Samstag, 30. November 2024

Hinters Licht geführt – Caravaggios „Wahrsagerin“ aus dem Louvre


Caravaggio: Die Wahrsagerin (1596/97); Paris, Louvre (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Wahrsagerin, um 1596/97 entstanden, ist eines der frühen Halbfigurenbilder Caravaggios, auf denen die Personen nahe und lebensgroß an den Betrachter herangerückt werden. Rechts sehen wir einen vornehm gekleideten jungen Herrn, der sich nach links einer ebenfalls jungen Frau zuwendet – einer Zigeunerin, die ihm die Zukunft aus der Hand liest. Der Jüngling trägt ein hellbraunes, deutlich gemustertes Damastwams, über dem am Hals ein gerüschter Kragen liegt, einen dunklen Federhut sowie einen über die Schulter geworfenen Umhang. Außerdem ist er mit einem Degen ausgestattet (einem Reiterschwert). Den rechten Lederhandschuh hat er abgestreift, um der Zigeunerin seine Handfläche zu zeigen. Die Wahrsagerin blickt ihn aus den Augenwinkeln an, während sie mit geschlossenem Mund ebenso verlockend wie undurchsichtig lächelt. Caravaggio hat den Oberkörper des jungen Mannes schräg ins Bild gestellt, die Frau hingegen beinahe parallel zur Bildfläche ganz leicht mit ihrem Körper in die Gegenschräge gerückt, ihr Kopf ist in Dreiviertelansicht wiedergegeben. Beiden Figuren ist ziemlich genau eine Bildhälfte vorbehalten. Wo die Szene genau stattfindet, lässt sich nicht benennen; der Hintergrund wird von einer bräunlich-gelben Fläche gebildet mit schräg von links oben nach rechts verlaufenden Schattenstreifen.
Die Wahrsagerin trägt, verglichen mit dem jungen Stutzer neben ihr, schlichtere Kleidung: einen dunkelgrünen Überwurf, der über der rechten Schulter durch einen Knoten zusammengehalten wird und dessen dunkelrotes Futter nach außen geschlagen ist, eine weiße, plissierte Bluse mit weiten Ärmeln und schmalem, schwarz bestickten Kragen und ein streng um das Kinn gebundenes, ebenfalls schwarz besticktes Kopftuch. Dabei handelt es sich tatsächlich um die traditionelle Tracht der Zigeunerinnen in Südeuropa – allerdings hat ihr Gewand nichts Armseliges an sich.
Behutsam hält die Wahrsagerin die nach oben gekehrte rechte Hand des Jünglings mit vier Fingern ihrer Linken an Gelenk und Handballen; mit den Fingern der Rechten hat sie wohl soeben seine „Liebeslinie“ studiert und deutet sie dem Kunden nun. An seiner Zukunft ist der elegante Kavalier aber wohl gar nicht wirklich interessiert. Was er viel eher sucht, so Jürgen Müller, verdeutlicht sein regelrecht in den Betrachterraum hineinragender Degengriff. Neben dem direkten Blick der jungen Frau und ihrem einnehmenden Lächeln ist es vor allem die Berührung seiner rechte Hand, die ihn bezaubert. „Dass ihre Zärtlichkeit nicht ohne Folgen bleibt, zeigt einmal mehr der Degengriff“ (Müller 2010, S. 160). Der Jüngling scheint nicht nur das Lächeln der Zigeunerin als Einladung zu verstehen, sondern ist auch von den schönen Augen der Zigeunerin so gefesselt, dass er nicht mehr auf seine Hand achtet. Dabei entgeht ihm – dass er gerade bestohlen wird. Der freundlich dreinschauenden Wahrsagerin ist nicht anzusehen, was sie im Schilde führt: Während sie mit ihrem Zeigefinger die Mittelfinger-Wurzel seiner Hand berührt, streift sie ihm heimlich mit ihren gekrümmten Fingern einen Ring ab. Die junge Frau ist eine Betrügerin, die dem jungen Mann nicht nur ein zweifelhaftes Horoskop ausstellt, sondern ihn obendrein noch um ein Schmuckstück erleichtert. Aber auch wir als Betrachter werden getäuscht, denn wir sind mit unserem Blick ebenso gefangen vom Dialog der Blicke zwischen der Zigeunerin und dem jungen Mann und vermögen uns dem spannungsreichen Reiz von Anziehung und Verführung kaum zu entziehen. So entdecken auch wir erst spät, wenn überhaupt, dass sich das eigentliche Geschehen in der Hand des Mannes abspielt, aber doch ganz anders, als dieser vermeint ... „So planvoll der Betrachter in die auf ihn hin offene Zweiergruppe einbezogen und dabei sein Augenmerk ganz auf den Austausch ihrer Blicke gelenkt wird, so planvoll wird seiner Aufmerksamkeit zugleich der Diebstahl des Ringes in der verschatteten Partie unter der Hand der Zigeunerin entzogen“ (Krüger 2006, S. 32).  
Der in die Hüfte gestützte Arm mit dem ausgreifenden Ellenbogen stellt ein Selbstbewusstsein des abenteuerlustigen Jünglings zur Schau, das nicht unbedingt mit Lebenserfahrung gepaart ist und sich deswegen als aufgesetzt erweist. Wir haben es hier mit einem naiven, wohlbehüteten, fernab aller Armut und Not aufgewachsenen Burschen zu tun, den man ohne große Mühe zu täuschen vermag. Handschuhe und Degen sind Insignien seiner adligen Herkunft, doch verweist der ausgezogene Handschuh gleichzeitig auch auf die entblößte und schutzlose Rechte, „die sich wie von der Figur abgeschnitten und durch den schwarzen Kontur des Umhangs von ihr isoliert im Bereich der Zigeunerin befindet“ (Raabe 1996, S. 65). Oder lässt sich der junge Mann vielleicht nur allzu bereitwillig betrügen? Lässt er den Diebstahl bewusst zu? „Denn wie anders wollte man seinen melancholischen Blick erklären, wenn nicht dadurch, dass der Ring mit einem Treuegelöbnis in Verbindung steht, das dieser Kavalier nun zu brechen bereit ist“ (Müller 2010, S. 164).
Caravaggio: Die Falschspieler (1594/95); Fort Worth, Kimbell Art Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Gesichtszüge des jungen Mannes ähneln dem naiven Opfer aus Caravaggios früherem Genrebild Die Falschspieler. In der Wahrsagerin sind sie noch rundlicher – und denen der jungen Frau angeglichen. Dadurch wirken die beiden „wie ein Paar in froher Zweisamkeit“ (Brassat 2006, S. 118). Caravaggio verstärkt den Eindruck, dass es sich hier um eine erotische Annäherung handelt, zusätzlich durch seine Lichtregie: „In addition, the artist insistently draws the viewer’s attention to the axis linking the two actors’ gazes, by casting the diagonal shadow of a window frame onto the wall serving as a backtop“ (Pericolo 2011, S. 153). Doch der Schein trügt: Wie der herausgeputzte Jüngling werden auch wir als Betrachter hinters Licht geführt. Aber darin besteht ja bis heute zu einem großen Teil der Reiz des Bildes. Getäuscht werden und die Täuschung erkennen bereitete dem Kunstliebhaber damals wohl das eigentliche Vergnügen bei der Betrachtung dieses Gemäldes. Die private Sammlung war dafür der ideale Ort, wo man sich gesellig vor einem Kunstwerk versammelte und darüber ins Gespräch kam.
Doch die damaligen Betrachter waren noch in einem weiteren Punkt die Gefoppten: Wolfgang Brassat betont, Grundpfeiler der Renaisancekunst sei das Vertrauen in die Identität von äußerer Schönheit und innerer Tugend gewesen (Brassat 2006, S. 118). Dieses Denkmuster, nach dem Schönheit ein Zeichen von Güte und Hässlichkeit von schlechtem Charakter ist, stellt Caravaggio mit seiner liebreizenden Zigeunerin auf den Kopf. Das muss die damaligen Betrachter irritiert haben, und die Maler, die im Fahrwasser Caravaggios zahlreiche Wahrsagerinnen und Falschspieler schufen (wie etwa Georges de La Tour), haben diese Figuren deswegen auch wieder mit Gesichtszügen versehen, die über ihre charakterlichen Mängel keinen Zweifel ließen.
Georges de La Tour: Die Wahrsagerin (um 1635); New York, Metropolitan Museum of Art
Den Ring selbst hat Caravaggio in seinem Bild nur zart angedeutet, heute ist er kaum noch zu erkennen, zumal er im Schatten der Handfläche sitzt. Auch wir als Betrachter bemerken ihn und damit den Diebstahl erst beim zweiten Hinsehen – wenn überhaupt. Am ehesten sieht man ihn noch, wenn man direkt vor dem Original steht. Das hängt im Louvre, unweit der ständig umlagerten Mona Lisa und deswegen meist unbeachtet. Es existiert noch eine weitere Version der Wahrsagerin, die sich heute im Museo Capitolino in Rom befindet und von den meisten Forschern als eine frühere Fassung betrachtet wird.
Caravaggio: Die Wahrsagerin (1595); Rom, Museo Capitolino (für die Großansicht einfach anklicken)
Haben wir es bei der Wahrsagerin mit einem Genrebild zu tun, das uns ein „Alltagsdrama“ zeigt? Es spricht auch einiges für eine erotische Lesart des Gemäldes  – oder ist es vielleicht sogar religiös besetzt? Wo Verführung und Betrug im Spiel sind, könnte mit dem jungen, begüterten Stutzer auch der verlorene Sohn aus dem Gleichnis Jesu gemeint sein (Lukas 15,11-32), der in der Fremde sein ererbtes Vermögen verprasst. Willi Hirdt wiederum verortet den Stoff im Bereich der italienischen Komödie, und zwar in der Gattung der zingaresca, einer Farce, die während der Karnevalszeit in Städten und auf dem Land vor einem höchlich begeisterten Publikum auf Ochsenkarren oder improvisierten Bühnen gesungen und gespielt wurde (Hirdt 1998, S. 93).
Die Interpretation eines solchen Bildes ist jedenfalls nicht zu trennen von der Praxis eines „lauten Betrachtens“, das sei nochmals betont: „Die Dramaturgie der Bilderzählung rechnet mit einer dialogischen Auslegung, in der verschiedene Deutungsoptionen ausgesprochen werden. Die Entdeckungen werden umso amüsanter, wenn man sie einem zweiten oder dritten Beobachter mitteilen kann“ (Müller 2010, S. 167).
Simon Vouet: Die Wahrsagerin (1617), Rom, Galleria Nazionale d’Arte Antica
Der französische Maler Simon Vouet (1590–1649) hat 1617 in Rom ein Gemälde ausgeführt, für das ohne Frage Caravaggios Bild die Vorlage gewesen ist. Vouet erweitert das Motiv allerdings noch um eine zweite, ältere Frau und gestaltet die Szene zu einer eindeutigen Angelegenheit für den Betrachter: Ihm gilt das Handzeichen, das die diebische Alte hinter dem Rücken des in lustvoller Erregung abgelenkten Handwerkers macht – der zwischen Zeige- und Mittelfinger gesteckte Daumen ist eine ebenso bekannte wie unmissverständliche Geste. Sie könnte andeuten, wodurch die junge Frau ihr Gegenüber in ihren Bann schlägt (möglicherweise durch sexuelle Andeutungen in ihrer Prophezeiung), aber auch als Schmähung gemeint sein.

Literaturhinweise

Brassat, Wolfgang: Schulung ästhetischer Distanz und Beobachtung dritter Ordnung. Werke Caravaggios in rezeptionsästhetischer und systemtheoretischer Sicht. In: Steffen Bogen u.a. (Hrsg.), Bilder – Räume – Betrachter. Festschrift für Wolfgang Kemp zum 60. Geburtstag, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2006, S. 108-129; 
Feigenbaum, Gail: Gamblers, Cheats, and Fortune-Tellers.
In: Philip Conisbee (Hrsg.), Georges de La Tour and His World. Yale University Press, New Haven and London 1996, S. 149-181;
Feigenbaum, Gail: Perfectly True, Perfectly False: Cardsharps and Fortune Tellers by Caravaggio and La Tour. In: Lorenzo Pericolo/David M. Stone (Hrsg.), Caravaggio. Reflections and Refractions.
Ashgate, Burlington 2014, S. 235-271;

Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 1996 und 2007, S. 33-35;
Hirdt, Willi: Caravaggios Wahrsagende Zigeunerin. Versuch einer Deutung. In: Willi Hirdt, Lesen und Sehen. Aufsätze zu Literatur und Malerei in Italien und Frankreich. Stauffenberg Verlag, Tübingen 1998, S. 75-111; 
Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusionen in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. Wilhelm Fink Verlag. München 2001, S. 256-257;

Krüger, Klaus: Das unvordenkliche Bild. Zur Semantik der Bildform in Caravaggios Frühwerk. In: Jürgen Harten und Jean-Hubert Martin (Hrsg.), Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, S. 24-35;

Langdon, Helen: Falschspieler, Zigeuner und Hausierer. In: Beverly Louise Brown (Hrsg.), Die Geburt des Barock. Belser Verlag, Stuttgart 2001, S. 44-65;
Müller, Jürgen: Weitere Gründe dafür, warum die Maler lügen. Überlegungen zu Caravaggios Handlesender Zigeunerin aus dem Louvre. In: Steffen Haug u.a. (Hrsg.), Arbeit am Bild. Ein Album für Michaels Diers. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2010, S. 156-167;
Pericolo, Lorenzo: Money and Sedection: Narrative Patterns in Caravaggio’s Two Versions of The Fortune Teller.
In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers, Turnhout 2011, S. 135-155;

Raabe, Rainald: Der Imaginierte Betrachter. Studien zu Caravaggios römischem Werk. Georg Olms Verlag, Hildesheim 1996, S. 60-69.

(zuletzt bearbeitet am 30. November 2024)

Mittwoch, 13. November 2024

Vorgeführt – Lovis Corinths „Ecce Homo“ von 1925

Lovis Corinth: Ecce Homo (1925); Basel, Kunstmuseum

Ecce Homo ist das letzte Historienbild des deutschen Malers und Grafikers Lovis Corinth (1858–1925); es entstand 1925, vor einer Reise nach Holland, auf der ihn der Tod überraschen sollte. Das Gemälde erzählt vom Moment nach Geißelung, Dornenkrönung und Verspottung Jesu, der nun vor dem Gerichtsgebäude des Pilatus mit den Worten „Sehet, welch ein Mensch“ (Johannes 19,5; LUT) vor dem Volk zur Schau gestellt wird. Daraufhin fordern die Hohepriester und deren Knechte seine Kreuzigung.

In zwei Tagen hatte Corinth die Hauptgestalt gemalt, je einen Tag benötigte er für die Nebenfiguren, die erregte Volksmasse ist weggelassen. Die drei Personen sind in Ganzfigur und leicht überlebensgroß in der vordersten Bildebene dargestellt. Wir sehen den jugendlichen Christus mit Dornenkrone, blutüberströmt, in roter Toga und vor dem Körper über Kreuz gefesselten Händen. In seiner Rechten hält er eine Rute als spöttischen Ersatz für das Königszepter. Jesus wird von einem grobschlächtigen, großen Soldaten an einem Seil vorgeführt, das dieser fest in der Hand hält. Der Soldat trägt den Brustpanzer einer Ritterrüstung und hohe Stiefel: „Dieses unpassende Kostüm ist ein Stilbruch, der das Theatralische der Szene bewusst macht: gemaltes Passionsspiel mit Laiendarstellern“ (Wyss 2008, S. 318).

Wir kennen die Namen der Beteiligten: Leo Michelson, ein Schüler Corinths, spielt den Christus, der Maler Paul Paeschke den geharnischten Schergen. Pilatus trägt die Züge des Schriftstellers Michael Gusemann; er ist jedoch nicht mit der weißen Tunika des Richters bekleidet, der von sich sagt, er wasche seine Hände in Unschuld, sondern mit dem Malerkittel Corinths, bekannt von Selbstporträts an der Staffelei. Für Lothar Brauner sind die drei Figuren „Symbolgestalten des Zweifels und der Unsicherheit (Pilatus), des Stumpfsinns und der Barbarei (der Kriegsknecht) und der geschundenen Menschheit (Christus)“ (Brauner 1996, S. 320). Auch das Bild selbst wurde ein Opfer der Barbarei, als es 1937 von den Nationalsozialisten als „entartet“ beschlagnahmt und in der diffamierenden Ausstellung „Entartete Kunst“ – zuerst in München – gezeigt wurde. 1939 konnte es mit einem Sonderkredit der Basler Regierung für das Kunstmuseum Basel erworben werden und blieb so erhalten.

Corinths Gemälde wird dominiert vom harten Rot-Schwarz-Kontrast des Umhangs Jesu und der Rüstung des Soldaten; Pilatus, der mit seiner Rechten auf den Gefangenen zeigt und mit der linken Hand beschwörend nach oben weist, wirkt dagegen farblich an den Rand gedrängt. Sein mit Blau durchsetztes helles Gewand „trägt mit bei zur Charakterisierung seiner Schwäche, Ohnmacht und Farblosigkeit“ (Stückelberger 1996, S. 180). Pilatus und der Soldat werden von den Bildrändern links und rechts angeschnitten, wodurch „ein Gefühl der Enge, des In-die-Enge-Getrieben-seins“ entsteht (Stückelberger 1996, S. 180).

Die wuchtige dunkle Masse des Soldaten drängt Jesus regelrecht nach links. Diese Bewegung wird noch verstärkt durch die Schrittstellung des Soldaten sowie dadurch, dass er in die gleiche Richtung blickt. Zudem befinden sich die Köpfe der drei Figuren auf einer nach links abfallenden Linie. Dass Jesus abgedrängt wird, ist nicht zuletzt an der Rute in seiner Rechten ablesbar, die genau die Mittelachse des Bildes markiert. Der Körper Jesu befindet sich am unteren Bildrand präzis in der Mitte des Bildes, gegen oben verschiebt er sich jedoch mehr und mehr von der Achse weg nach links: „Die Auslieferung des Angeklagten an das Volk ist unabwendbar“ (Stückelberger 1996, S. 180).

Corinth präsentiert uns die drei Figuren in Untersicht und intensiviert diese Perspektive noch durch die vom Bildrand abgeschnittenen Füße. Leicht erhöht, gut sichtbar, wird Jesus dem Volk vorgeführt. „Daß Pilatus in eine andere Richtung blickt als Jesus und der Soldat, vermittelt dem Betrachter das Gefühl, nicht allein vor dem Bild zu stehen, sondern Teil der Volksmenge zu sein, die schreit: »Kreuziget ihn!« (Stückelberger 1996, S. 180).

Lovis Corinth: Aquarell-Skizze (1913); Zürich, Eidgenössische Technische Hochschule
Lovis Corinth: Ecce Homo (1925); Radierung

Corinth entwickelte sein Gemälde nach einer aquarellierten Skizze, die er zwölf Jahre zuvor angefertigt hatte und die der Komposition des Gemäldes sehr nahe kommt. 1925 wiederholte er das Motiv zudem in einer Kaltnadelradierung.

 

Literaturhinweise

Francini, Esther Tisa: Ein künstlerisches Vermächtnis. Verfemung und Rettung von Lovis Corinths »Ecce Homo«. In: Uwe Fleckner (Hrsg.), Das verfemte Meisterwerk. Schicksalswege moderner Kunst im »Dritten Reich«. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 197–224;

Brauner, Lothar: Ecce Homo, 1925. In: Klaus-Peter Schuster u.a. (Hrsg.): Lovis Corinth. Prestel-Verlag, München/New York 1996, S. 320;

Stückelberger, Johannes: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. Wilhelm Fink Verlag, München 1996, S. 179-180;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.