Dienstag, 29. Oktober 2013

Trauer und Erhebung – Sandro Botticellis „Beweinung Christi“ (Mailand)


Sandro Botticelli: Beweinung Christi (um 1495/96); Mailand, Museum
Poldi Pezzoli (für die Großansicht einfach anklicken)
Wie von den seitlichen Bildrändern zusammengeschoben, bilden in dieser Beweinung Christi von Sandro Botticelli (1445–1510) insgesamt sieben Personen eine regelrechte Trauerpyramide. Die Beweinung des Leichnams Christi wird in den Evangelien des Neuen Testaments nicht erwähnt. Sie ereignet sich zwischen Kreuzabnahme und Grablegung: Die Passion Jesu hat mit seinem Tod ihr Ende gefunden; der Gedanke an die Auferstehung ist für die Trauernden noch undenkbar fern.
Beweisstücke der Passion: Dornenkrone und Nägel
Eine zu beiden Seiten ausschwingende Wellenlinie durchzieht die Figurenkomposition vom tiefsten bis zum höchsten Punkt, ausgehend vom Zipfel des Leichentuches links unten über den Rücken der Maria Magdalena. Die junge Frau wiederholt, schmerzvoll versunken in die Vergangenheit, die Beweinung der Füße Jesu bei ihrer ersten Begegnung mit ihm (Lukas 7,36-50). Die Kurve setzt sich fort über Oberschenkel, Rumpf und Kopf des toten Christus, biegt hier um und führt über das Profil einer sein Haupt von hinten umfassenden Frau. Es handelt sich wahrscheinlich um Maria Kleophas; die das Johannes-Evangelium als eine der Frauen am Kreuz erwähnt (Johannes 19,25). Das en face wiedergegebene Gesicht der in Ohnmacht erbleichenden Mutter Jesu nimmt die Linie auf und ändert ein letztes Mal ihre Richtung: Sie beschreibt eine weitere S-Kurve, gipfelnd in der Dornenkrone, die ein gelbgewandeter Mann mit seiner rechten Hand emporhält; aus seiner Linken ragen die Nägel des Kreuzes hervor, auch sie nach oben gerichtet. „Als führte sie auf einen Berggipfel, verjüngt sich die über die Figurenwand gleitende Serpentine mit zunehmender Höhe und gewinnt an Vertikalität“ (Dombrowski 2010, S. 351).
Ohnmächtig erbleicht, gestützt von Johannes: die Mutter Jesu
Mit seinem langem Arm versucht der Jünger Johannes, ebenfalls Zeuge der Kreuzigung Jesu (Johannes 19,26-27), den kraftlos herabhängenden Arm der ihm anvertrauten Maria von der Berührung ihres Sohnes zu lösen. In den spitz zulaufenden Ärmelenden ihrer Gewänder klingt die Verbundenheit beider im Schmerz an. Die Vertikale der beiden Arme zieht die Komposition nach unten und steuert so dem Aufwärtsschwung der Serpentine entgegen.
Links neben Johannes verhüllt eine gramgebeugte Frau mit ihrem Gewand das Angesicht – wahrscheinlich ist Maria Salome gemeint; auch sie stand nach dem Markus-Evangelium unter dem Kreuz (Markus 15,40). Das Motiv des verhüllten Gesichts ist aus der antiken Literatur und dem Malereitraktat des Kunsttheoretikers Leon Battista Alberti („De pictura“, 1435) als ultimatives Mittel zur Darstellung untröstlicher Trauer bekannt: Wenn alle Möglichkeiten der Affektdarstellung erschöpft sind, bleibe als letzte Option, das Haupt des Trauernden zu verhüllen, sodass sich der Betrachter dessen unsagbaren Schmerz selber ausmalen müsse.
Hinter Maria Salome und Maria Kleophas erheben sich die beiden Türpfosten bzw. Seitenwände des Felsengrabes; hinter der Scheitelfigur ist die Profilleiste des Sarkophags sichtbar, in dem Jesus bestattet werden soll. „Die abschüssige Vertikale aus den Armen Johannes’ und Mariens, die beide über das anatomisch zulässige Maß hinaus verlängert wurden, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen, und die sanft ondulierende Horizontale aus Rücken und Hinterkopf der Maria Salome, dem Haupt der Jungfrau und dem Rückenkontur der Maria Kleophas teilen die Bildfläche senkrecht und waagerecht nach den Proportionen des Goldenen Schnitts“ (Dombrowski 2010, S. 352).
Der Leib Christi ist jünglingshaft und fast makellos dargestellt, von der Folter und dem Todeskampf am Kreuz sind keine Spuren zu sehen, einzig die Seitenwunde und die durchbohrte linke Hand wurden durch vergleichsweise winzige rote Striche markiert. Kein geschundener, sondern ein jugendlich schöner Körper, der mehr schlafend als tot wirkt, wird dem Betrachter präsentiert. Allgemein wird bei Botticellis Beweinung Christi von einer Entstehungszeit um oder nach 1495 ausgegangen – nur wenige Jahre trennen sein Bild also von Michelangelos römischer Pietà in St. Peter von 1499 (siehe meinen Post „Tief schlafend oder tot?“), die von der durchlittenen Marter Jesu ebenfalls nichts erkennen lässt.
Michelangelo: Pietà (1498/99); Rom, St. Peter
Die zentrale Pietà auf Botticellis Mailänder Beweinung Christi wird von vier Figuren umstellt, die sich allesamt nach vorne beugen und „den Eindruck des Schwerlastenden vermitteln“ (Dombrowski 2010, S. 352). Der Ausrichtung dieser Gruppe ist die Haltung des sich darüber erhebenden Mannes entgegengesetzt, der sich mit dem Oberkörper zurücklehnt, den Kopf in den Nacken lehnt und die Augen zum Himmel hebt, während die Figuren unter ihm die Lider gesenkt haben. Seine Identität ist nicht sicher zu entscheiden. Dass er Dornenkrone und Kreuznägel vorzeigt, könnte ihn eher als Nikodemus ausweisen, der zum traditionellen Personal der Kreuzabnahme gehört. Die Andeutung eines Turbans und seine Position vor dem offenen Grab deuten dagegen auf Joseph von Arimathäa hin: Ihm gehörte das Grab, in das Jesus gelegt wurde, und er war wie Nikodemus ebenfalls an der Grablegung beteiligt. Mit Damian Dombrowski halte ich es für wahrscheinlicher, dass es sich um Joseph von Arimathäa handelt. In Haltung und Kolorit abgesetzt von dem abwärts gerichteten Figurenschirm unter ihm, ragt seine aufblickende Halbfigur in ihrem sonnengelben Gewand einsam vor dem schwarzen Fond der Grabkammer auf.
Joseph von Arimathiäa ist frontal wiedergegeben und hat die Hände fast symmetrisch erhoben. Die beiden Passionswerkzeuge (arma christi), die er emporhält, sollen durch transparente Tücher vor direkter Berührung geschützt werden. „Doch hebt Joseph Krone und Nägel nicht nur in die Höhe wie der Priester die eucharistischen Gaben oder heilige Reliquien, sondern präsentiert sie wie Beweisstücke oder tropaia, ohne daß er sein eigenes Tun vollständig verstünde“ (Dombrowski 2010, S. 353). Sein forschender Gesichtsausdruck hat die Trauer hinter sich gelassen; „es ist, als habe er mit den Passionswerkzeugen gerade noch den Himmel anklagen wolllen, als sich ein Hoffnungsschimmer über den Ausdruck des Nichtverstehens breitet“ (Dombrowksi 2010, S. 354). Das Schlaglicht, das auf die Türlaibung rechts von ihm fällt, deutet dieses „Erleuchtetwerden“ an.
Joseph von Arimathäa war Mitglied des Hohen Rates von Jerusalem und ein geheimer Anhänger Jesu, „der auch auf das Reich Gottes wartete“ (Markus 15,43). Sein Ausschauhalten wird daher zum zentralen Motov des Bildes: Joseph erahnt das weltumspannende Heil, das mit dem stellvertretenden Opfertod Jesu verknüpft ist. In der Gestalt Josephs wendet sich das Gefangensein im Schmerz über das Verlorene zur Offenheit für das Kommende. Joseph von Arimathäa ist Zielpunkt der aufsteigenden Kompositionslinien und die Schlüsselfigur des ganzen Bildes; „ohne daß Johannes und die trauenden Frauen schon um den Sinn dieses Todes wüßten, wird aus dem Bild des Jammers durch Joseph ein Bild der Erhebung“ (Dombrowski 2010, S. 354).
Tilman Riemenschneider: Beweinung Christi (1525); Maidbronn bei Würzburg, St. Afra
Der Ablauf der Passionsgeschichte scheint in Botticellis Gemälde für diesen Augenblick angehalten worden zu sein; standbildartig sind die Bewegungen der einzelnen Figuren nach Art eines tableau vivant festgehalten und zu Posen geronnen. Damit nähert sich das Bild den plastischen Beweinungsgruppen des Nordens, wie z. B. denen des fast zeitgleich tätigen Tilman Riemenschneider (1460–1531). Die Überschneidung der Figuren durch die Rahmenränder, der dicht mit nah gesehenen Personen angefüllte Bildraum und deren geringe räumliche Schichtung bewirken eine Dramatisierung der Kompostion, wie sie auch in Passionsdarstellungen der nordischen Malerei des 15. Jahrhunderts zu finden ist.
Ungewöhnlich erscheint Ulrich Rehm, wie Maria Kleophas mit beiden Händen den Kopf Christi stützt: Ihn erinnert dieses Motiv an das klassische Urbild literarischer Trauer, nämlich an die Beweinung Hektors am Ende der Ilias (XXIV, 719-724). Dort ist es die Gattin Andromache, die das Haupt des toten Helden in den Händen hält. Dann stimmen die Mutter Hekabe und schließlich Helena in die Trauerklage ein, bis König Priamos zur Vorbereitung der Verbrennungszeremonie aufruft.
Bestellt hatte die Beweinung Christi der Buchilluminator Donato di Antonio Cioni, und zwar für einen Altar an einem der Pfeiler von Santa Maria Maggiore in Florenz. Wie bei seiner Sebastian-Tafel aus den 1470er Jahren musste Botticelli die Maße seines Bildes an den Pfeilern der Kirche ausrichten – deshalb das für eine Beweinung ungewöhnliche Hochformat.
Sandro Botticelli: Beweinung Christi (um 1494/95); München, Alte Pinakothek
Kurz zuvor, um 1494/95, hatte Botticelli für die Florentiner Kirche S. Paolina eine kompositionell und in der Farbwahl sehr ähnliche Beweinung Christi geschaffen – allerdings im Querformat. Sie befindet sich heute in der Alten Pinakothek in München und ist in einem 2017 erschienenen, ebenso umfangreichen wie empfehlenswerten wissenschaftlichen Band zur Florentiner Malerei des 14. bis 16. Jahrhunderts eingehend untersucht worden.

Literaturhinweise
Dombrowski, Damian: Die religiösen Gemälde Sandro Botticellis. Malerei als pia philosophia. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2010;
Rehm, Ulrich: Botticelli. Der Maler und die Medici. Eine Biographie. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2009, S. 241-243;
Schumacher, Andreas (Hrsg.): Florentiner Malerei – Alte Pinakothek. Die Gemälde des 14 bis 16. Jahrhunderts. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2017, S. 418-433;
Zöllner, Frank: Sandro Botticelli. Prestel Verlag, München 2009, S. 172 und 255.

(zuletzt bearbeitet am 21. Januar 2022)