Gustave Courbet: Der Verzweifelte (1844/45); Privatsammlung |
Unterstrichen wird
der aufgewühlte Gemütszustand durch den asymmetrisch liegenden und daher eine
momentane Bewegung suggerierenden Kragen, ebenso durch das Falten schlagende,
locker fallende weiße Hemd, das den Hals freigibt. Auch die Lichtdramaturgie
trägt wesentlich zum Gesamteindruck bei: Hell erleuchtete und verschattete
Partien heben sich deutlich voneinander ab; dabei werden besonders die Stirn
und der linke Arm des Malers betont. „Sein linker Ellenbogen, der durch das
Anwinkeln des zum Kopf geführten Armes gegen den Betrachter, ja nahezu in
dessen Raum vorzustoßen scheint, ist Ballungspunkt des Lichts und nächster Kontaktpunkt
zum Rezipienten“ (Marchal 2012, S. 80). Der nicht näher bestimmte Hintergrund
ist in Brauntönen gehalten; in seiner glatteren Malweise hebt er sich von dem
mit sichtbarem, gröberen Pinselstrich angelegten Hemd ab.
Rembrandt van Rijn: Selbstbildnis mit offenem Mund (1630); Radierung |
Gefühlszustände wie
Angst, Entsetzen, Schrecken oder Wahnsinn vor dem Spiegel zu studieren und auf
der Leinwand festzuhalten – das kennt die Kunstgeschichte vor allem von
Rembrandt. Dessen Selbstbildnis mit
offenem Mund oder das Selbstbildnis
mit aufgerissenen Augen sind als Anregungen für Courbet auf jeden Fall zu
berücksichtigen. Ulrich Pfarr verweist als Vorbild außerdem als William Hogarths Rollenporträt des Schauspielers David Garrick von 1745, das als Kupferstich verbreitet wurde und in dem die kontrahierten Brauen den Gesichtsausdruck bestimmen. Die davon erzeugten Stirnfalten fehlen allerdings bei Courbet.
Rembrandt van Rijn: Selbst mit aufgerissenen Augen (1630); Radierung |
William Hogarth: David Garrick als Richard III. (1745); Liverpool, Walker Art Gallery (für die Großansicht einfach anklicken) |
Literaturhinweise
Herding, Klaus/Hollein, Max (Hrsg.): Courbet. Ein Traum von der Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, S. 110;Marchal, Stephanie: Gustave Courbet in seinen Selbstdarstellungen. Wilhelm Fink Verlag, München 2012, S. 78-84;
Pfarr, Ulrich: Wie sich das Innere zeigt. Introspektion und mimischer Ausdruck bei Courbet. In:
Klaus Herding/Max Hollein (Hrsg.), Courbet. Ein Traum von der Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, S. 26-30.
(zuletzt bearbeitet am 26. Februar 2021)