Barberinischer Faun (um 220 v.Chr.); München, Glyptothek |
Es handelt sich bei dieser aus einem einzigen Block gehauenen Marmorskulptur nicht
um eine der häufigen römischen Kopien griechischer Werke, sondern um eine
hellenistisches Original aus der Zeit um 220 v.Chr. (Höhe 178 cm).
Wahrscheinlich wurde die Figur in der Kaiserzeit aus Kleinasien, woher der Marmor
stammt, nach Rom gebracht und zu einer Brunnenfigur umgearbeitet. Gefunden
wurde sie zwischen 1624 und 1628 nahe der Engelsburg; der Figur fehlten das rechte Bein, Teile
des linken, der herabhängende linke Unterarm sowie Finger der rechten Hand.
Kein Geringerer als der große Barockbildhauer Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) soll die fehlenden Gliedmaßen ergänzt haben – die aber bis auf das rechte Bein heute
wieder entfernt sind. Der damalige Papst Urban III. aus dem Hause Barberini erklärte
die Skulptur, die ungeheures Aufsehen erregte, zum unveräußerlichen
Familienbesitz – daher ihr Beiname. Dennoch kaufte 1810 Kronprinz Ludwig, der spätere
König Ludwig I. von Bayern, die
Skulptur. 1820 traf der Faun in München ein, wo er in der neu erbauten
Glyptothek (Architekt: Leo von Klenze) ausgestellt wurde.
Die Glyptothek in München, 1816 bis 1830 nach Plänen von Leo von Klenze erbaut |
Raimund Wünsche, der frühere Direktor der
Glyptothek, geht davon aus, dass nicht ein Faun – der römische Wald- und
Hirtengott –, sondern ein Sartyr dargestellt sei. Sartyrn, mythische Begleiter
des Weingottes Dionysos, sind männliche Wesen mit leicht tierischen Zügen. Sie
haben spitze Ohren – bei diesem Sartyr weitgehend von den Armen und vom Haar
verdeckt – und einen kleinen Pferdeschwanz: Sein Ende ist hinter dem linken
Oberschenkel sichtbar. Auch das lange und wild wachsende Haar charakterisiert die Skulptur als Naturwesen, „und vielleicht sind zudem die Bewegungen der Figur – man betrachte insbesondere den zurückgesetzten rechten Fuß – ein wenig geschmeidiger, sozusagen katzenhafter, als dies bei sonstigen menschlichen Figuren üblich ist“ (Kunze 2003, S. 19).
Der Pferdeschwanz des Sartyrs; das Loch am rechten Bildrand wurde erst gebohrt, als man die Skulptur in römischer Zeit in eine Brunnenfigur umwandelte |
Darüber hinaus verweist der Efeukranz im Haar darauf, dass der
Sartyr der orgiastischen Welt des Dionysos angehört. Die Panflöte hinter dem Felsen ist ebenfalls
ein konkreter Hinweis auf einen Satyr. All diese Merkmale
seien aber, so Wünsche, bei dieser Figur nebensächlich, denn sie werde durch
ihre Haltung eindeutig charakterisiert: „Ein kraftvoller junger Mann in solch
provokant erotischer, lasziver Lagerung kann nur ein Sartyr sein“ (Wünsche
2005, S. 108).
Der Sartyr ist vom Tanzen und Trinken ermattet und berauscht
auf einen Felsen gesunken; als Unterlage dient ihm ein großes Raubtierfell, das er wie eine Decke über den Felsen gebreitet und unter der linken Achsel zusammengerollt hat. Seine
Bewegungen wirken äußerst natürlich und ungebunden, sind jedoch vom Bildhauer
klar aufeinander abgestimmt: Das auf den Boden gestellte linke Bein
korrespondiert mit dem über den Kopf nach hinten geführten rechten Arm; dem
spitzwinklig gebeugten rechten Bein antwortet ein ebenfalls stark angewinkelter
linker Arm, dessen Hand in der Nähe des Felsloches das Fell berührt. Der Kopf ist auf die rechte Schulter gesunken, die von der Lehne
des Felsensitzes nach oben gedrückt wird. Die über die Stirn zurückgestrichenen
Haare und die locker über die Schläfen fallenden Locken sind mit Efeublättern
und Beerendolden geschmückt.
Jetzt nur noch pennen |
Der Sartyr ist keineswegs, wie immer wieder zu
lesen ist, in tiefen Schlaf gefallen – das wäre auch gar nicht möglich, merkt
Wünsche an, da er sich nur mit der rechten Schulter an den Felsen lehnen kann. Eher scheint er sich auf seinem unbequemen
Lager zu räkeln, um die günstigste Liegeposition zu finden. Gerade
die Rückansicht mit der stark kontrahierten Muskulatur macht deutlich,
dass nur ein kleiner Felssporn auf der linken Seite dem Rücken des
Sartyrs Halt bietet.
In der Rückansicht ist der Pferdeschweif des Sartyrs, der seine animalische Natur eindeutig kennzeichnet, am besten sichtbar |
Der Barberinische Faun ist eine Besonderheit in der griechischen Kunst, weil schlafende Satyrn nur ausgeprochen selten dargestellt wurden. Hervorstechendes Merkmal von Satyrn ist vielmehr ihre ungebremste Aktivität – sie springen, sie tanzen, verfolgen Nymphen und wilde Tiere oder gehen sonst irgendeinem Unsinn nach. Das schlafende Naturwesen nimmt vom Betrachter keine Notiz, ist sich auch nicht bewusst, dass es beobachtet wird. Es handelt sich also um eine voyeuristische Situation, wie sie in der griechischen Skulptur des 3. Jahrhunderts v.Chr sehr beliebt war.
Ariadne (röm. Marmorkopie eines hellenistisches Originals); Rom, Vatikan |
Hermaphrodit (röm. Marmorkopie eines griech. Originals aus dem 2. Jh.v.Chr.); Paris, Louvre |
Das Mädchen von Antium (3. Jh.v.Chr.); Rom, Museo Nazionale Romano |
Der Barberinische Faun war sicherlich für eine Aufstellung bestimmt, die es erlaubte, nah an den prachtvollen Körper heranzutreten und ihn von allen Seiten zu bewundern; der Künstler hat die Figur bewusst „sperrig“ im Raum ausgebreitet, um den Betrachter zu veranlassen, um sie herumzugehen. „Die mächtigen Körperformen, die die des Betrachterkörpers erheblich überschreiten, müssen dabei in ihrer maskulinen Schönheit anziehend und in ihrer Wildheit und Unzivilisiertheit abschreckend zugleich gewirkt haben“ (Zanker 1998, S. 98). Die provozierend gespreizten Beine sind dabei Ausdruck der sexuellen Triebhaftigkeit des Satyrs, „der seine Gelüste gleich einem Tier auszuleben gewohnt ist und von den Schranken bürgerlichen Anstands gänzlich unberührt bleibt“ (Kunze 2003, S. 21).
Nach alten Legenden hausen Satyrn in entlegenen Bergregionen weitab jeder menschlichen Zivilisation, sie sind schnellfüßig, flüchtig und scheu wie die Tiere der Wildnis. Tatsächlich kann sich kein Mensch ernsthaft rühmen, einen von ihnen jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Wenn dies überhaupt möglich ist, dann gibt es dazu nur eine einzige Gelegenheit: dass ein Sartyr nämlich nach ausgiebigem Weingenuss vom Schlaf übermannt wird und dabei unvorsichtigerweise einen Ort wählt, an dem er dann zufällig von Menschen erblickt werden kann. Das ist auch die Grundidee des Barberinischen Fauns. „Die Wahl der Situation folgt der Strategie einer möglichst überzeugenden und glaubhaften Begegnung mit einem leibhaftigen Satyr. Sie folgt somit demselben illusionistischen Programm, das auch für die Ausgestaltung der Basis und für die körperliche Charakterisierung ausschlaggebend war“ (Kunze 2003, S. 29). Die unverhoffte Ansicht eines Wesens der fernen mythischen Tradition gewinnt noch einen zusätzlichen Reiz durch die Möglichkeit, der sich unruhig im Schlaf wälzende Satyr könne plötzlich erwachen.
Wem zu Ehren ist diese Skulptur geschaffen
worden, und was soll sie dem Betrachter sagen? Für Bernard Andreae demonstriert
sie „die Macht des Dionysos, die in der Darstellung seines von der Gewalt des
Weines überwundenen Trabanten gefeiert wird“ (Andreae 2001, S. 103).
Schmuckstück und Publikumsmagnet der Münchner Glyptothek |
Der
unbekannte hellenistische Bildhauer des Barberinischen Fauns muss in der
kleinasiatischen Stadt Pergamon tätig gewesen sein, darauf verweist die enge
stilistische Verwandtschaft mit den Figuren vom großen Fries des Pergamonaltars
(Berlin).
Polyphem-Gruppe aus Sperlonga, rekonstruiert von Bernard Andreae; Bochum, Kunstsammlungen der Ruhr-Universität |
Edmé Bouchardon: Barberinischer Faun (1726-1730); Paris, Louvre |
Adolph von Menzel: Barberinischer Faun (1874; Bleistift); Berlin, Kupferstichkabinett |
Literaturhinweise
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001;
Kunze, Christian: Die Konstruktion einer realen Begegnung: zur Statue des Barberinischen Fauns in München. In: Gerhard Zimmer (Hrsg.),
Neue Forschungen zur hellenistischen Plastik. Kolloquium zum 70. Geburtstag von
Georg Daltrop. Universitätsverlag Kastner, Wolnzach 2003, S. 9-47;
Mandel, Ursula: Räumlichkeit und Bewegungserleben – Körperschicksale im Hochhellenismus (240–190 v.Chr.). In: Peter C. Bol (Hrsg.), Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst III. Hellenistische Plastik. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2007, S. 145-149;
Mandel, Ursula: Räumlichkeit und Bewegungserleben – Körperschicksale im Hochhellenismus (240–190 v.Chr.). In: Peter C. Bol (Hrsg.), Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst III. Hellenistische Plastik. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2007, S. 145-149;
Schulze, Harald:
„Die sinnlichste Statue der Welt“. In: Florian S. Knauß (Hrsg.), Das schönste Kaufbare. Untersuchungen zu Skulpturen der Glyptothek. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg im Allgäu 2018, S. 132-158;
Wünsche, Raimund: Glyptothek München. Meisterwerke griechischer und römischer Skulptur. Verlag C.H. Beck, München 2005;
Wünsche, Raimund: Glyptothek München. Meisterwerke griechischer und römischer Skulptur. Verlag C.H. Beck, München 2005;
Zanker, Paul: Eine Kunst für die Sinne. Zur Bilderwelt des Dionysos und der
Aphrodite. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998.
(zuletzt bearbeitet am 23. Juli 2024)