Sandro Botticelli: Beweinung Christi (um 1495/96); Mailand, Museum Poldi Pezzoli (für die Großansicht einfach anklicken) |
Beweisstücke der Passion: Dornenkrone und Nägel |
Ohnmächtig erbleicht, gestützt von Johannes: die Mutter Jesu |
Links neben Johannes
verhüllt eine gramgebeugte Frau mit ihrem Gewand das Angesicht – wahrscheinlich
ist Maria Salome gemeint; auch sie stand nach dem Markus-Evangelium unter dem
Kreuz (Markus 15,40). Das Motiv des verhüllten Gesichts ist aus der antiken
Literatur und dem Malereitraktat des Kunsttheoretikers Leon Battista Alberti („De
pictura“, 1435) als ultimatives Mittel zur Darstellung untröstlicher Trauer
bekannt: Wenn alle Möglichkeiten der Affektdarstellung erschöpft sind, bleibe
als letzte Option, das Haupt des Trauernden zu verhüllen, sodass sich der
Betrachter dessen unsagbaren Schmerz selber ausmalen müsse.
Hinter Maria Salome und
Maria Kleophas erheben sich die beiden Türpfosten bzw. Seitenwände des
Felsengrabes; hinter der Scheitelfigur ist die Profilleiste des Sarkophags
sichtbar, in dem Jesus bestattet werden soll. „Die abschüssige Vertikale aus
den Armen Johannes’ und Mariens, die beide über das anatomisch zulässige Maß
hinaus verlängert wurden, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen, und die sanft
ondulierende Horizontale aus Rücken und Hinterkopf der Maria Salome, dem Haupt
der Jungfrau und dem Rückenkontur der Maria Kleophas teilen die Bildfläche
senkrecht und waagerecht nach den Proportionen des Goldenen Schnitts“
(Dombrowski 2010, S. 352).
Der Leib Christi ist
jünglingshaft und fast makellos dargestellt, von der Folter und dem Todeskampf
am Kreuz sind keine Spuren zu sehen, einzig die Seitenwunde und die durchbohrte
linke Hand wurden durch vergleichsweise winzige rote Striche markiert. Kein
geschundener, sondern ein jugendlich schöner Körper, der mehr schlafend als tot
wirkt, wird dem Betrachter präsentiert. Allgemein wird bei Botticellis Beweinung Christi von einer Entstehungszeit um oder nach 1495 ausgegangen – nur
wenige Jahre trennen sein Bild also von Michelangelos römischer Pietà in St.
Peter von 1499 (siehe meinen Post „Tief schlafend oder tot?“), die von der
durchlittenen Marter Jesu ebenfalls nichts erkennen lässt.
Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter |
Die zentrale Pietà auf Botticellis Mailänder Beweinung Christi wird von vier Figuren umstellt, die sich allesamt nach vorne
beugen und „den Eindruck des Schwerlastenden vermitteln“ (Dombrowski 2010, S.
352). Der Ausrichtung dieser Gruppe ist die Haltung des sich darüber erhebenden
Mannes entgegengesetzt, der sich mit dem Oberkörper zurücklehnt, den Kopf in
den Nacken lehnt und die Augen zum Himmel hebt, während die Figuren unter ihm
die Lider gesenkt haben. Seine Identität ist nicht sicher zu entscheiden. Dass
er Dornenkrone und Kreuznägel vorzeigt, könnte ihn eher als Nikodemus ausweisen, der
zum traditionellen Personal der Kreuzabnahme gehört. Die Andeutung eines
Turbans und seine Position vor dem offenen Grab deuten dagegen auf Joseph von
Arimathäa hin: Ihm gehörte das Grab, in das Jesus gelegt wurde, und er war wie
Nikodemus ebenfalls an der Grablegung beteiligt. Mit Damian Dombrowski halte ich es für wahrscheinlicher, dass es sich um Joseph von Arimathäa handelt. In Haltung und Kolorit abgesetzt
von dem abwärts gerichteten Figurenschirm unter ihm, ragt seine aufblickende
Halbfigur in ihrem sonnengelben Gewand einsam vor dem schwarzen Fond der
Grabkammer auf.
Joseph von Arimathiäa
ist frontal wiedergegeben und hat die Hände fast symmetrisch erhoben. Die beiden Passionswerkzeuge (arma christi), die er
emporhält, sollen durch transparente Tücher vor direkter Berührung
geschützt werden. „Doch hebt Joseph Krone und Nägel nicht nur in die Höhe wie
der Priester die eucharistischen Gaben oder heilige Reliquien, sondern
präsentiert sie wie Beweisstücke oder tropaia,
ohne daß er sein eigenes Tun vollständig verstünde“ (Dombrowski 2010, S. 353).
Sein forschender Gesichtsausdruck hat die Trauer hinter sich gelassen; „es ist,
als habe er mit den Passionswerkzeugen gerade noch den Himmel anklagen wolllen,
als sich ein Hoffnungsschimmer über den Ausdruck des Nichtverstehens breitet“
(Dombrowksi 2010, S. 354). Das Schlaglicht, das auf die Türlaibung rechts von ihm
fällt, deutet dieses „Erleuchtetwerden“ an.
Joseph von Arimathäa
war Mitglied des Hohen Rates von Jerusalem und ein geheimer Anhänger Jesu, „der
auch auf das Reich Gottes wartete“ (Markus 15,43). Sein Ausschauhalten wird
daher zum zentralen Motov des Bildes: Joseph erahnt das weltumspannende Heil,
das mit dem stellvertretenden Opfertod Jesu verknüpft ist. In der Gestalt Josephs
wendet sich das Gefangensein im Schmerz über das Verlorene zur Offenheit für
das Kommende. Joseph von Arimathäa ist Zielpunkt der aufsteigenden
Kompositionslinien und die Schlüsselfigur des ganzen Bildes; „ohne daß Johannes
und die trauenden Frauen schon um den Sinn dieses Todes wüßten, wird aus dem
Bild des Jammers durch Joseph ein Bild der Erhebung“ (Dombrowski 2010, S. 354).
Tilman Riemenschneider: Beweinung Christi (1525); Maidbronn bei Würzburg, St. Afra |
Der Ablauf der
Passionsgeschichte scheint in Botticellis Gemälde für diesen Augenblick
angehalten worden zu sein; standbildartig sind die Bewegungen der einzelnen
Figuren nach Art eines tableau vivant
festgehalten und zu Posen geronnen. Damit nähert sich das Bild den plastischen
Beweinungsgruppen des Nordens, wie z. B. denen des fast zeitgleich tätigen
Tilman Riemenschneider (1460–1531). Die Überschneidung der Figuren durch die
Rahmenränder, der dicht mit nah gesehenen Personen angefüllte Bildraum und
deren geringe räumliche Schichtung bewirken eine Dramatisierung der Kompostion,
wie sie auch in Passionsdarstellungen der nordischen Malerei des 15.
Jahrhunderts zu finden ist.
Ungewöhnlich erscheint Ulrich Rehm, wie Maria Kleophas mit beiden Händen den Kopf Christi stützt: Ihn erinnert dieses Motiv an das klassische Urbild literarischer Trauer, nämlich an die Beweinung Hektors am Ende der Ilias (XXIV, 719-724). Dort ist es die Gattin Andromache, die das Haupt des toten Helden in den Händen hält. Dann stimmen die Mutter Hekabe und schließlich Helena in die Trauerklage ein, bis König Priamos zur Vorbereitung der Verbrennungszeremonie aufruft.
Bestellt hatte die Beweinung Christi der Buchilluminator Donato di Antonio Cioni, und zwar für einen Altar an einem der Pfeiler von Santa Maria Maggiore in Florenz. Wie bei seiner Sebastian-Tafel aus den 1470er Jahren musste Botticelli die Maße seines Bildes an den Pfeilern der Kirche ausrichten – deshalb das für eine Beweinung ungewöhnliche Hochformat.
Kurz zuvor, um 1494/95, hatte Botticelli für die Florentiner Kirche S. Paolina eine kompositionell und in der Farbwahl sehr ähnliche Beweinung Christi geschaffen – allerdings im Querformat. Sie befindet sich heute in der Alten Pinakothek in München und ist in einem 2017 erschienenen, ebenso umfangreichen wie empfehlenswerten wissenschaftlichen Band zur Florentiner Malerei des 14. bis 16. Jahrhunderts eingehend untersucht worden.
Ungewöhnlich erscheint Ulrich Rehm, wie Maria Kleophas mit beiden Händen den Kopf Christi stützt: Ihn erinnert dieses Motiv an das klassische Urbild literarischer Trauer, nämlich an die Beweinung Hektors am Ende der Ilias (XXIV, 719-724). Dort ist es die Gattin Andromache, die das Haupt des toten Helden in den Händen hält. Dann stimmen die Mutter Hekabe und schließlich Helena in die Trauerklage ein, bis König Priamos zur Vorbereitung der Verbrennungszeremonie aufruft.
Bestellt hatte die Beweinung Christi der Buchilluminator Donato di Antonio Cioni, und zwar für einen Altar an einem der Pfeiler von Santa Maria Maggiore in Florenz. Wie bei seiner Sebastian-Tafel aus den 1470er Jahren musste Botticelli die Maße seines Bildes an den Pfeilern der Kirche ausrichten – deshalb das für eine Beweinung ungewöhnliche Hochformat.
Sandro Botticelli: Beweinung Christi (um 1494/95); München, Alte Pinakothek |
Literaturhinweise
Dombrowski, Damian:
Die religiösen Gemälde Sandro Botticellis. Malerei als pia philosophia.
Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2010;
Rehm, Ulrich: Botticelli. Der Maler und die Medici. Eine Biographie. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009, S. 241-243;
Schumacher, Andreas (Hrsg.): Florentiner Malerei – Alte Pinakothek. Die Gemälde des 14 bis 16. Jahrhunderts. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2017, S. 418-433;
Zöllner, Frank: Sandro Botticelli. Prestel
Verlag, München 2009, S. 172 und 255.
(zuletzt bearbeitet am 21. Januar 2022)