs und Esel, sondern nur drei Rinder, deren mächtige Häupter vage im Dunkeln auszumachen sind. Der Anführer der Hirten mit der Laterne in der Hand lüftet ehrfürchtig seinen Hut.

Die beschienenen Köpfe zwischen Stroh und Decken lassen sich zwar als Frau und Kind identifizieren, doch kennzeichnet Rembrandt sie weder durch einen Heiligenschein noch durch ein inneres Leuchten. Die Mutter schirmt ihr Kind gegen die Kälte der Nacht und alle äußeren Einflüsse mit ihrem gesamten Körper ab, auch der Schein der Laterne schreckt den Knaben nicht aus seinem Schlaf. Allein das sanfte Licht von außerhalb beleuchtet das direkte Umfeld des Kindes und lässt es erst für uns sichtbar werden.

Gerrit van Honthorst: Anbetung der Hirten (1622), Greifswald, Pommersches Landesmuseum

Die Anbetung der Hirten als Nachtszene darzustellen war in den Niederlanden spätestens seit den Werken des Utrechter Caravaggisten Gerrit van Honthorst (1592–1656) gängig. Anders als bei seinen Zeitgenossen geht bei Rembrandt das Leuchten aber nicht vom Christuskind selbst aus, was der Szene ihre religiöse Überhöhung nimmt. „So steht nicht zuerst die theologische Aussage der Menschwerdung Gottes im Vordergrund, sondern das alltägliche Motiv einer von der Geburt erschöpften Mutter, die zufrieden über den Schlaf ihres Neugeborenen wacht“ (Kayser 2017, S. 152). In dieser Momentaufnahme ist das von allen angebetete Christuskind zuerst „wahrer Mensch“ und erst danach „wahrer Gott“.

Ein Nachtstück ist auch die 1654 entstandene Radierung der Kreuzabnahme Christi. Die einzige Lichtquelle bildet eine Fackel am linken Bildrand. Der Leichnam Christi ist mit Hilfe eines weißen Tuches gerade vom Kreuz herabgenommen worden und liegt in den Armen eines Helfers. Ein weiterer Helfer, der unterhalb des Erdhügels steht, streckt die Arme aus, um den Toten in Empfang zu nehmen. Im Vordergrund legt Joseph von Arimathäa das Leichentuch über eine Bahre, auf der Christus zu seinem Grab getragen werden soll.

Rembrandt: Kreuzabnahme Christi (1654); Radierung
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In bildlichen Darstellungen der Kreuzabnahme Christi wurde seit dem Mittelalter der anwesende Personenkreis vor allem um Maria und eine Gruppe von Trauernden erweitert. Gerade die Mariengruppe nimmt häufig einen wichtigen Platz im Bildgeschehen ein; auf Rembrandts Radierung aber ist sie in den Hintergrund gerückt und in der Dunkelheit kaum noch wahrzunehmen. Auch in einem anderen Punkt weicht Rembrandt von der Bildtradition ab: Das Kreuz bildet nicht mehr den Mittelpunkt der Komposition, sondern ist fragmentarisch an den linken Rand versetzt. Der seitwärts liegende Leichnam Christi erinnert in dieser Haltung an mittelalterliche Pietà-Szenen. Der Tote und die Helfer am Kreuz werden durch die horizontale Linie des Erdhügels und die vertikalen Linien des Kreuzstammes links sowie des Gebäudes im Hintergrund rechts isoliert und bilden beinahe eine eigene Darstellung innerhalb des Bildganzen; auch die helle Beleuchtung trägt dazu bei. „Man möchte bald meinen, daß die Personen hier in einem eigenen Kastenschrein agieren, was zur kontemplativen Betrachtung dieser Szene auffordert“ (Bevers 1991, S. 272).

Die untere Bildhälfte wird ganz von den Vorbereitungen zur Grablegung Christi eingenommen. Das Leichentuch ist nicht nur so hell beschienen wie der Körper Christi und das Tuch am Kreuz, sondern bildet kompositorisch eine deutliche Parallele zum Leichnam. Rembrandt zeigt uns nicht den Augenblick, in dem dieser in das Tuch gebettet wird, sondern die einzelnen Handlungsabläufe, die darauf hinführen. Die Handgriffe der Freunde erfolgen wie in stillem Einverständnis: Während ein Helfer, dem man die schwere Last anmerkt, den Leichnam in Händen trägt – es muss ja noch ein Nagel aus dem Fuß entfernt werden –, streckt ein anderer Begleiter schon die Hände aus, um den Leib entgegenzunehmen, und breitet Joseph von Arimathäa das Tuch aus. Dabei wird die vom Licht der Fackel beleuchtete, sich aus der Dunkelheit heraushebende einzelne Hand zum Sinnbild anteilnehmender Fürsorge, zum Emblem für den letzten Liebesdienst an dem Ermordeten.

 

Glossar

Bei der Kaltnadelradierung wird die Zeichnung unter Kraftaufwand mit einer in Holz gefassten Stahlnadel oder einer aus massivem Stahl bestehenden, etwas schwereren Radiernadel direkt in eingeritzt. Dabei bewirkt ein stärkerer Druck der Nadel auch eine stärkere Linie. Rembrandt kombinierte die Kaltnadel mit der Ätzradiertechnik und verbreiterte und verband auf diese Weise meisterhaft das Tonwertspektrum beider Drucktechniken.

Schraffen sind in der Kunst eine zeichnerische Technik, um durch parallele Linien Schattierungen oder Tonwerte zu erzeugen.

 

Literaturhinweise

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 272;

Kayser, Florian: Die Die Anbetung der Hirten (Nachtstück), um 1657. In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 152;

Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 266;

von Berswordt-Wallrabe, Kornelia (Hrsg.): Rembrandt fecit. 165 Rembrandt-Radierungen aus der Sammlung des Staatlichen Museums Schwerin. St. Gertrude GmbH, Hamburg 1995, S. 86.

 

Montag, 15. September 2025

Monet malt Paris

Claude Monet: Saint-Germain-lAuxerrois (1867); Berlin, Alte Nationalgalerie (für die Großansicht einfach anklicken)

Claude Monet (1840–1926), der heute bekannteste und wohl auch beliebteste der französischen Impressionisten, hat nicht nur zahllose Ölbilder von Gärten, Blumenwiesen, Parklandschaften, Flussufern und Meeresküsten gemalt, sondern auch rund zwei Dutzend Ansichten von Paris. Die ersten entstanden im Frühsommer 1867, im Jahr der zweiten großen Pariser Weltausstellung. Eine dieser frühen Ansichten der Pariser Innenstadt möchte ich hier vorstellen – sie zeigt von einem erhöhten Standpunkt den Blick auf die spätgotische Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois. Monet hatte hierfür seine Staffelei auf den Louvre-Kolonnaden aufgestellt, also auf der Ostseite des damaligen Herrschersitzes Napoleons III., wofür ihm eine Sondergenehmigung erteilt wurde.

Saint-Germain-lAuxerrois heute ...

Monet hat die Dachkonstruktion der Kirche genau beobachtet, ebenso die Fensterrosette auf der giebelgekrönten Westseite, die beiden Treppentürme, die Strebepfeiler und Fialen. Vom linken Bildrand abgeschnitten, für den Betrachter also nicht sichtbar, sind der unmittelbar anschließende, 1860 eingeweihte neugotische Turm und die ebenfalls neu errichtete Mairie des ersten Arrondissements, die die Fassade des Gotteshauses imitiert. Am rechten Bildrand ist eines jener großen Wohnhäuser abgebildet, die auch die neuen breiten Pariser Boulevards bis heute säumen. Möglicherweise hat der Künstler für seine Komposition auf eine fotografische Vorlage zurückgegriffen: Eine etwa zur gleichen Zeit entstandene Aufnahme, die neben der Kirche auch das neugotische Rathaus zeigt, stimmt nahezu mit dem Blickwinkel von Monets Gemälde überein. Daran ist nichts Ehrenrühriges, denn Monet wollte ja gerade diejenigen Effekte abbilden, die eine Schwarzweiß-Fotografie unmöglich erfassen konnte: die Farben von Himmel, Zinkdächern, Steinen, Straßenpflaster und Laubwerk, das facettenreiche Wechselspiel von weißem Licht und blauen Schatten „sowie die atmosphärische Umhüllung der Motive“ (Shackelford 2021, S. 53).

... und auf einer Fotografie aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
Auf Monets Bild herrscht ausgezeichnetes Wetter: Der Himmel ist wolkenlos, das strahlend helle Sonnenlicht fällt von Süden über die Dächer der angrenzenden Häuser so steil auf den Vorplatz der Kirche, dass die Gebäude, Bäume und Passanten nur kurze Schatten werfen. Das gleißende Licht lässt unter den Bäumen dunkle Zonen entstehen und verleiht selbst den verschatteten Gebäudepartien wie der Kirchenfassade noch eine gewisse Helligkeit. Auf der Straße im Vordergrund spazieren Personen in kleinen Grüppchen, am Fahrbahnrand warten einige Pferdedroschken. Im Schatten des Blätterdachs, das die untere Hälfte der Bildfläche als grün-gelb geflecktes, breites Band dominiert, haben sich größere Menschenansammlungen zusammengefunden. Auf detailgetreue Präzision in der Wiedergabe individueller Gestalten hat Monet ebenso verzichtet wie auf eine sie verbindende Handlung, ja die in stetiger Bewegung befindlichen Figuren unter den blühenden Kastanien sind beinahe nur fleckenhaft wiedergegeben.

Claude Monet: Quai du Louvre (1867); Den Haag, Gemeentemuseum
Claude Monet: Le Jardin de lInfante (1867);
Oberlin/Ohio, Allen Memorial Art Museum
Für zwei weitere Gemälde aus dem gleichen Entstehungszeitraum wechselte Monet seinen Standort – er zog von der Mitte der Ostkolonnaden zu einer weiter südlich gelegenen Stelle. Von dieser veränderten Position aus entstanden zwei exakt gleich große Bilder, die Monet als Quer- und Hochformat ausführte: Quai du Louvre und Le Jardin de l’Infante. In allen drei Gemälden beleben vorbeiströmende Passanten die städtische Szenerie. Sonnenschirm tragende Damen in Krinolinen, Dienst- oder Kindermädchen mit langen weißen Schürzen, Mütter und Väter mit ihren Kindern, Soldaten und Geschäftsleute sind zu Fuß unterwegs, während Omnibusse, Droschken und offene Kutschen über die Straßen dahineilen.

Edouard Manet: Musik im Tuileriengarten (1862); London, National Gallery
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Inspiration fürs seine Darstellungen könnte Monet durch seinen Malerkollegen Edouard Manet (1832–1883) gewonnen haben, z. B. aus dessen Bild Musik im Tuileriengarten (1862), das 1867 auf einer Einzelausstellung während der Pariser Weltausstellung zu sehen war. 1869 sandte Monet seine drei Paris-Ansichten zum jährlichen „Salon“ – sie wurden abgewiesen, woraufhin der Maler sie im Schaufenster eines Farbenhändlers in der Rue Lafayette der Öffentlichkeit präsentierte.

Claude Monet: Boulevard des Capucines (1873); Moskau, Puschkin-Museum

Erst 1873 schuf Monet erneut zwei größere Pariser Ansichten – nun aber im deutlich impressionistischen Malduktus. Monet richtete sich in den ehemaligen Räumlichkeiten des berühmten Fotografen Nadar (1820–1910) ein: Von 1860 bis 1872 befand sich dessen Atelier in den beiden obersten Geschossen eines Hauses am Boulevard des Capucines, einer kurz zuvor unter Baron Haussmann modernisierten Prachtstraße. Nachdem er dort ausgezogen war, vermietete Nadar die Räume an andere Nutzer. Das untere der beiden Stockwerke lag etwa so hoch wie die Kolonnaden, in denen Monet im Louvre gearbeitet hatte; in Nadars ehemaligem Atelier stellte der Maler seine Staffelei in der oberen Etage auf und hielt zwei Ansichten mit Blick nach Norden und Osten in Richtung der Place de l’Opera fest. Ebenso wie 1867 verwendete Monet zwei exakt gleich große Leinwände – ein Querformat, das heute im Moskauer Puschkin-Museum hängt, sowie ein Hochformat, das sich in Kansas City befindet.

Claude Monet: Boulevard des Capucines (1873);
Kansas City, Nelson-Atkins-Museum

In diesen eng verwandten Gemälden nahm Monet nicht die Weite des Himmels in den Blick, sondern die Häuserzeile auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Auf dem Querformat sind die Häuser in gelb schimmerndes Licht getaucht, während der Vordergrund im Schatten liegt; auf dem Hochformat ist das Licht hingegen gedämpft, sodass fast nirgends Schatten zu sehen sind und die Formen der Gebäude, Fuhrwerke und Passanten zu erkennen sind. Ebenso wie in Monets Gemälden von 1867 stimmen die Umrisse der Gebäude überein. Der Stil des Künstlers hatte sich seither allerdings so stark verändert, dass solche Einzelheiten auf der Bildfläche buchstäblich verschwimmen.

 

Literaturhinweise

Schuster, Klaus-Peter u.a. (Hrsg.): Manet bis van Gogh. Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne. Prestel-Verlag, München/New York 1996, S. 90-92;

Shackelford, George T.M.: Maler des modernen Lebens. Monets Stadtansichten In: Angelica Daneo u.a. (Hrsg.), Monet. Orte. Prestel Verlag, München 2021, S. 50-59;

Weiß, Susanne: Claude Monet. Ein distanzierter Blick auf Stadt und Land. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 31-46.


Sonntag, 14. September 2025

Rembrandt verbessert seinen Lehrmeister – „Bileam und die Eselin“ und „Die Taufe des Kämmerers“

Pieter Lastman: Bileam und die Eselin (1622); Jerusalem, The Israel Museum Collection
Weil die Niederlande im 17. Jahrhundert in Handel, Wissenschaft und Kunst eine außergewöhnliche Blüte erlebten, wird diese Epoche ihrer Geschichte als das „Goldene Zeitalter“ bezeichnet. In diesem Zeitabschnitt entstand eine schier unüberschaubare Zahl von Bildern mit alttestamentlichen Motiven, die – anders als im Mittelalter und in der Renaissance – von den Malern meist auf Vorrat für den Kunstmarkt geschaffen wurden. Als Begründer der holländischen Historienmalerei gelten die sogenannten „Prärembrandtisten“. Ihr wichtigster Vertreter war Pieter Lastman (1583–1633), der viele alttestamentliche Themen zum ersten Mal in der niederländischen Malerei darstellte. 

Besondere Bedeutung hat Lastman aber auch als Lehrmeister Rembrandts (1606–1669) erlangt. Rembrandt verbrachte 1624/25 einige Monate in dessen Amsterdamer Atelier. Da seine eigentliche Lehrzeit zu diesem Zeitpunkt bereits beendet war und er wenig später (1625/26) eine eigene Werkstatt in Leiden eröffnete, „kann man davon ausgehen, dass er, gegen ein Aufgeld an den berühmten Künstler Lastman, nur mehr eine Art Schliff erfahren wollte, auch um seinen zunächst nur schrittweise erfolgten Einstieg in den Markt mit der Historienmalerei chancenreicher zu verfolgen. Diese Gattung war zu jener Zeit noch wesentlich vielversprechender als etwa die Porträtmalerei (Sitt 2006, S. 72). Rembrandt studierte die Werke seines Lehrers eingehend, kopierte deren Kompositionen und Bildinhalte – und entwickelte sie weiter. Wie Rembrandt dabei vorging, soll das Beispiel von Bileam und der Eselin verdeutlichen, einer Geschichte aus 4. Mose 22,21-35.
Der Moabiterkönig Balak lässt den Propheten Bileam zu sich rufen – er soll die Israeliten verfluchen, die durch sein Gebiet ziehen. Auf seinem Weg zum König tritt Bileam ein Engel mit einem Schwert entgegen. Bileams Eselin bleibt daraufhin stehen, der Prophet jedoch, der den Engel nicht sieht, schlägt das Tier, damit es sich weiterbewegt. Lastmans Breitformat-Gemälde von 1622 (40,3 x 60,6 cm) zeigt den Moment, in dem der Engel Bileam zum dritten Mal den Weg versperrt, die Eselin auf die Knie fällt und zu reden beginnt: „Was hab ich dir getan, dass du mich nun dreimal geschlagen hast? (4. Mose 22, 28). 
Der Engel schwebt rechts im Vordergrund auf einer Wolke heran. Durch die Lichtführung wird deutlich unterschieden zwischen Hauptpersonen und Begleitfiguren: Im verschatteten Mittelgrund sind zwei Knechte dargestellt, während im wiederum helleren Hintergrund die Moabiterfürsten erscheinen, die Bileam holen sollten.
Rembrandt: Bileam und die Eselin (1626); Paris, Musée Cognac-Jay
Rembrandts Version der Szene von 1626 (65 x 47 cm) lehnt sich offenkundig an Lastman an – und weist doch entscheidende Veränderungen auf. Rembrandt reduziert das Ambiente und konzentriert die Darstellung ganz auf die Hauptfiguren, indem er die Moabiterfürsten nahe heranrückt. Vor allem aber tauscht er das Quer- gegen das Hochformat. Das gibt Rembrandt die Möglichkeit, den Schwert schwingenden Engel in die Lüfte zu erheben und ihn hinter Bileam anzuordnen. Seine eindrucksvollen Flügel wirken wie die eines Raubvogels. Durch die optische Verbindung von angezogenem Zügel, erhobenem Stock und drohender Gebärde mit dem Schwert gewinnt Rembrandts Bild eine weit größere Dynamik und Dramatik als Lastmans Gemälde. Auch die Eselin wird in dem veränderten Szenario mit mehr Gewicht versehen: Indem Rembrandt den Kopf des Tieres vor dem hellen Engelsgewand platziert,
„erhält der Aufschrei der Eselin ein monumentales Pathos“ (Pächt 2005, S. 33).
Und dann sind da noch Bileams Augen. Anders als Lastman hat Rembrandt die Augen des Propheten nämlich als dunkle Höhlen gemalt – nur nur um dessen rasende Wut auf die störrische Eselin anzuzeigen, sondern um so seine „geistige Blindheit“ auch optisch hervortreten zu lassen. Denn dies ist schließlich der Augenblick, bevor Gott Bileams Augen öffnet, sodass er den Engel des Herrn auf seinem Wege stehen sah mit einem bloßen Schwert in seiner Hand, und er neigte sich und fiel nieder auf sein Angesicht“ (4. Mose 22,31).
Das großblättrige Pflanzenarrangement auf Rembrandts Gemälde in der rechten vorderen Bildecke ist übrigens ebenfalls ein Lastman-Zitat – es findet sich u.a. auf dessen Gemälde Die Verstoßung der Hagar von 1612 (Hamburger Kunsthalle).
Pieter Lastman: Die Verstoßung der Hagar (1612); Hamburg, Kunsthalle
Jürgen Müller hat herausgearbeitet, dass Rembrandt für die Gestalt des Bileam auf die berühmte antike Skulptur des Laokoon (siehe meinen Post
Das ultimative antike Meisterwerk“) zurückgreift und dabei auch einen Sinnzusammenhang herstellt: Wie schon der Priester Laokoon von einer göttlichen Macht bestraft wurde, so ergeht es auch Bileam“ (Müller 2007, S. 130).
Laokoon-Gruppe (aufgefunden 1506); Rom, Vatikanische Museen
Pieter Lastman: Die Täufe des Kämmerers (1608); Berlin, Gemäldegalerie
Rembrandt hat noch eine weitere biblische Historie von Lastman einer Revision unterworfen, und zwar Die Taufe des Kämmerers, die eine Begebenheit aus der Apostelgeschichte schildert (8,26-40). Lastman hat insgesamt vier unterschiedliche Versionen dieses Themas angefertigt. Rembrandts Fassung ist wie sein Bileam 1626 entstanden. Aus Lastmans Pariser Gemälde entlehnt sie die Platzierung der Hauptgruppe, bestehend aus dem Apostel Philippus, dem knienden Kämmerer und dem hinter ihm stehenden Bedienten mit Buch. Die Haltung des Kämmerers wiederum übernahm Rembrandt aus Lastmans Münchner Bild und die des stehenden Dieners mit dem aufgeschlagenen Buch aus der Version in Karlsruhe. Aus dem Bild in Karlsruhe stammen noch weitere Motive, so etwa der bespannte Wagen mit den großen Rädern im Hintergrund oder den Kutscher mit der Peitsche. Eine Infrarotaufnahme zeigt zudem, dass Rembrandt von dort zunächst auch die Baumgruppe hinter der Kutsche, die er später zu einer Palme umarbeitete, und den Sonnenschirm übernommen hatte. Ein Hund, wie er auf allen Fassungen Lastmans zu finden ist, taucht auch bei Rembrandt trinkend links im Vordergrund auf.

Pieter Lastman: Die Taufe des Kämmerers (um 1612); Paris, Collection Frits Lugt
Rembrandt: Die Taufe des Kämmerers (1626); Utrecht, Catharijneconvent
Pieter Lastman: Die Taufe des Kämmerers (1620); München, Alte Pinakothek
Pieter Lastman: Die Taufe des Kämmerers (1623); Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
Wie schon bei seinem Bileam entscheidet Rembrandt sich auch bei dieser
Umarbeitung für eine dynamische, leicht spiralförmige Komposition, statt die Figuren wie Lastman friesartig anzuordnen. Erneut konzentriert sich Rembrandt viel stärker als Lastman auf das eigentliche Geschehen. Dazu rückt er die zentrale Gruppe nach vorne, drängt die Landschaft buchstäblich in den Hintergrund, beschränkt die Zahl der Nebenfiguren und platziert die Personen um die vertikale Mittelachse, die durch den Kämmerer betont wird.
Im Zuge der Reformation, die von den sieben Sakramenten der römisch-katholischen Kirche nur noch die Taufe und das Abendmahl anerkannte, gewann die biblische Erzählung von der Taufe des Kämmerers stark an Bedeutung. Anders als in der katholischen Kirche, die die Taufe als Voraussetzung für das zukünftige Heil betrachtete, galt sie bei den Protestanten lediglich als Bestätigung der göttlichen Heilszusage; der Schweizer Reformator Johannes Calvin (1509–1564) betonte in seinem Kommentar zur Apostelgeschichte, dass vor dem Akt der Taufe der Glaube stehen müsse. Der Glaube wiederum erwächst, wie es im Römerbrief des Paulus heißt (10,17), aus der Verkündigung von Gottes Wort und dem Hören auf dessen Botschaft – genau dies ist auch in der Bekehrungsgeschichte des Kämmerers der Fall. Rembrandt schließt sich dieser Sicht an, wenn er das Buch deutlich hervorhebt und das unmittelbare Aufeinanderfolgen von Lesung und Taufe suggeriert.
Rembrandt: Die Taufe des Kämmerers (1641); Radierung
In einer Radierung von 1641 nimmt Rembrandt das Thema der Kämmerer-Taufe nochmals auf. Er kehrt dabei mit seiner querformatig angelegten Komposition wieder zu dem Vorbild Lastmans zurück. Die wartende Kutsche und die Taufe des Äthiopiers sind spiegelbildlich zu seinem Gemälde von 1626 eingefügt; aus Lastmans Karlsruher Bild übernimmt Rembrandt den Sonnenschirm. Der prominent platzierte Reiter lenkt mit seinem Blick den des Betrachters direkt auf die Taufhandlung. 

 
Literaturhinweise

Giltaij, Jeroen: Rembrandt Rembrandt. Ausstellungskatalog Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main 2003. Edition Minerva, Wolfratshausen 2003, S. 30-33;

Müller, Jürgen: „Een antieckse Laechon“. Ein Beitrag zu Rembrandts ironischer Antikenrezeption. In: Horst Bredekamp u.a. (Hrsg.), Dissimulazione onesta oder Die ehrliche Verstellung. Von der Weisheit der versteckten Beunruhigung in Wort, Bild und Tat. Philo Fine Arts, Hamburg 2007, S. 105-130

Pächt, Otto: Rembrandt. Prestel-Verlag, München 2005, S. 33-34;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 236-238;
Sitt, Martina (Hrsg.): Pieter Lastman – In Rembrandts Schatten? Hirmer Verlag, München 2006, S. 56-59 und 64;
Wetering, Ernst van de/Schnackenburg, Bernhard (Hrsg.): Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge. Edition Minerva, Wolfratshausen 2001. 

(zuletzt bearbeitet am 11. Oktober 2025)