Mittwoch, 12. März 2025

Aus Göttern werden Menschen – Albrecht Dürers Kupferstich „Adam und Eva“

Albrecht Dürer: Adam und Eva (1504); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Eine der berühmtesten Darstellungen des Sündenfalls, wie ihn die Bibel in 1. Mose 3,1-24 schildert, ist Albrecht Dürers (1471–1528) Kupferstich Adam und Eva von 1504. In ihm verbinden sich Dürers Bemühungen um das klassische Schönheitsideal der Antike mit einer alttestamentlichen Thematik. Adam und Eva wirken wie zwei voneinander unabhängige Proportionsstudien von Mann und Frau. Ihre Posen beruhen auf Dürers Kenntnis der antiken Skulptur, genauer: des Apoll vom Belvedere und der Venus Medici. 
Apoll vom Belvedere (1489 aufgefunden); Rom, Vatikanische Museen
Dürers Ziel ist es, die idealen Proportionen der alten Götterfiguren auf die eigenen frommen Bilderfindungen zu übertragen: „Dan zw gleicher weis, wy sy (die antiken Künstler) dy schönsten gestalt eines menschen haben zw gemessen jrem abgott Abblo (Apollo), also wollen wyr dy selb mos (Maß, Proportion) prawchen zw Crysto dem herren, der der schönste aller welt ist. Vnd wy sy prawcht haben Fenus (Venus) als das schönste weib, also woll wir dy selb zirlich gestalt krewschlich (zart) darlegen der aller reinesten jungfrawen Maria, der muter gottes. Vnd aws dem Erculeß (Herkules) woll wir den Somson (Simson) machen, des geleichen wöll wir mit den andern allen tan“ (Rupprich 1956, S. 104).
So wird aus Apoll nun der biblische Stammvater, nackt ohne Scham, würdevoll, Krone der ihn umgebenden Natur. Die Liebesgöttin Venus verwandelt sich in die Stammmutter der Menschheit, die Adam gleichwertig und gleich schön gegenübertritt. Diese Gleichberechtigung ist kein Zufall, sie dient dem Thema: „Sie versinnbildlicht einen letzten gemeinsamen Augenblick paradiesischer Unschuld“ (Rebel 1996, S. 194). Adam und Eva befinden sich noch im gottesebenbildlichen Zustand ante culpam, die verbotenen Früchte sind noch nicht angebissen – Dürer inszeniert den Moment vor der Selbstüberhebung des Menschen. Unmittelbar danach wird sich alles ändern, Paradies heißt dann Welt.
„Mit den Prototypen der Menschheit, Adam und Eva, war das physische Urbild Gottes auf die Welt abgespiegelt. Durch die Ursünde war es verlorengegangen oder als bloßer schwacher Nachhall, als Bruchstück in den Schönheiten der Welt erhalten geblieben. Dieses Urbild ist das Ideal von Schönheit. Indem es der Künstler über die Grundsätze der Proportion sichtbar macht, wiederholt er den ersten Schöpfungsakt symbolisch und anschaulich. Hierin, immer wieder in dieser Gottesanalogie, hat das Kunstideal Dürers seinen Ausgangs- und Endpunkt“ (Rebel 1996, S. 196).
Venus Medici (1618 in der Villa des römischen Kaisers Hadrian aufgefunden); Florenz, Uffizien
Der Kupferstich präsentiert das erste Menschenpaar streng frontal und in elegantem Kontrapost, die Köpfe im Profil, ohne jede Überschneidung. Obwohl sich ihre Oberkörper leicht zueinander neigen, kommt es zu keiner Berührung zwischen Mann und Frau, und es werden auch keine Emotionen sichtbar. Nah an den Bildvordergrund gerückt, stehen die Aktfiguren symmetrisch links und rechts vom Baum der Erkenntnis, der die genaue Mittelachse der Komposition bildet. Adam wirkt größer als Eva, weil sie einen Schritt näher am Bildrand steht als ihr Partner. Mit seiner rechten Hand umfasst Adam den Ast einer Eberesche, in der Erwin Panofsky den Baum des Lebens sieht (1. Mose 2,9). An ihm hängt ein Inschriftentäfelchen, direkt daneben sitzt ein Papagei. Ein weiterer Zweig desselben Baums bedeckt Adams Geschlecht. Evas Scham wird ebenfalls von einem Zweig verhüllt; er befindet sich noch an der Frucht, die sie hinter ihrem Körper verborgen hält. Die Blätter dieses abgebrochenen Zweiges wirken welk im Vergleich zu dem frischen Laub bei Adam. 
Adam sieht Eva an; Eva nimmt gerade eine zweite Frucht  aus dem Maul der gekrönten Schlange entgegen, auf die auch ihr Blick – leicht nach unten gesenkt – gerichtet ist. Adams ausgestreckter linker Arm und geöffnete Hand ragen hinein in Evas Bildhälfte – ein Gestus, mit dem er die Frucht hinter Evas Rücken einzufordern scheint. Damit hätten Adam und Eva zu gleichen Teilen den Sündenfall verschuldet. 
Christian Schoen sieht in Adams Arm- und Handhaltung zugleich aber auch eine Annäherung an Evas Geschlecht. Sündenfall und sexuelles Verlangen werden miteinander verknüpft: „In dem Moment, in dem Eva ihm den Apfel aushändigte, würde sie entblößt“ (Schoen 2001, S. 111). Und verlängerte man Evas Blickachse, so wären „ihre Augen auch auf Adams verdecktes Geschlecht gerichtet“ (Schoen 2001, S. 112), was folglich Adams fordernder Geste entsprechen würde. Adams Griff nach der Eberesche wiederum bedeutet nicht, dass er dort Halt sucht – darin offenbart sich vielmehr seine Hybris: Er umfasst den Ast vom Baum des Lebens, weil er beansprucht, „zu sein wie Gott und zu wissen, was gut und böse ist“ (1. Mose 3,5).
Thomas Schauerte hat noch eine andere Deutung zu Dürers Sündenfall-Darstellung vorgelegt: Eva halte in ihrer linken Hand keine Frucht vom Baum der Erkenntnis, sondern eine, deren Genuss stets erlaubt war (1. Mose 3,2). Eine solche Frucht verlange Adam von ihr – doch Eva reiche ihm stattdessen die verbotene. Aus dieser Sicht würde der Kupferstich dann die „Hauptschuld“ bei Eva belassen, Adam wäre vor allem der Verführte.
Darin besteht die Ursünde: sein wollen wie Gott
Dürer hat die beiden Gestalten marmorhaft vor den düsteren Hintergrund eines Waldes platziert, der wie ein heimischer Urwald anmutet. „Wie eine lichtundurchlässige, vegetabile Folie hinterfängt dieser die hellen Leiber und nimmt nahezu das gesamte Bild ein“ (Schoen 2001, S. 5). Panofsky sieht darin eine Anlehnung an Antonio Pollaiuolos berühmten Kupferstich Kampf zehn nackter Männer von 1470/75. Lediglich in der rechten oberen Bildecke wird der Blick in die Ferne freigegeben. Die wohlgeformten Körper des ersten Menschenpaars stehen in offensichtlichem Kontrast zum dunklen Gewirr der knorrigen Baumstämme und zur niederen Kreatur, die sich im Dämmerlicht des Waldes bewegt. Zu Dürers Zeit war der Wald ein Ort des Unzivilisierten, der ungebändigten Naturkräfte, an dem Gefahren lauern. Die darin angesiedelten Tiere dürften in diesem Zusammenhang auf die triebhafte Natur des Menschen anspielen. „Die Aktfiguren dagegen vertreten die durch den Geist Gottes bzw. den Künstler geformten Mensch-Wesen, deren Natur gebändigt, gestaltet ist, abgehoben vom und im Kontrast zum natürlich Wuchernden. Die offensichtlich vorbildhafte »Gestaltetheit« der Ureltern ist Ausdruck ihrer Gottebenbildlichkeit, die sie im und durch den Sündenfall einbüßen werden“ (Bonnet 2014, S. 43).
Antonio Pollaiuolo: Kampf zehn nackter Männer (1470/75); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Nach alter Tradition verkörpern die Tiere im Vordergrund die vier Temperamente: Die Katze steht für die cholerische Grausamkeit, das Kaninchen für die sinnenfroh-fruchtbare Sanguinik, der Ochse für phlegmatische Schwerfälligkeit, der Elch für melancholischen Trübsinn. Im Zustand der Unschuld lagen einst all diese Kräfte miteinander in Harmonie, Adam und Eva waren ursprünglich von ihnen unbeeinflusst. Nach dem Sündenfall verlor das erste Menschenpaar sein harmonisches Gleichmaß und glich sich den so oder so gearteten Tieren an. Die Adams und Evas der Zukunft konnten nun zu wilden Löwen, schlauen Füchsen, verlogenen Schlangen und gierigen Wölfen verkommen ... Gottes Ebenbild zerbrach zum Chaos tierischer Ähnlichkeiten. Auch Katz und Maus zu Füßen der Stammeltern, kurz vor ihrer Feindschaft, sind in Bezug auf die Ureltern zu verstehen: Sie verweisen auf das Spannungsverhältnis der Geschlechter, das bis heute besteht. Der Papagei wiederum ist als Marien-Symbol zu verstehen und nimmt als solches die Aufhebung der Erbsünde durch die Gottesmutter vorweg: das »Ave« des Engelgrußes bei der Verkündigung, das die Menschwerdung Christi einleitet, ergibt in der Umkehrung der Buchstaben »Eva« (Bonnet 2014, S. 32).
Wie Pollaiuolo hat Dürer seinen Kupferstich auf dem Holztäfelchen mit einer lateinischen Inschrift versehen: Heißt es bei dem italienschen Künstler OPVS ANTONII POLLAIOLI FLORENTTINI“, so betont der Nürnberger Meister stolz:ALBERTUS DURER NORICUS FACIEBAT 1504“ („Dies schuf Albrecht Dürer aus Nürnberg 1504“). In ähnlich ausführlicher Form ist seine Signatur sonst nur auf Gemälden zu finden – ein Beleg dafür, welche Bedeutung der Nürnberger Meister dieser Arbeit innerhalb seines Werkes zumaß. Außerdem spielt Dürer mit seiner Inschrift auf Apelles an, den berühmtesten Künstler der Antike – hatte ihm doch der Nürnberger Humanist Willibald Pirckheimer empfohlen, wie Apelles im Imperfekt zu signieren (und nicht mit „fecit oder „pinxit“, wie seit dem Mittelalter üblich). Dürer bekundet auf diese Weise, dass er sich nicht mehr als spätmittelalterlicher Handwerker versteht, sondern als neuzeitlicher, humanistisch gebildeter Künstler.
Hans Baldung Grien: Der Sündenfall (um 1514); Holzschnitt
Hans Baldung Grien (1484/85–1545), Dürers bekanntester Werkstatt-Mitarbeiter, hat um 1514 einen Sündenfall-Holzschnitt angefertigt, auf dem die Paradieslandschaft ähnlich gestaltet ist wie auf dem berühmten Kupferstich-Vorbild: Die vertikal gereihten Baumstämme mit einem Ausblick links oben auf den hellen Himmel bildet auch hier eine dunkle Kulisse, vor dem das Ur-Paar agiert, wie bei Dürer durch den Baum der Erkenntnis voneinander getrennt. Allerdings hat Baldung Grien die Schlange wesentlich prominenter in Szene gesetzt. Eine deutliche Reminiszenz an den Kupferstich von 1504 ist das von Bäumen verdeckte Reh im Mittelgrund – Dürer hatte an vergleichbarer Stelle ja einen Elch platziert.
Jan Gossaert: Adam und Eva (1507/08);
Madrid, Museo Tyssen-Bornemisza
Jan Gossaert: Neptun und Amphitrite (1516); Berlin, Gemäldegalerie
Jan Gossaert: Adam und Eva (um 1520); Windsor, Royal Collection
Dürers Kupferstich wurde ab 1504 auch für niederländische Künstler zu einer wichtigen Inspirationsquelle. Jan Gossaert (1478–1532) etwa übernahm die Haltungen der Figuren recht genau, so in seinem Gemälde Adam und Eva (1507/08) oder in der Darstellung von Neptun und Amphitrite (1516). Außerdem nahm er sich Dürers Grafik bei der Ausarbeitung seiner bildfüllenden Akte zum Vorbild, so etwa bei dem Gemälde Adam und Eva
(um 1520) in der Royal Collection von Windsor.


Literaturhinweise
Bonnet, Anne-Marie: Albrecht Dürer. Die Erfindung des Aktes. Schirmer/Mosel, München 2014, S. 31-36;
Borchert, Till-Holger (Hrsg.): Van Eyck bis Dürer. Altniederländische Meister und die Malerei in Mitteleuropa. Chr. Belser, Stuttgart 2010, S. 425;
Eichler, Anja-Franziska: Albrecht Dürer. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1999;
Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Rogner & Bernhard, München 1977 (zuerst erschienen 1943), S. 113-117;
Rebel, Ernst: Albrecht Dürer. Maler und Humanist. C. Bertelsmann Verlag München 1996;
Rupprich, Hans (Hrsg.): Dürer. Schriftlicher Nachlaß. Band 1. Deutscher Verein für Kunstwissenschaft, Berlin 1956;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 111-113; 
Schoch, Rainer: Adam und Eva. In: Matthias Mende u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 110-113;
Schoen, Christian: Albrecht Dürer: Adam und Eva. Die Gemälde, ihre Geschichte und Rezeption bei Lucas Cranach d.Ä. und Hans Baldung Grien. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2001;
Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 254-257;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 106;
Strieder, Peter: Dürer. Bechtermünz Verlag, Augsburg 1996, S. 168-171. 

(zuletzt bearbeitet am 12. März 2025)

Montag, 10. März 2025

Bronzetüren des Mittelalters (2): der Mainzer Dom

Das Marktportal am Mainzer Dom mit der Willigis-Bronzetür

Im Gegensatz zu den Aachener Bronzeportalen trägt die Mainzer Bronzetür eine Künstlersignatur und gibt auch über ihren Stifter Auskunft: „POSTQUA(m) MAGNU(s) IMP(erator) KAROLUS/SUU(m) ESSE IURI DEDIT NATURAE/WILLIGISUS ARCHIEP(iscopu)S EX METALLI SPECIE/VALVAS EFFECERAT PRIMUS/BERENERUS HUIUS OPERIS ARTIFEX LECTOR/UT P(ro) EO D(eu)M ROGES POSTULAT SUPPLEX“ („Nachdem der große Kaiser Karl sein Leben der Natur zurückgegeben hatte, hat Erzbischof Willigis zuerst aus Metall Türflügel machen lassen. Berenger, der Meister dieses Werkes, bittet inständig, o Leser, dass du für ihn zu Gott betest“). Der Text, in klarer Antiquaschrift in die horizontalen Rahmen gemeißelt, ist so aufgebaut, dass die Personen hierarchisch geordnet genannt werden und der Künstlername im Geist der Demut direkt über der Schwelle steht.

Die Tür ist, dem Aachener Vorbild folgend, als Rahmen mit flacher Füllung gestaltet (370 cm hoch, 107 bzw. 102 cm breit) und wie diese aus einem Stück in verlorener Form gegossen. Jeder der beiden Flügel ist in zwei gleich große Felder unterteilt, die ringsum durch feine Profilierungen, Kehlungen und Plättchenfriese gerahmt werden. Die beiden unteren Felder tragen je einen Türzieher in Form von Löwenprotomen. Die großflächigen Löwenköpfe gehen in ihrer kraftvoll-plastischen Modellierung auf naturnahe spätantike Vorbilder zurück, während der prächtige, bis zu 37 cm breite Mähnenkranz stärker ornamentalisiert ist. „Mit aufgerissenem Maul und mächtigen Fangzähnen wirken sie wesentlich bedrohlicher als ihre Artgenossen in Aachen“ (Reudenbach 2009, S. 221).

Einer der beiden Löwenkopf-Türzieher der Willigis-Bronzetür

Die Tür entstand vor 1009 im Zuge des Neubaus des Mainzer Doms (ca. 978–1009), den Erzbischof Willigis (Amtszeit 975–1011) wohl vor allem mit Blick auf das ihm zugesprochene Privileg der Königskrönung vorangetrieben haben dürfte. Der Dom brannte jedoch am Tag der Weihe ab – Ursache war wahrscheinlich die Festillumination. Erst unter Erzbischof Bardo (Amtszeit 1031–1051) wurde der Bau schließlich vollendet, so dass der Dom 1036 geweiht werden konnte. Wo genau an diesem Neubau die Bronzetür angebracht war, ist nicht bekannt. Heute gehört sie zum Marktportal an der Nordseite des Domes, der Stadt zugewandt. Geht man davon aus, dass die Türflügel zur Domweihe 1009 fertig gewesen sind, lässt sich mutmaßen, dass von Mainz aus die berühmten Hildesheimer Bronzetüren angeregt wurden (siehe meine Post „Bronzene Bildergeschichten“). Sie wurden 1015 von Bischof Bernward (Amtszeit 933–1022), der mit Willigis gut bekannt war, in Auftrag gegeben.

Im 12. Jahrhundert wurde die Mainzer Tür regelrecht zu einer monumentalen Urkunde. Damals ist der umfangreiche Text eingemeißelt worden, der die beiden oberen Türfelder fast vollständig ausfüllt. Erzbischof Adalbert I. (Amtszeit 1111–1137) verlieh zwischen 1119 und 1122 den Bürgern der Stadt Mainz Steuer- und Gerichts-Privilegien, die er im Jahr 1135 erneuerte und bestätigte. Das Datum 1135 wird in der Türinschrift genannt, die Privilegbestätigung wird also der Anlass für ihre Ausführung gewesen sein, als eine dauerhaft in Erz gegossene Form der Veröffentlichung und ein besonderes Rechtsdenkmal. Die Originalurkunde, ausgefertigt auf Pergament, hat die Zeiten tatsächlich nicht überdauert. Inhaltlich bestehen das Privilegien zum einen in der Zusicherung, dass alleiniger Gerichtsstand für Mainzers Bürger die Stadt selbst sei, zum anderen in der Bestimmung, dass Mainzer Bürger Abgaben nur innerhalb der Stadt zu leisten hätten, und zwar ohne zusätzliche Gebühren.

 

Glossar

Protomen sind plastische Kunstwerke, die den vorderen oder oberen Teil eines Tieres, eines Fabelwesens oder eines Menschen in Frontalansicht darstellen.

Verloren nennt man eine Gussform, die nur einmal verwendbar ist und nach dem Guss zerstört werden muss, um das Werkstück zu entformen.

 

Literaturhinweise

Arens, Fritz: Der Dom zu Mainz. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982, S. 61-63;

Grimme, Ernst Günther: Bronzebildwerke des Mittelalters. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 17-18;

Mende, Ursula: Die Bronzetüren des Mittelalters 800–1200, Hirmer Verlag, München 1983, S. 25-27;

Reudenbach, Bruno (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Band 1: Karolingische und ottonische Kunst. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, S. 221.


Mittwoch, 5. März 2025

Bronzetüren des Mittelalters (1): die Aachener Pfalzkapelle

Die Wolfstür der Aachener Pfalzkapelle (für die Großansicht einfach anklicken)

Die zwischen 796 und 805 errichtete Pfalzkapelle Karls des Großen (747–814), der als oktogonaler Kernbau des Aachener Doms erhalten ist, wurde von den Zeitgenossen als Wunder gerühmt, als neuer Tempel Salomos. Ihre einzigartige Gestalt, die den Höhepunkt der Kirchenbaukunst im fränkischen Reich bildet, ist durch antikes und frühchristliches Erbe geprägt; sie folgt in Architektur und Ausstattung Traditionen aus Rom, Byzanz und Ravenna. Beeindruckend müssen besonders die kostbaren Türen gewesen, sein, die der Zentralbau erhielt: in massiver Bronze gegossene Türflügel für alle fünf Eingänge, für das große Hauptportal im Westen und die vier Nebenportale im Norden und Süden.

Der christliche Kirchenbau hatte aus der Antike die Bronzetür als besonders prächtige Portalausstattung übernommen. Sie blieb wegen des hohen Aufwandes immer ein seltenes Objekt, wenigen Bauten und wenigen Stiftern vorbehalten. Das gilt auch für die Zeit, in der die Türen der Aachener Pfalzkapelle entstanden. Aus dem ganzen Mittelalter ist kein weiterer Kirchenbau bekannt, der so umfassend mit Bronzetüren ausgestattet wurde. Der Auftrag für die Gusswerkstatt ging sogar noch über die Türen hinaus; denn gleichzeitig mit ihnen entstanden auch acht monumentale Bronzegitter, die im Inneren der Pfalzkapelle über den Hauptarkaden eine umlaufende Brüstung bildeten. Türen und Gitter waren einst vergoldet, davon blieb nichts erhalten. Das umfangreiche Ausstattungsprogramm hat die Gusswerkstatt sicherlich über viele Jahre beschäftigt, vermutlich ab 794 bis zur Weihe des Baus um 800. Praktisch unvorbereitet, ohne eine lange künstlerische Entwicklung, aber auch ohne greifbare Nachfolge stellt sich die außerordentliche Leistung dieser ersten Gießhütte nachantiker Zeit dar.

Von den fünf bronzenen Türen der Pfalzkapelle bildet die große für das Hauptportal im Westen, die sogenannte Wolfstür (392,3 cm hoch und 134,5 cm breit), auch heute noch den Haupteingang, allerdings in etwas veränderter Position, innerhalb der barocken Vorhalle. Die vier kleineren Portale (jeweils 223,4 cm hoch und 1,40 cm bzw. 143 cm breit) stellten die Verbindung her zu zwei Anbauten, die im Norden und Süden, symmetrisch einander gegenüberliegend, an die Pfalzkapelle anschlossen. Diese Bauten besaßen zwei Geschosse und waren an den ebenfalls doppelgeschossigen Umgang der Pfalzkapelle so angegliedert, dass zwei gleichartige Portale jeweils in einer Achse übereinander lagen. Die Flügel dieser Türen sind in drei Felder unterteilt, die durch Perlstab- und Blattfries-Verzierungen umrandet wurden. Sie waren mit Löwenkopf-Türziehern ausgestattet und dienten als Außenportale der Pfalzkapelle. Nach dem Abriss der karolingischen Annexbauten wurden sie in die gotischen Nachfolgebauten integriert. Heute existieren noch drei der kleineren Bronzetüren. Das Flügelpaar, das heute als Eingang zur Karlskapelle dient, ist unter den drei überlieferten, in ihrer Form weitgehend übereinstimmenden Türen am besten erhalten.

Eine der drei noch erhaltenen kleineren Bronzetüren

Dem Schema der Wolfstür folgend, bestehen die Türflügel der kleineren Portale aus einer umlaufenden Rahmenleiste und vertieften, einzeln gerahmten Feldern. Sie sind in zwei quadratische Felder oben und unten sowie ein hochrechteckiges Mittelfeld aufgeteilt. Die Rahmenprofile greifen wie bei der Wolfstür antike Ornamentfriese auf, weichen aber in der feineren Ausführung und in der Auswahl von dieser ab (doppelter Perlstab außen, Perlstab und Blattfries um die einzelnen Felder). Die kleineren Türen verbindet untereinander auch der einheitliche Typus der Löwenkopfmasken als Hauptschmuck. Die kleineren Türen stehen mit dem Wechsel unterschiedlich großer Kompartimente und den feinen Übergängen zwischen Rahmungen und Flächen dem antiken Formenkanon näher als die Wolfstür. Sie besitzen jedoch mit ihren flachen Löwenköpfen das am stärksten stilisierte, typisch mittelalterliche Detail.

Löwenköpfe und Zierleisten der Aachener Wolfstür (für die Großansicht einfach anklicken)

Dem Schema der Wolfstür folgend, bestehen die Türflügel der kleineren Portale aus einer umlaufenden Rahmenleiste und vertieften, einzeln gerahmten Feldern. Sie sind in zwei quadratische Felder oben und unten sowie ein hochrechteckiges Mittelfeld aufgeteilt. Die Rahmenprofile greifen wie bei der Wolfstür antike Ornamentfriese auf, weichen aber in der feineren Ausführung und in der Auswahl von dieser ab (doppelter Perlstab außen, Perlstab und Blattfries um die einzelnen Felder). Die kleineren Türen verbindet untereinander auch der einheitliche Typus der Löwenkopfmasken als Hauptschmuck. Die kleineren Türen stehen mit dem Wechsel unterschiedlich großer Kompartimente und den feinen Übergängen zwischen Rahmungen und Flächen dem antiken Formenkanon näher als die Wolfstür. Sie besitzen jedoch mit ihren flachen Löwenköpfen das am stärksten stilisierte, typisch mittelalterliche Detail.

Die Bronze-Bärin in der Aachener Domvorhalle (2. Jh. n.Chr.)

„Unsere Vorstellungskraft muß die Türen in ihre einstige Vergoldung und an ihren ursprünglichen Ort zurückversetzen, muß sie zusammensehen mit den vergoldeten Gittern, den antiken Säulen und karolingischen Mosaiken, um sich die betörende Schönheit des ganzen Ensembles zu vergegenwärtigen, das in karolingischer Sicht ein Abglanz des Himmelsjerusalems darstellte und, tief im fränkischen Land gelegen, auf seine Zeitgenossen wie ein Wunder aus einer anderen Welt gewirkt haben muß“ (Grimme 1985, S.11/12). Erst die massive bronzene Flügeltür des Mainzer Doms (1009 Domweihe) greift das Vorbild der Aachener Portale auf; in einer Inschrift auf dieser Bronzetür weist der Mainzer Erzbischof Willigis (975–1011) darauf hin, dass er als Erster seit Karl dem Großen eine Erztür hat gießen lassen. Sie wird demnächst vorgestellt.

 

Glossar

Ein Perlstab ist eine schmale Zierleiste, die aus einer Reihe von kleinen halbkugelförmigen Gliedern besteht, die wie die Perlen einer Schnur aufgereiht sind.

Protomen sind plastische Kunstwerke, die den vorderen oder oberen Teil eines Tieres, eines Fabelwesens oder eines Menschen in Frontalansicht darstellen.

 

Literaturhinweise

Grimme, Ernst Günther: Bronzebildwerke des Mittelalters. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 10-12;

Grimme, Ernst Günther: Der Dom zu Aachen. Architektur und Ausstattung. Einhard-Verlag, Aachen 1994, S, 62-71;

Klotz, Heinrich: Geschichte der deutschen Kunst. Erster Band: Mittelalter 600 – 1400. Verlag C.H. Beck, München 1998, S. 79-81;

Mende, Ursula: Die Bronzetüren des Mittelalters 800–1200, Hirmer Verlag, München 1983, S. 21-24;

Reudenbach, Bruno (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Band 1: Karolingische und ottonische Kunst. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, S. 220-221.


Freitag, 28. Februar 2025

Demütiger Glaube schmutziger Pilger – Caravaggios „Madonna di Loreto“

Caravaggio: Madonna di Loreto (1604/05); Rom, Sant'Agostino
(für die Großansicht einfach anklicken)

Caravaggios Bild der Madonna di Loreto, auch Madonna dei Pelegrini genannt (1604/05 entstanden), befindet sich bis heute an dem Platz, für den es geschaffen wurde: dem Altar der Kapelle der Familie Cavaletti in der römischen Kirche Sant‘Agostino. Der Titel di Loreto nimmt Bezug auf eine Legende, nach der, als im 13. Jahrhundert das Heilige Land von muslimischen Armeen erobert wurde, das Haus der Mutter Jesu auf wundersame Weise aus Nazareth nach Loreto umgesetzt wurde. Um das Haus herum wurde daraufhin eine Kirche gebaut, die sich zu einem bedeutenden Pilgerzentrum entwickelte.

Auf den Bildern, die die Legende von Loreto darstellen, steht in der Regel das Haus Mariens im Mittelpunkt. Bei Caravaggio ist davon nur ein Türrahmen und ein kleines Stück Wand zu sehen, von der der Putz abblättert. Seine Madonna di Loreto scheint, verglichen mit anderen Loreto-Madonnen, recht irdisch. Sie ist eine attraktive junge Frau, die ihren unbekleideten Sohn auf dem Arm hält. Ein weißes Tuch umspielt Rücken und Gesäß des Knaben, der auf dem Arm seiner Mutter sitzt, sodass sein Körper nur im Profil zu sehen und sein Schambereich verdeckt ist.

Maria ist in den typischen Farben rot und blau gekleidet, was sie als Gottesmutter erkennbar macht. Sie steht leicht erhöht auf einer steinernen Stufe an der Schwelle ihres Hauses und lehnt dabei mit übergeschlagenem rechtem Bein am Türrahmen. Ihr schon ungewöhnlich großes Kind hält sie mit einer Leichtigkeit, die den Knaben fast schwerelos erscheinen lässt. Caravaggio betont das physische Gewicht des Jungen, so Jutta Held, um „seine Menschlichkeit, die Inkarnation des Gottessohnes, seine Materialität“ (Held 2007, S. 130) hervorzuheben.

Ein schwacher Nimbus umstrahlt die Häupter Mariens und ihres Sohnes, die sich zu zwei wohl gerade erschienenen Pilgern herabbeugen. Zu ihren Füßen knien ein Mann und eine Frau – sie tragen noch ihre Pilger-Pelerinen und halten noch ihre Wanderstäbe zwischen den Armen. Noch hatten sie keine Gelegenheit, sich zu waschen, der Staub des Weges haftet noch an ihren unbeschuhten Füßen, die Caravaggio nah an uns Betrachter heranrückt. Ihre ärmliche Kleidung – der Mann trägt eine geflickte Hose –ist in verschiedenen Brauntönen gehalten; während der Kopf der Frau von einem Tuch oder eine Haube bedeckt wird, ist der Mann barhäuptig; ihre Physiognomien charakterisieren sie als Angehörige eines niedrigen Standes. Beider Blicke richten sich auf das Kind, das ihnen in einer Segensgeste den rechten Arm entgegenstreckt, während sie ihre Hände andächtig bzw. anbetend gefaltet haben: Sie sind am Ziel, sind dort angekommen, wohin sich aufgemacht hatten, und scheinen nun in ungläubig-gläubigem Staunen gefangen, während Mutter und Kind sich huldvoll den Pilgern zuneigen und ihnen in scheinbar routinierter Gelassenheit Zeit geben, die Situation zu begreifen.

Die Cavalletti-Kapelle im heutigen Zustand

Caravaggio präsentiert die vor ihrer Haustür stehende Madonna wie in einer Nische, vor der die Anbetenden knien. Die Darstellung gleicht einer denkbaren Szene vor einer entsprechenden Statue in einer Kirche oder Kapelle. Man gewinnt den Eindruck, Maria und ihr Kind seien durch den Glauben der Pilger zum Leben erwacht. Marias dunkler Schatten fällt auf den Türrahmen, auch das unterstreicht ihre reale Präsenz und ihre Körperlichkeit. Fast schwebend erscheint sie, nur auf einem Fuß stehend, während der andere nur mit den Zehenspitzen den Boden berührt.

Caravaggio schildert auf seinem Bild nicht das Wunder eines fliegenden und vor Ungläubigen flüchtenden Hauses – er zeigt das Wunder des Glaubens, das den Anbetenden die Nähe und den Segen Christi beschwert. „Durch den Glauben werden Mutter und Kind lebendig für sie, sie können für sie wirken, liegen nicht tot im Grab oder leben entfernt im Himmelreich. Sie sind präsent, sie zeigen Anteilnahme, Mitgefühl und Verständnis für die Menschen zu ihren Füßen“ (Steinbrück 2007, S. 59). Es verwundert nicht, dass Caravaggio gerade mit diesem Gemälde, wie ein früher Biograf des Künstlers berichtet, beim römischen Volk Anklang und Bewunderung fand. Gleichwohl ist Maria durch die Stufe erhöht und durch ihren Heiligenschein ebenso wie durch ihre Anmut und Jugend, die fein geschnitten Gesichtszüge, das helle Inkarnat und das samtglänzende dunkeltote Obergewand herausgehoben. Die Szene wirkt, als sei durch die Kraft des Glaubens eine Statue zum Leben erweckt worden, die Trost und Zuversicht spenden kann. Die persönliche Begegnung zwischen Maria, dem Gottessohn und Gläubigen steht ganz im Mittelpunkt, das Wunder der Translatio spielt keine Rolle.

Sog. Thusnelda (2. Jh. n.Chr.);
Florenz, Loggia dei Lanzi

Das Bewegungsmotiv Marias mit dem übergeschlagenen rechten Bein ist der antiken Statue sogenannten Thusnelda aus der Villa Medici entlehnt (2. Jh. n.Chr.), die sich heute in der Loggia die Lanzi in Florenz befindet. Zugleich ist Maria sehr naturnah wiedergegeben, und angeblich soll Caravaggio dabei eine mit ihm liierte Frau namens Lena als Modell benutzt haben.

Was uns am nächsten kommt, sind schmutzige Füße

Später wurde die naturalistische Darstellung der Pilger kritisiert, vor allem die verdreckten Fußsohlen in vorderster Bildebene betrachtete man als Verstoß gegen das decorum. So schrieb der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) in seinem Cicerone, dem einflussreichsten Kunstreiseführer des Bildungsbürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Caravaggios „Freude besteht darin, dem Beschauer zu beweisen, daß es bei all den heiligen Ereignissen der Urzeit eigentlich ganz so ordinär zugegangen sei wie auf den Gassen der südlichen Städte gegen Ende des 16. Jahrhunderts“ (Burckhardt 1933, S. 373). Tatsächlich entsprachen jedoch gerade die nackten Füße der Pilgerpraxis in Loreto. Weder für den Stifter des Altarbildes noch für die Chorherren von Sant’Agostino ist überliefert, dass sie Caravaggios Darstellung in irgendeiner Weise beanstandet hätten.

 

Literaturhinweise

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Band 2. (= Jacob Burckhardt-Gesamtausgabe, Band 4). Hrsg. von Heinrich Wölfflin. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1933, S. 373;

Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 172-176;

Goez, Werner: Caravaggio: vier umstrittene Bilder eines umstrittenen Malers. In: Karl Möseneder (Hrsg.), Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 119-140;

Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage), S. 184-191;

Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson, London 1983, S. 102-117;

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011, S. 122/125;

Steinbrück, Martin: Portrait oder kein Portrait. Zur Bedeutung des Portraits im Marienbild Caravaggios. In: Martin Steinbrück u.a. (Hrsg.), Das Porträt. Eine Bildgattung und ihre Möglichkeiten. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 57-70.


Mittwoch, 26. Februar 2025

Alt, einsam und dunkel nachsinnend – die „Pietà“ der Käthe Kollwitz

Käthe Kollwitz: Pietà (1937-1939); Köln, Käthe Kollwitz Museum
(H 38,6 x B 28,8 x T 40,3 cm)

Die Pietà von Käthe Kollwitz (1867–1945) gehört ohne Frage zu den weltweit bekanntesten Skulpturen der deutschen Bildhauerin und Grafikerin – sicherlich auch aufgrund der vierfach vergrößerten, posthum entstandenen Kopie, die seit 1993 den figürlichen Mittelpunkt der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in der Berliner Neuen Wache bildet.

Die vierfach vergrößerte Pietà in der Berliner Neuen Wache

Eine breitbeinig sitzende, in ein weites Gewand gehüllte alte Frau hält in ihrem Schoß einen nackten, leblosen jüngeren Mann. Mit seinen angewinkelten Beinen ist er so tief zurückgesunken, dass beider Körper nicht scharf getrennt sind, sondern ineinander überzugehen scheinen. Der nach hinten gefallene Kopf des junge Mannes wird beschattet vom rechten Arm und der Hand der alten Frau, die sie auch zum Mund geführt hat. Die Geste signalisiert Nachdenklichkeit, lässt sich aber auch so verstehen, als spreche die Frau hinter vorgehaltener Hand. Mit ihrer schalenförmig geöffneten Linken hat sie die schlaffe rechte Hand des Jünglings aufgenommen; unter gesenkten Lidern scheint sie auf die Begegnung der beiden Hände hinabzublicken. Als zärtliche Berührung erinnert diese Geste an das Grabrelief Trauernde Eltern, das Kollwitz 1917 entworfen hatte (nur noch als Fotografie erhalten).

Käthe Kollwitz hat die blockhafte Zweiergruppe mit einer eindeutigen Hauptansichtsseite gestaltet und in einem gemeinsamem Umriss zusammengefasst, um sie als Einheit erscheinen zu lassen. Das bestimmende Kompositionsschema ist die Pyramide, die durch zwei gegenläufige Diagonalen – die embryoartig angezogenen Unterschenkel der männlichen Gestalt und den rechten Unterarm der Mutter andererseits – gegliedert wird. Zudem wird die linke Hand der Frau durch die um das Gelenk kreisende Faltengebung betont.

Käthe Kollwitz: Grabrelief Trauernde Eltern (1917); nicht erhalten

In einem Tagebucheintrag vom 22. Oktober 1937 schreibt Käthe Kollwitz: „Ich arbeite an der kleinen Plastik, die hervorgegangen ist aus dem plastischen Versuch, den alten Menschen zu machen. Es ist nun so etwas wie eine Pietà geworden. Die Mutter sitzt und hat den toten Sohn zwischen ihren Knien im Schoß liegen. Es ist nicht mehr Schmerz, sondern Nachsinnen“ (Kollwitz 2012, S. 690). Die Bildhauerin hat allerdings mehrfach betont, dass ihre Pietà nicht als religiöses Werk zu verstehen ist (siehe meinen Post Der Schmerz einer Mutter“). Sie wird zumeist als Reflex auf den Verlust ihres Sohnes Peter Kollwitz gesehen, der als achtzehnjähriger Soldat bei der Ersten Flandernschlacht am 23. Oktober 1914 umgekommen war. Unbestritten war dessen Tod die schmerzhafteste unter den prägenden Erfahrungen im Leben der Künstlerin. Sie selbst brachte diesen Einschnitt im Tagebucheintrag vom 12. Oktober 1917 mit ihrem Altern in Verbindung: „Von da an datiert für mich das Altsein. Das dem Grabzugehn. Das war der Bruch. Das Beugen bis zu einem Grade, daß es nie mehr ein ganzes Aufrichten gibt“ (Kollwitz 2012, S. 334). Den Tod ihres jüngsten Sohnes hat sie nie verwunden, wohl auch deshalb nicht, weil sie es selbst war, die ihren Ehemann trotz dessen Widerstands dazu überredet hatte, Peter an die Front gehen zu lassen.

Annette Seeler ist der Ansicht, dass in Käthe Kollwitz‘ Pietà aber nicht nur ihres großes persönlichen Verlustes gedacht wird. Bei der Figur des Toten handele es sich ebenso um ein Kind im übertragenen Sinn, nämlich die Verkörperung des künstlerischen Schaffens von Käthe Kollwitz. Sie verweist darauf, dass die Künstlerin im November 1936 erleben musste, wie zwei ihrer Werke aus der Akademie-Ausstellung „Berliner Bildhauer von Schlüter bis zur Gegenwart“ einen Tag vor der Eröffnung entfernt wurden. Dass diese Erfahrung für sie der Tötung ihres Schaffensimpulses gleichkam, lasse sich mit einem Tagebucheintrag aus diesem Monat entnehmen. Dort spricht sie über ihr Vorhaben, einen alten Menschen darzustellen, und empfindet gleichzeitig, „daß ich wirklich mit meiner Arbeit zu Ende bin“, dass es nicht mehr wichtig sei, weiterhin produktiv zu sein oder nicht (Kollwitz, 2012, S. 686).

Michelangelo: Grabmal Lorenzo de Medici (1524-1531); Florenz, San Lorenzo
Michelangelo: Jeremias (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle

Als mögliche Anregungen für die Kollwitz-Pietà sind zum einen Werke von Michelangelo genannt worden: Für die sinnende Gebärde lässt sich auf die Skulptur Lorenzo de‘ Medicis auf dem Grabmal in der Florentiner Medici-Kapelle von San Lorenzo verweisen (1524-1531), ebenso auf die Figur des Propheten Jeremias aus der Sixtinischen Kapelle (1508-1512) in Rom.

Michelangelo: Pietà Bandini (unvollendet); Florenz, Museo dellOpera dell Duomo
Michelangelo: Pietà Rondanini (unvollendet); Mailand, Castello Sforzesco

Denkbar ist auch, dass sich die Bildhauerin bei dem Einzelmotiv der kraftlos zusammengesunkenen Beine an der Christus-Figur von Michelangelos Florentiner Pietà Bandini orientiert hat, die Kollwitz spätestens 1907 bei einem Aufenthalt in der Villa Romana kennengelernt haben wird, oder an Michelangelos Pietà Rondanini in Mailand, von der wohl eine Fotografie über dem Bett ihres Sohnes Peter hing.

Auguste Rodin: Der Denker (1880-1882); Bielefeld, Kunsthalle

Wichtigstes Vorbild für die Melancholiegeste bleibt aber neben dem berühmten Dürer-Kupferstich von 1514 die ebenso berühmte Statue des Denkers von Auguste Rodin (1840–1917), der seinen Kopf auf die an den Mund gelegten Faust stützt.

 

Literaturhinweise

Kollwitz, Käthe: Die Tagebücher 19081943. Hrsg. von Jutta Bohnke-Kollwitz, btb Verlag, München 2012;

Seeler, Annette: Käthe Kollwitz: Die Plastik. Werkverzeichnis. Hirmer Verlag, München 2016, S. 340-353.