Tizian: Der Sündenfall (um 1550); Madrid, Prado (für die Großansicht einfach anklicken) |
Eva steht rechts
neben dem Baum; ihr Körpergewicht lastet auf dem rechten Bein, das Spielbein
ist locker im Kniegelenk angewinkelt. Auf dem vorderen Fußballen stehend und
den Oberkörper leicht nach links gedreht, ergreift sie mit erhobenem linkem Arm
die verbotene Frucht. Mit dem rechten Arm stützt sie sich auf einem Seitentrieb
des Baumes ab. Dort zweigt auch ein Ast mit Lorbeerblättern ab, die Evas Scham
bedecken.
Die Körper der Ureltern
verlieren durch die Bewegung ihr stabiles Gleichgewicht, sie drohen zu kippen,
benötigen Halt. Adams erschreckt zurückweichender Oberkörper und sein abwehrend
erhobener linker Arm signalisieren „nein, bloß nicht“. Eva dagegen bemüht
sich, näher an den Apfel heranzukommen; ihre Haltung steht für „ja, her damit“.
Eva ist offensichtlich allein auf die verbotene Frucht ausgerichtet, sie bemerkt
nicht, wer sie ihr reicht. Es besteht kein Blickkontakt zwischen ihr und der
Schlange, ihr Gesichtsausdruck ist eigentümlich entrückt – sie agiert
offensichtlich alles andere als überlegt und scheint allein von ihrem Begehren
gesteuert.
Adam hingegen wirkt,
als erfasse er die Tragweite dessen, was hier geschieht, und versuche zu
warnen. Doch Eva reagiert in keiner Weise auf ihn. Tizian wiederholt damit in
seinem Gemälde einmal mehr die traditionelle theologische Schuldzuweisung an
Eva, die letztlich allein für den Sündenfall verantwortlich gemacht wird; Adams
Schuldanteile scheinen weitaus geringer und bestehen einzig darin, der Verführungskraft
Evas nicht widerstanden zu haben. Tizian betont die „Alleinschuld“ Evas zusätzlich,
indem er direkt hinter ihr einen Fuchs platziert – es war die Frau, die auf die
List des Teufels hereingefallen ist, bei ihr hatte er offensichtlich leichteres
Spiel.
Peter Paul Rubens: Der Sündenfall (1628/29); Madrid, Prado (für die Großansicht einfach anklicken) |
1628 reist Peter Paul
Rubens in diplomatischer Mission an den Hof Philipps II. nach Madrid. Nach
seiner Ankunft wird er bald auch künstlerisch aktiv: Bei seiner Rückkehr nach
Antwerpen hat er eine große Anzahl von Gemälden im Gepäck – neben Porträts der
spanischen Königsfamilie eine beachtliche Anzahl von Kopien nach
Tizian-Bildern. Auch Tizians Sündenfall gehört dazu. Aber Rubens geht es
offensichtlich nicht um eine möglichst getreue Wiederholung, denn seine Kopie
weist einige bemerkenswerte Veränderungen auf. Der flämische Künstler hat
Tizians Eva nahezu unverändert übernommen – auch bei Rubens hat sie nur die
verbotene Frucht im Blick, ohne die darin verborgene bzw. darüber lauernde Gefahr
zu erkennen. Aus dem Putto im Baum ist jedoch ein kleiner Kobold mit
satyrhaften Zügen geworden, der Eva genau beobachtet, während er ihr mit einem
schelmischen Lächeln den Apfel überreicht. Rubens’ Adam ist kein schöner
Jüngling, sondern ein gereifter Mann; im Gegensatz zu Tizians Adam weicht er
nicht mehr ängstlich mahnend zurück. Er neigt sich eher zu Eva hin und berührt
sie behutsam, um sie an das Gebot Gottes zu erinnern. Rubens unterscheidet
bei seinem ersten Menschenpaar auch deutlicher die direkten Folgen des
Sündenfalls: „Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie erkannten, dass
sie nackt waren“, heißt es in 1. Mose 3,7 (ELB). Der flämische
Maler behält in seiner Version den Lorbeerzweig bei, der Evas Scham bedeckt,
was verdeutlichen soll, dass sie sich ihrer Geschlechtlichkeit bereits bewusst
geworden ist. Anders als Tizian stellt Rubens aber Adam völlig nackt dar: Da er
von der verbotenen Frucht noch nicht gegessen hat, steht ihm das „Erkennen“ der
eigenen Sündhaftigkeit noch bevor. Aber Mimik und Gestik Adams könnten auch den
Moment staunenden sinnlichen Erwachens zeigen, der in der bildenden Kunst immer
wieder mit dem Sündenfall verknüpft wird. Rubens erweist sich damit meiner
Ansicht nach als der subtilere Erzähler; er scheint die Komposition des älteren
Kollegen verbessern zu wollen – auf jeden Fall begibt er sich selbstbewusst in
einen Wettstreit auf Augenhöhe.
Torso vom Belvedere; Rom, Vatikanische Museen |
Peter Paul Rubens: Zeichnung nach dem Torso vom Belvedere |
In ihrer Sitzhaltung
orientieren sich die beiden Urväter an einer berühmten antiken Plastik: dem Torso vom Belvedere (siehe meinen Post „Ruhm und Rätsel“). Tizian entlehnt von ihr für
seinen Adam die Position der Oberschenkel und die Beckenstellung. Rubens, der
sich während seines Romaufenthaltes (1603/04) in diversen Zeichnungen mit dem
Torso vom Belvedere beschäftigt hatte, übernimmt von der vielbewunderten Skulptur
auch die Drehung des Oberkörpers und das Motiv des stabilen Sitzens.
Albrecht Dürer: Adam und Eva (1504); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Das Standmotiv der Eva
Tizians hat Erwin Panofsky als heimliches Dürer-Zitat bezeichnet, eine Anleihe
also aus dessen berühmtem Kupferstich Adam und Eva von 1504 (siehe meinen Post „Aus Göttern werden Menschen“). Bei Dürer ist
ebenfalls schon die Scham des ersten Menschenpaares wie zufällig von Blättern
verdeckt – Tizian übernimmt dieses Element. (Röntgenaufnahmen zeigen, dass
Tizian beide Figuren zunächst völlig nackt gemalt hatte.) Um auf den Dürer-Stich
als Quelle und Vorbild hinzuweisen, habe Rubens am linken Bildrand den roten
Papagei eingefügt, der nicht bei Tizian, aber in der Dürer-Grafik erscheint und
dort ebenfalls in der Nähe von Adams Kopf platziert ist.
Literaturhinweise
Bayerische
Staatsgemäldesammlungen (Hrsg.): Vorbild und Neuerfindung. Rubens im Wettstreit
mit Alten Meistern. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2009, S. 209-218;
Glang-Süberkrüb, Annegret: Einige Anmerkungen zu Tizians und Rubens „Sündenfall“. In:
Frank Büttner/Christian Lenz (Hrsg.), Intuition und Darstellung. Erich Hubula
zum 24. März 1985. Nymphenburger, München 1985, S. 117-128;
Panofsky, Erwin: Problems
in Titian. Mostly Iconographic. New York University Press, New York 1969, S.
27ff.; ELB = Revidierte Elberfelder Bibel (Rev. 26) © 1985/1991/2008 SCM R. Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
(zuletzt bearbeitet am 4. Juli 2018)