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Gustave Caillebotte: Rue de Paris, temps de pluie (1877); Chicago, The Art Institute of Chicago
(für die Großansicht einfach anklicken) |
Eine belebte Pariser
Straßenkreuzung an einem grauen regnerischen Tag: Auf dem Gehsteig rechts kommt
unter einem großes Regenschirm ein elegant gekleidetes Paar auf uns zu; die
Nähe der beiden Figuren wird noch dadurch gesteigert, dass sie vom unteren
Bildrand überschnitten sind. Ihre Aufmerksamkeit ist abgelenkt, Mann und Frau
blicken nach links auf etwas, das außerhalb des Bildfeldes liegt; deswegen
scheinen sie den entgegenkommenden, stark angeschnittenen Passanten ganz rechts
nicht wahrzunehmen. Um den drohenden Zusammenstoß zu vermeiden, hält dieser
seinen Regenschim bereits vorsorglich schräg. Da wir uns als Betrachter mit dem
Paar auf gleicher Augenhöhe befinden, entsteht der Eindruck, als seien wir
selbst auf dem Gehweg unterwegs und würden einander begegnen. Diese Illusion
wird auch dadurch unterstützt, dass die beiden Flaneure fast lebensgroß
dargestellt sind und das Bildformat entsprechend ausfällt: 212 x 276 cm misst
Gustave Caillebottes Gemälde Rue de
Paris, temps de pluie von 1877.
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Diese Aufnahme kann einen Eindruck von den Bildmaßen vermitteln – das lebensgroße Paar im Vordergrund scheint direkt auf den Betrachter zuzukommen (für die Großansicht einfach anklicken) |
Nach oben und zur
Bildtiefe hin wird die Szene durch die beiden Regenschirme abgeschlossen, die
dem Betrachter weitgehend den Blick versperren; die beengte Situation rechts kontrastiert
mit dem weiten Straßenraum in der linken Bildhälfte. Dort nimmt vor allem das
Pflaster den offenen Vordergrund ein; die leicht aufgewölbten Steine, zwischen
denen sich das Wasser sammelt, werden dabei der glatten, spiegelnden Oberfläche
des Gehwegs rechts gegenübergestellt. Nur vereinzelt überqueren Passanten die
Kreuzung im Mittelgrund, der Fahrverkehr beschränkt sich auf zwei stark
überschnitten gezeigte Kutschen. Im Hintergrund sind vor den Hausfassaden in
kleinerem Format deutlich Passanten zu sehen – erst sie vermitteln dem Betrachter
den Eindruck städtischer Betriebsamkeit. Die kühle Feuchtigkeit des
regnerischen Tages überträgt sich in der graublauen Atmosphäre, die die ganze
Szene durchdringt. Sie wird nur durch wenige Farbakzente belebt.
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Allein zu zweit in den Straßen von Paris |
Die Nähe des vor uns
aufragenden Paares ist geradezu bedrängend – und dennoch nehmen die beiden
keinerlei Verbindung zu uns auf. Auch die anderen Figuren machen einen
„abwesenden“, auf sich selbst bezogenen Eindruck. Vom Betrachter abgewandt oder
im Profil dargestellt, sind die in verschiedene Richtungen gehenden
Einzelpersonen oder Zweiergruppen zudem durch weiten Raum voneinander
abgesetzt. Die feucht schimmernden Regenschirme, die die Figuren überfangen, betonen
ihre Isolation noch. „Als anonym bleibende Andere angesehen (...), wird ihre
Gleichartigkeit nicht nur durch diese sich rhythmisch wiederholenden Schirme,
sondern auch durch die einheitlich dunkle Kleidung übersteigert“ (Frey 1999, S.
165). Auch das Paar im Vordergrund bildet hier nicht wirklich eine Ausnahme:
Obwohl sich die Dame bei dem Herrn eingehängt hat und beide unter einem Schirm
zusammengefasst sind, wirken sie jeweils ganz in ihre eigenen Wahrnehmungen
versunken.
Den gleichförmigen
Figuren entspricht die einheitliche Farbstimmung des Gemäldes – vor allem aber
entspricht ihnen die äußerst geordnete architektonische Umgebung: die regelmäßigen
Quader des Pflasters, die sternförmig ausstrahlenden Straßen, die sich weit in
die Tiefe ziehenden Gebäudeblöcke mit ihren durchlaufenden Balkonen und der
starren Abfolge ihrer Fenster und Schornsteine. Caillebotte verzichtet auch darauf, bekannte bzw. erkennbare Pariser Bauwerke abzubilden – die Örtlichkeit ist so allgemein gehalten wie der Titel des Bildes, ebenso fehlt alles Anekdotische. Der Blick auf eine Straßenkreuzung wird hier „zur Darstellung der menschlichen Existenz in der modernen Stadt schlechthin“ (Frey 1999, S. 166).
Caillebotte hat für
sein Gemälde eine Reihe von vorbereitenden Skizzen und Studien angefertigt – sein
Bild ist sehr sorgfältig durchkomponiert. Während die grüne Straßenlaterne
zusammen mit ihrer Reflektion auf dem Pflaster die Bildfläche vertikal halbiert,
dient der auf etwa halber Höhe verlaufende Horizont dazu, die Leinwand auch
waagerecht zu unterteilen und damit zu vierteln. „Zusammen mit der stabilen
Viertelung der Bildfläche gleicht dieses sich wiederholende Regelmaß der
Bildelemente eine sich aus der Asymmetrie der Personenverteilung und der
Spannung von Nah und Fern entwickelnde Dynamik aus“ (Frey 1999, S. 165).
Trotz dieser genau
überlegten Verteilung der Bildelemente erfasst Caillebotte überzeugend das
Augenblickliche dieser Alltagsszene. Durch die angeschnittenen Figuren wirkt
sein Gemälde wie eine Momentaufnahme aus dem modernen Pariser Straßenleben, der
Fotografie verwandt. Überhaupt verwendet Caillebotte fotografische Stilmittel
noch weitgehender als jene Malerkollegen, die sich von der neuen Bildkunst
ebenfalls inspirieren lassen (wie z. B. Edgar Degas). So hat er mit Hilfe von
fotografischem Anschauungsmaterial in Rue
des Paris, temps de pluie präzise optische Phänomene wie den Weitwinkel
genutzt, um den Vordergrund auszuweiten und zu vergrößern und den Hintergrund
zu verkleinern. Solche verzerrenden Effekte waren in den 1860er Jahren durch
die Erfindung neuer Linsen möglich, wurden jedoch vor allem dokumentarisch und
nicht künstlerisch eingesetzt. Durch seinen Bruder Martial, einen engagierten
Amateurfotografen, war Caillebotte mit den Prozessen und Möglichkeiten des
neuen Mediums vertraut.
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Eines der vielen Pariser Haussmann-Appartement-Häuser, die bis heute das Stadtbild prägen |
Caillebotte zeigt uns
eine Pariser Straßenszene nach der radikalen Stadtumgestaltung, die 1853 unter
Georges-Eugène Haussmann, dem Präfekten Kaiser Napoléons III., eingesetzt
hatte. Sie brachte ein völlig verändertes Stadtbild hervor. Zu den
einschneidendsten Veränderungen dieser sogenannten Haussmannisierung, die bis
Anfang der 1870er Jahre dauerte, gehörte der Abbruch großer Teile der
mitelalterlichen Stadtviertel. Am stärksten betroffen waren das Zentrum und die
Bereiche rechts der Seine im Nordwesten der Stadt, wo auch Caillebottes Familie
seit 1868 wohnte. Der Maler „sah die neue Stadt wachsen, beobachtete, wie die
engen und verwinkelten Gassen durch weiträumige Plätze, breite Verkehrsstraßen
und große Boulevards ersetzt wurden, und erlebte, wie Paris durch das neue
Straßennetz mit repräsentativen Gebäuden in Blockbauweise und einem neuartigen
einheitlichen urbanen Mobiliar sowie Park- und Grünanlagen nicht nur zur
vorbildhaften europäischen Metropole, sondern zum »Weltwunder« wurde“ (Sagner
2009, S. 21/22).
Auf Caillebottes Gemälde schiebt sich die Eckfront eines an
zwei Straßen verlaufenden Gebäudekomplexes wie ein Schiffsbug ins Bild, der
exemplarisch die vereinheitlichende neue Stadtbebauung vor Augen führt. Auf
befestigten, sicheren und breiten Gehwegen, einer absoluten Neuerung unter Haussmann,
konnten die Passanten selbst bei Regenwetter ungefährdet flanieren. Das
Pflaster, dem Caillebotte in seinem Gemälde große Aufmerksamkeit schenkt,
erlaubte es den Fußgängern, die großen und von Kutschen befahrenen Boulevards
rasch zu überqueren.
Caillebottes Gemälde
lässt uns spüren, wie ambivalent der Maler diese neue Stadtgeometrie empfunden
haben muss: Die Stadt erscheint auf seinem Bild als vollkommen konstruierter,
gleichgeschalteter Raum mit weiten und tiefen Blickfluchten sowie extremen Trichterperspektiven.
Gezeigt werden nicht nur die modernen Materialien wie Stein, Pflaster und Gusseisen,
sondern auch die Uniformität der typischen neuen Mietshäuser. „Dem einzelnen
Haus kam im Stadtkonzept seiner Zeit ebenso wenig Bedeutung zu wie dem
einzelnen Menschen: Anonymität beherrschte die Realität“ (Sagner 2010, S. 28). Es
ist diese Stimmung der Vereinzelung, die Caillebottes Straßenszene durchzieht: Die
Figuren wirken verloren in einem sich gewaltig ausdehnenden, monotonen Stadtraum.
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Claude Monet: Boulevard des Capucines (1873); Moskau, Puschkin-Museum |
Rue de Paris, temps de pluie wurde in der dritten Pariser Impressionisten-Austellung
1877 gezeigt und erregte große Bewunderung. Es gehört zu einer Gruppe von etwa
fünfzig Paris-Ansichten Caillebottes, die zwischen 1875 und 1880 entstanden
sind. Mit Sicherheit hatte Caillebotte die erste Impressionisten-Ausstellung
1874 besucht und dort auch Claude Monets 1873 gemalten Boulevard des Capucines gesehen, ein Bild, das mit der neuen
impressionistischen Maltechnik das verwandelte Paris wiedergab. Caillebotte
blieb davon nicht unberührt: Der veränderte Stadtraum, die breite Straße, wurde
als neuartiges künstlerisches Thema entdeckt. Als sich Caillebotte diesem Sujet
zuwandte, entwickelt er dabei seine eigenwillige, kühne Bildästhetik, mit der er
sich eine einzigartige Position zwischen Realismus und Impressionismus
sicherte.
Nach 1880 verlor Caillebotte das Interesse am Thema Stadt – er verlagerte seinen Wohnsitz nach Petit Gennevilliers, einem kleinen Ort an der Seine, wo seine weiteren Werke deutlich impressionistischer wurden. Als Caillebotte 1894 mit nur 45 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls starb, hatte er fast 500 Bilder geschaffen.
Literaturhinweise
Forgione, Nancy: Everyday Life in Motion: The Art of Walking in Late-Nineteenth-Century Paris. In: The Art Bulletin 87 (2005), S. 664-687;
Frey, Andrea: Der
Stadtraum in der französischen Malerei 1860–1890. Dietrich Reimer Verlag,
Berlin 1999, S. 163-172;
Sagner, Karin: Gustave
Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus. Hirmer Verlag, München
2009.
(zuletzt bearbeitet am 30. August 2020)