Donnerstag, 23. April 2015

Gib der Bestie Saures! – Der Augsburger Herkulesbrunnen von Adriaen de Vries


Adriaen de Vries: Herkulesbrunnen (1596–1602); Augsburg, Maximilianstraße
Adriaen de Vries (1556–1626) war in seiner Zeit ein international umworbener Bildhauer zwischen Spätrenaissance, Manierismus und Frühbarock. Sein Ruhm wird heute überstrahlt von seinem Lehrer Giovanni da Bologna (auch Giambologna genannt, 1529–1608), einem Niederländer aus dem katholischen Süden. Giambologna ließ sich 1553 in Florenz nieder, wurde herzoglicher Hofbildhauer und Großunternehmer und verließ die Stadt nie wieder. Seine Werkstatt war bald die einflussreichste in ganz Europa. Er zog einen internationalen Schülerkreis an, die seine plastischen Ideen (allen voran die „figura serpentinata“) in alle Welt trugen. Stilbildend wurde Giambologna auch durch seine serienmäßig produzierten kleinplastischen Werke. Im Gegensatz dazu konzentrierte sich Adriaen de Vries auf monumentale, ortsgebundene Werke. Die Niederländer Giambologna und Adriaen de Vries gelten heute als die bedeutendsten Bildhauer zwischen ihren italienischen Kollegen Benvenuto Cellini (1500–1571) und Gianlorenzo Bernini (1598–1680).
Adriaen de Vries war kein Sohn der Stadt Augsburg, aber er mehrte ihren Ruhm in Europa wie vielleicht nur die Kaufmannsdynastie der Fugger. Umgekehrt verdankte er den bürgerlich-patrizischen Stadtoberen wohl seinen größten Karrieresprung zum Kammerbildhauer Kaiser Rudolfs II. Sechs Jahre weilte der in Den Haag geborene Adriaen de Vries in Augsburg, bis er im Sommer 1602 sein neues Amt in Prag antrat. Dort blieb er bis zu seinem Tod im Jahr 1626.
Am 12. August 1596 schlossen die Augsburger mit Adriaen einen Vertrag über zwei zentral gelegene Brunnenprojekte; die Modelle hatte er gussfertig zu übergeben. Das Ergebnis seiner Arbeit waren der Merkur- und der Herkulesbrunnen, die der Künstler parallel in Angriff genommen hatte. Den Merkurbrunnen, zwischen 1596 und 1599 entstanden, werde ich zu einem späteren Zeitpunkt nochmals genauer betrachten; in diesem Post soll es um den aufwendigeren und deswegen erst 1602 vollendeten Herkulesbrunnen gehen. Die auf ihm platzierte Herkules-Hydra-Gruppe ist nach Maßen und Gewicht das größte Werk des Bildhauers und zählt in künstlerischer wie technischer Hinsicht zu seinen bedeutendsten Leistungen.
Die Hydra: ein überaus zähes Viech
Die über drei Meter große Statue zeigt Herkules, der die siebenköpfige Hydra erschlägt – die zweite der insgesamt zwölf Aufgaben, die der antike Heros im Auftrag des Königs Eurystheus zu vollbringen hatte. Sich mit dem linken Fuß am Plinthenrand abstützend, tritt Herkules mit dem rechten Fuß das sich heftig wehrende Ungeheuer nieder. Die geschuppte und geflügelte Hydra versucht einen Gegenangriff: Während sich das Untier mit der linken, mit sichelscharfen Krallen bewehrten Hintertatze gerade noch auf dem unteren Gesims abstützt, holt es im Rücken des Helden mit seiner linken Vorderpranke zum Schlag aus – der jedoch ins Leere geht. Oder ringt sie mit dem in die Luft gestreckten Vorderbein verzweifelt um Gleichgewicht? Denn Herkules hat mit seiner linken Hand den äußersten der schlangenartig sich windenden Bestienköpfe so an der Gurgel gepackt und zu sich herangezogen, dass er mit dessen langem Hals die anderen von sich wegdrücken kann. Gleichzeitig holt er mit der brennnenden Keule in seiner Rechten zu seinen tödlichen Hieben aus. Wütend und in wilder Gegenwehr haben die unterschiedlich gehörnten Köpfe, die wie eine Mischung aus Hund, Ziegenbock und Raubkatze erscheinen, ihre mit scharfen Zähnen besetzten Mäulern weit aufgerissen. Die Körper der beiden Gegner sind bis zum Letzten angespannt: Im nächsten Moment wird Herkules die Keule niederfahren lassen und das Ungeheuer tödlich getroffen vom Sockel stürzen.
Sichelscharfe Krallen – das kann unangenehm werden
Foto: Matthias Schaumlöffel
Am Gesims unterhalb dieser Gruppe sind an den Seiten Löwenmasken angebracht. Auf dem mittleren Gesims sitzen drei nackte Frauengestalten, die sich dort zum Bad niedergelassen haben: Die eine wringt ein Tuch aus, die andere hat ihre Beine übereinander geschlagen und benetzt aus einem Krug ihren rechten Fuß, die dritte streicht mit den Händen das Wasser aus ihren Haaren. Auf dem Brunnenpfeiler werden die drei Figuren inschriftlich Gratiae genannt: Es handelt sich also um die drei Grazien, die Göttinnen der Anmut, die in der antiken Mythologie immer zu dritt auftreten und zum Gefolge der Liebesgöttin Aphrodite gehören. Bei der dritten weiblichen Figur dürfte Adriaen ein Motiv seines Lehrers Giambologna übernommen haben, der es mehrfach verwendete, und zwar sehr ähnlich mit weit auseinander zugreifenden Händen, wie z.B. um 1570 bei dessen Fiorenza in der Villa Petraia bei Florenz.
Wer da badet, der darf auch nackend sein
Giambologna: Fiorenza (um 1570); Villa Petraia bei Florenz
Zu Füßen der Badenden fangen Muscheln, von volutengestützten Konsolen getragen, das Wasser auf, das als Schleier ins Brunnenbecken herabströmt. Zwischen den Frauen sind in die Seiten drei vergoldete Reliefs mit historischen bzw. allegorischen Darstellungen Augsburgs eingelassen. Unterhalb der Reliefs und des umlaufenden Gesimses stehen kleine geflügelte Putti an den Pfeilerseiten, die mit Gänsen ihr Spiel treiben: Einer bedroht das Federvieh mit einem Pfeil, der zweite würgt eine Gans mit der Sehne seines Bogens, der dritte tut das Gleiche mit einem Tuch. Mit Gänsen spielende oder „kämpfende“ Kinder waren bereits in der hellenistischen Skulptur ein beliebtes Thema (siehe meinen Post „Im Schwitzkasten“). 
Die Gans muss als Hydra herhalten
Die Augsburger Knaben sind durch ihre Flügel zugleich als Eroten gekennzeichnet. „Ausgestattet mit Pfeil, Bogen und Augenbinde, den Attributen Amors, scheinen sie in kindlichem Spiel mit den Gänsen Herkules nachzuahmen, Mit den Grazien als Hauptpersonen und den ihnen zugeordneten Nebenfiguren gleicht der Brunnenpfeiler einem locus amoenus, einem Ort, an dem eine idyllische, gar erotische Glücksstimmung herrscht“ (Emmendörffer 2000, S. 126). An den Ecken der Pfeilerbasis unterhalb der Muscheln münden die Voluten in Jünglingsbüsten mit je einem Delphin und einer Muschel in den Armen. Es handelt sich um sogenannte Tritonen, Meerwesen der antiken Mythologie. Mit ihrem rechten Arm halten sie ihren in Stein gehauenen, aufgerollten Fischleib.
Zum Ausstattungsprogramm des Brunnens gehören auch drei Tritonenbüsten
Der Herkulesbrunnen ist auf vielfältige Weise gedeutet worden. Der antike Heros gilt als Stammvater des Kaisers Augustus und ist damit auch für die römische Gründung der Stadt Augsburg bedeutsam. Außerdem kann Herkules als Symbol menschlicher Kulturleistung gesehen werden: Nachdem er die Hydra getötet hatte, legte er das Sumpfgelände, in dem das Untier lebte, trocken, um es urbar zu machen. In erster Linie dienen aber sowohl die mythologischen Figuren wie die Reliefs des Brunnens dazu, Augsburg selbst zu verherrlichen und ihre Qualitäten als prachtvolle, wehrhafte und wirtschaftlich blühende Stadt hervorzuheben.
Das Original der Herkules-Hydra-Gruppe ist aus konservatorischen Gründen inzwischen im glasüberdachten Innenhof des Augsburger Maximilianmuseums untergebracht; Foto: Wolfgang Bazer (für die Großansicht einfach anklicken)

Literaturhinweise
Emmendörffer, Christoph: Adriaen de Vries. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. In: Björn R. Kommer (Hrsg.), Adriaen de Vries: 1556–1626. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. Umschau Braus Verlagsgesellschaft, Heidelberg 2000, S. 121-132;
Hirschfeld, Peter: Najaden oder Weibsbilder? Bemerkungen zu Adrian de Vries Herkulesbrunnen in Augsburg. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 43 (1980), S. 54-64.

(zuletzt bearbeitet am 21. April 2020)

Donnerstag, 16. April 2015

Vier Frauen heben ab – Pontormos „Heimsuchung“


Pontormo: Heimsuchung (1528/29); Carmignano, San Michele
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Der italienische Maler Jacopo Carrucci (1494–1557), nach seinem Geburtsort in der Toskana Pontormo genannt, gilt zusammen mit Rosso Fiorentino (1494-1540) als einer der Hauptvertreter des früheren Florentiner Manierismus. Pontormos Heimsuchung, 1528/29 für die Dorfkirche (San Michele) in Carmignano gemalt, zeigt die Begegnung zwischen der schwangeren Maria und ihrer ebenfalls schwangeren Cousine Elisabeth, von der uns im Lukas-Evangelium berichtet wird (1,39-45). Elisabeth war unfruchtbar und „hochbetagt“ wie ihr Mann, der Priester Zacharias. Als dieser im Tempel von Jerusalem seinem Amt nachgeht, kündigt ihm der Erzengel Gabriel die Geburt eines Sohnes an. Zacharias kann das nicht recht glauben, und so lässt der Engel den Prister stumm werden „bis zu dem Tag, an dem dies geschehen wird“ (Lukas 1,20; LUT). Und Elisabeths Bauch wächst tatsächlich. Monate später erhält sie Besuch von ihrer jungen Verwandten Maria, die auf noch ungewöhnlichere Weise schwanger geworden ist (Lukas 1,26-38). Das Kind in Elisabeths Schoß hüpft bei dieser Begegnung vor Freude – es wird Johannes heißen, Marias Sohn Jesus den Weg bereiten und ihn im Jordan taufen (Lukas 3,1-22).
Michelangelo: Persische Sibylle (um 1509); Rom, Sixtinische Kapelle
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Pontormos Gemälde zeigt vier Frauengestalten; neben der eigentlichen Begrüßung zwischen Elisabeth und Maria sind es vor allem der bewegte Faltenwurf und die leuchtenden Farben der Gewänder, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen. Beides geht ohne Frage auf Michelangelos Fresken in der Sixtina zurück. Die Vierergruppe scheint „von geheimer Kraft vom Boden gehoben und wie Montgolfieren mit geblähten Gewändern zu schweben“ (Polaczek 1994). Umgeben sind die Figuren von einer Architektur, die wie Kulissen für einen Film wirkt. Leicht zu übersehen sind zwei weit entfernte, winzig kleine männliche Gestalten am linken Bildrand, die vor einem rundbogigen Portal sitzen. Über ihre Bedeutung rätseln die Kunsthistoriker bis heute. Die Stufen rechts führen zu einem nahe gelegenen Eingang, der wohl zum Haus des Zacharias gehören dürfte; links dagegen fluchtet ein mehrstöckiges, palastähnliches Gebäude jäh in die Tiefe.
Maria und Elisabeth berühren einander sacht, auf Rippenhöhe und an der Schulter. Es ist, als wollten die beiden zu einem Reigen ansetzen. Denn so ernst sie sich in die Augen schauen, so gelöst sind ihre Bewegungen – Elisabeth scheint mit ihrem linken Fuß geradezu zu tänzeln. Diese Leichtigkeit überrascht auch deshalb, weil Marias Cousine die 50 überschritten haben dürfte: Pontormo übergeht keine Falte in ihrem Gesicht und zeigt auch die erschlaffende Haut am Doppelkinn; er kontrastiert sehr bewusst die junge, idealschöne mit der älteren, realistisch gesehenen Frau.
Pontormo hat Maria und Elisabeth in Seiten-, die zwei Begleiterinnen hinter ihnen in Vorderansicht wiedergegeben. Diese beiden Frauenfiguren sind rätselhaft, denn sie werden im biblischen Bericht (Lukas 1,39-45) nicht erwähnt und kommen auch sonst in der Ikonografie dieser Szenen nicht vor. Auch sie scheinen, wie Elisabeth, auf den Zehenspitzen fast zu schweben. Möglicherweise handelt es sich um eine kunstvolle Verdopplung der Hauptpersonen, um eine Simultandarstellung derselben Figuren in einem Bild.
Albrecht Dürer: Vier nackte Frauen (1497); Kupferstich
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Die drei Grazien (römische Marmorkopie eines hellenistischen Originals); Paris, Louvre
Pontormo ließ sich in den Jahren nach 1520 zunehmend von der Grafik Albrecht Dürers beeinflussen. So geht die Anregung zur Gruppierung der vier Frauengestalten auf Dürers Radierung Vier nackte Frauen zurück (siehe meinen Post „Dürers nackte Frauen“), die ebenfalls von unterschiedlichen Seiten zu sehen sind. Sowohl Dürers als auch Pontormos Darstellungen varriieren das antike Thema der Drei Grazien, mit dem Pontormo sich zuvor auch in Zeichnungen beschäftigt hatte. Das Motiv der einander umarmenden Frauen wiederum ist vom Holzschnitt der Heimsuchung aus Dürers „Marienleben“ übernommen.
Albrecht Dürer: Heimsuchung (um 1503/04); Holzschnitt
Literaturhinweise
Falciani, Carlo/Natali, Antonio (Hrsg.): Pontormo and Rosso Fiorentino. Diverging Paths of Manierism. Mandragora, Florenz 2014, S. 288;
Krystof, Doris: Jacopo Carrucci, genannt Pontormo. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1998;
Nigro, Salvatore S.: Pontormo. Il Libro mio/Zeichungen/Fresken/Gemälde. Schirmer/Mosel, München 1996;
Polaczek, Dietmar: Ungezähmt und bodenlos. Zwei toskanische Rebellen: Rosso Fiorentino und Pontormo. In: F.A.Z. vom 28. Oktober 1994;
Schneider, Norbert: Die antiklassische Kunst. Malerei des Manierismus in Italien. LIT Verlag, Berlin/Münster 2012, S. 94;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 20. August 2018)

Dienstag, 14. April 2015

Günter Eich: Munch, Konsul Sandberg

Edvard Munch: Konsul Christen Sandberg (1901); Oslo, Munch-museet
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Munch, Konsul Sandberg

Die Möglichkeit,
daß die Welt aus Farben besteht,
erfüllt mich mit Verachtung.
Ich hätte das Eis dazu erfunden
und die Hitzegrade,
in denen Metalle verdampfen.
Sieh mich doch an:
Ich bleibe auf deiner Leinwand,
ein Albtraum von Zuversicht,
Erfolg in Hosenbeinen
und spitzen Stiefeln,
die Komödien des Todes
werden gespielt für mein Gelächter.
In meinem Mund
halt ich den Speichel bereit
für eure Hoffnung.

Günter Eich

(aus: Günter Eich, Sämtliche Gedichte. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, S. 198)