Baccio Bandinelli: Orpheus (um 1519); Florenz, Palazzo Medici-Riccardi (für die Großansicht einfach anklicken) |
Apoll vom Belvedere (1489 aufgefunden); Rom, Vatikan (für die Großansicht einfach anklicken) |
Insgesamt sechs antike Autoren – Horaz, Ovid, Platon, Quintilian, Seneca und Vergil – haben sich mit der Orpheus-Sage beschäftigt. Orpheus gilt als Sohn des thrakischen Königs Oiagros und der Kalliope, Tochter des Zeus und eine der Musen. Apoll nahm ihn wegen seiner musischen Fähigkeiten als Ziehsohn an und schenkte ihm eine Lyra. Von Apoll gelehrt, wurde Orpheus zum besten aller Sänger, der mit seiner Musik Götter, Menschen und sogar Tiere, Pflanzen und Steine zu betören vermochte.
Während der Apoll vom Belvedere über
seine Schulter dem gerade abgeschossenen Pfeil nachzublicken scheint (in der
Forschung herrscht heute Konsens darüber, dass er einen Bogen in der linken
Hand hielt), richtet Bandinellis Orpheus seine Augen zum Himmel. Seine rechte Hand hat sich
geöffnet, die Finger sind gespreizt: eine Geste, die zum einen den Gesang
unterstreicht, der offenbar aus dem geöffneten Mund Orpheus’ ertönt. Zum
anderen weist die Hand auf den an seiner Seite hockenden, dreiköpfigen Cerberus
– er nimmt die Stelle des Baumstumpfes an Apolls rechtem Bein ein. Einer dieser
Köpfe ist dem Betracher frontal und friedlich lauschend zugewandt. Denn Orpheus
hatte, so erzählt Ovid in seinen Metamorphosen,
den mehrköpfigen Wachhund am Eingang zur Unterwelt mit Leierschlag und Gesang
besänftigt, um so in das Reich der Toten eindringen zu können.
Orpheus besänftigt den Höllenhund Cerberus durch seinen Gesang |
Dieser Stich von Hendrik Goltzius (1592) zeigt den Zustand des Apoll vom Belvedere nach den beiden Ergänzungen von Giovanni Montorsoli |
Mit dem linken Arm des Orpheus weicht Bandinelli deutlich von seinem Vorbild ab. Zwar hat seine Skulptur gleichfalls das Gewand über den Arm geworfen – aber der ist abgewinkelt, weil er eine mittlerweile abgebrochene Leier hält, das unverzichtbare Attribut des Orpheus.
Vom rechten Arm des Belvederischen Apoll existierte um 1519 nur noch ein Armstumpf. Bandinellis Armlösung für seinen Orpheus erlebte ihrerseits eine erstaunliche Rezeption – und zwar bei der Rekonstruktion des Apoll vom Belvedere. Die Anstückung des Bildhauers Giovanni Montorsoli aus dem Jahr 1532 (siehe meinen Post „Der Apoll vom Belvedere“) ist eine direkte Reaktion auf Bandinelli. Montorsoli wollte, dessen Orpheus folgend, die Figur des Apoll lebhafter gestalten; wie Bandinelli suchte er dabei den Wettstreit mit der antiken Skulptur, um sie zu „verbessern“ und zu übertreffen. Montorsoli will „die Rhetorik von Bandinellis Hand des Orpheus übernehmen; aber da nutzt ihm keine abwärts weisende Hand, die ja bei Bandinelli auf Cerberus und Unterwelt zeigte. Er will die rechte Stoffmasse der Chlamys ausbalancieren mit Baumstumpf und Handgeste links“ (Winner 1998, S. 238). Für die neue, nach rechts ausfahrende Hand Apolls nahm er deswegen an der antiken Statue erst einmal eine Amputation am rechten Unterarm vor, den er bis zum Ellbogen abtrennte.
Vom rechten Arm des Belvederischen Apoll existierte um 1519 nur noch ein Armstumpf. Bandinellis Armlösung für seinen Orpheus erlebte ihrerseits eine erstaunliche Rezeption – und zwar bei der Rekonstruktion des Apoll vom Belvedere. Die Anstückung des Bildhauers Giovanni Montorsoli aus dem Jahr 1532 (siehe meinen Post „Der Apoll vom Belvedere“) ist eine direkte Reaktion auf Bandinelli. Montorsoli wollte, dessen Orpheus folgend, die Figur des Apoll lebhafter gestalten; wie Bandinelli suchte er dabei den Wettstreit mit der antiken Skulptur, um sie zu „verbessern“ und zu übertreffen. Montorsoli will „die Rhetorik von Bandinellis Hand des Orpheus übernehmen; aber da nutzt ihm keine abwärts weisende Hand, die ja bei Bandinelli auf Cerberus und Unterwelt zeigte. Er will die rechte Stoffmasse der Chlamys ausbalancieren mit Baumstumpf und Handgeste links“ (Winner 1998, S. 238). Für die neue, nach rechts ausfahrende Hand Apolls nahm er deswegen an der antiken Statue erst einmal eine Amputation am rechten Unterarm vor, den er bis zum Ellbogen abtrennte.
Der Palazzo Medici in Florenz, heute Palazzo Medici-Riccardi genannt, da er 1659 an die Familie Riccardi verkauft wurde (für die Großansicht einfach anklicken) |
Den Auftrag zu seinem fast vollständig nackten Orpheus erhielt Bandinelli
von Papst Leo X. (1513–1521). Bestimmt war die Skulptur für den Innenhof des
Florentiner Palazzo Medici. 1494 hatte man dort nach der Vertreibung der Medici
den Bronze-David Donatellos entfernt (siehe
meinen Post „Androgyne Sinnlichkeit“) und in den Palazzo della Signoria gebracht.
Vor dem Palazzo della Signoria hatte man 1504 außerdem noch Michelangelos
Marmor-David aufgerichtet; der
biblische Held wurde damit zum Wahrzeichen der wehrhaften Florentiner Republik
und zum dezidiert anti-mediceischen Symbol.
Blick in den Innenhof des Palazzo Medici-Riccardi |
1512 gelang den
Medici jedoch die Rückkehr nach Florenz und an die Macht; Bandinellis Orpheus sollte nun Donatellos Statue ersetzen
„und offensichtlich die Wiederherstellung des Friedens in Florenz unter den
Medici versinnbildlichen“ (Poeschke 1992, S. 168). Außerdem sollte an diesem
Ort eine dem Statuenhof des Belvedere vergleichbare Skulpturensammlung
entstehen: So wie man in Rom den berühmten Apoll vorweisen konnte, wurde in
Florenz dessen „Kopie“, der Orpheus,
aufgestellt. Dass nun statt einer biblischen Figur wie David oder Judith eine Gestalt der antiken Mythologie einen so prominenten Platz im Palasthof
einnahm, kann exemplarisch auf die Mentalitätsverschiebung hinweisen, die sich
gegenüber dem vorausgegangenen Quattrocento in der Hochrenaissance ereignet
hat.
Der hochrechteckige, reich dekorierte Sockel des Orpheus wurde von Benedetto da Rovezzano nach Entwürfen Bandinellis gestaltet |
Literaturhinweise
Greve, David: Status und Statue. Studien zu Leben
und Werk des Florentiner Bildhauers Baccio Bandinelli. Frank & Timme,
Berlin 2008, S. 71-90;
Krems, Eva-Bettina: Das Drama des Sehens und der Musik: Zur Darstellung des Orpheus-Mythos in bildender Kunst und Oper der Frühen Neuzeit. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 36 (2009), S. 269-300;
Krems, Eva-Bettina: Das Drama des Sehens und der Musik: Zur Darstellung des Orpheus-Mythos in bildender Kunst und Oper der Frühen Neuzeit. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 36 (2009), S. 269-300;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance
in Italien. Band 2. Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992,
S. 168-169;
Winner, Matthias: Paragone mit dem Belvederischen
Apoll. Kleine Wirkungsgeschichte der Statue von Antico bis Canova. In: Matthias
Winer u.a. (Hrsg.), Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im
Vatikan. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1998, S. 227-252.(zuletzt bearbeitet am 25. Juni 2020)