Sonntag, 16. November 2025

Rembrandt radiert das Dunkel (3) – „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ (um 1644) und „Flucht nach Ägypten“ (1651)

Rembrandt: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (um 1644); Radierung

Nach der Geburt Jesu erscheint Josef ein Engel im Traum und mahnt ihn zur Flucht nach Ägypten, da König Herodes den neugeborenen Heiland töten lassen will (Matthäus 2,13). Zusammen mit der jungen Mutter und ihrem Kind bricht er daraufhin mitten in der Nacht auf. Über die sicherlich beschwerliche Reise berichtet die Bibel mit keiner Silbe, nur die Ankunft in Ägypten wird vermeldet, wo die Heilige Familie bis zum Tod des Herodes ausharrt. Es sind apokryphe Texte, die anekdotenhaft von dieser Flucht erzählen – dazu gehört z. B. die als Ruhe auf der Flucht bezeichnete Episode, die sich seit dem 16. Jahrhundert als Bildthema großer Beliebtheit erfreute. Rembrandt hat es in einem etwa um 1644 entstandenen radierten Nachtstück dargestellt.

Die Heilige Familie rastet im Schutz von Wald und Nacht. Auf ihre Reise deuten verschiedenen Gegenstände hin, so eine Satteltasche und der mit Leinen gefüllte Korb am linken Bildrand. Ebenfalls erkennbar ist ein Esel, der von rechts seinen Kopf in das Bild streckt. Eine Laterne spendet Licht und erhellt das Laub, wodurch ein Halbkreis entsteht, der einem schützenden Dach gleicht. Während das Licht auf den ebenso alten wie müden Josef fällt, umfängt Maria und das Jesuskind am vorderen Bildrand die Dunkelheit. Mit aufgestütztem Kopf blickt Maria zu ihrem friedlich schlafenden Sohn herab, den sie eben noch gestillt hat, wie ihre entblößte Brust verrät.

Rembrandt rückt die Rastenden auf seiner kleinformatigen Radierung (9,3 x 6 cm) nah an den Betrachter heran und verwendet das Motiv der Maria lactans, bei dem Maria dem Knaben gewöhnlich die Brust gibt und das fest zum Darstellungsschema der Ruhe auf der Flucht gehört. War die Gottesmutter mit dem Jesuskind jedoch allgemein leicht im Bild zu entdecken, müssen wir uns nun regelrecht anstrengen, um die Frau als Maria zu identifizieren. Auch das Stillen deutet Rembrandt lediglich durch die entblößte linke Brust an (vom Betrachter aus gesehen), die wir erst nach längerer Ansicht bemerken und die sich von der Kleidung kaum abzuheben scheint.

Ihre Kopfbedeckung charakterisiert Maria als Romni. „In der Vorstellung des 17 Jahrhunderts kamen Zigeuner aus Ägypten, weshalb ihre Kleidung daran angelehnt wurde“ (Kaden 2017, S. 162). Rembrandt rückt die Heilige Familie an diese gesellschaftliche Randgruppe heran, die sich, von der Gemeinschaft ausgestoßen und heimatlos, auf ständiger Wanderschaft befindet. Maria wird weder durch einen Nimbus noch durch eine erhabene Pose hervorgehoben; auch der Jesusknabe ist ohne Heiligenschein oder ein helles Strahlen, das von ihm ausgeht, gekennzeichnet. Zusätzlich ist die Identifikation der beiden durch die Dunkelheit erschwert, da unsere Aufmerksamkeit anfangs auf den beleuchteten Josef gelenkt wird, der in der Heilsgeschichte jedoch eine untergeordnete Rolle spielt.

Rembrandt verlangt von uns also, länger und gründlich hinzuschauen: Unser Auge muss Mutter und Kind im Dunkeln ausfindig machen. Zugleich dürfen wir uns von ihrer schlichten Gestalt nicht täuschen lassen – wir sollen erkennen, dass sich das Hohe im Niedrigen verbirgt. Die Gottesmutter und der Messias zeigen sich uns in Gestalt einer Romni und eines hilflosen, von Häschern gejagten Kindes. Marias aufgestützter rechter Arm changiert zwischen Erschöpfung und Melancholie. Auch Joseph blickt nicht nur müde, sondern ebenso traurig in die Richtung des kleinen Jesus. Rembrandt deutet damit an, dass die beiden das spätere Schicksal des Kindes – seine Passion – bereits erahnen.

Rembrandt: Flucht nach Ägypten (1651); Radierung

Wir kennen von Rembrandt noch ein weiteres radiertes Nachtstück, das die Heilige Familie auf ihrem Weg nach Ägypten zeigt (1651 entstanden). Einzige Lichtquelle ist auch hier eine von Josef getragene Laterne, die jedoch nur schwach die unmittelbare Umgebung aufhellt – darin ist die Grafik mit dem Blatt Anbetung der Hirten von 1657 vergleichbar (siehe meinen Post „Rembrandt radiert das Dunkel“). Einzig Josef wird vom Schein der Laterne etwas aus der Dunkelheit herausgehoben, von Maria und den sie tragenden Esel nehmen wir beinahe nur Konturlinien wahr. Hell erscheint lediglich ein Teil von Marias Kopfbedeckung und das Köpfchen des Jesusknaben.

Rembrandt: Anbetung der Hirten (1657); Radierung
Rembrandt: Flucht nach Ägypten – Überquerung eines Bachs (1654); Radierung

1654 entsteht eine weitere radierte Flucht nach Ägypten, auf dem die Heilige Familie wie auf dem Blatt von 1651 in bildparalleler Bewegung wiedergegeben ist, diesmal jedoch von links nach rechts. Die Gruppe durchquert behutsam einen Bach; eingebunden ist sie in ein Helldunkel, das keine genaue Angaben über die Tageszeit ermöglicht. Rembrandt zeigt Maria nun in der würdevollen Haltung einer sitzenden Madonna, die ihr Kind schützend unter ihrem Manteltuch birgt. Josef, der den Esel mit seiner Rechten führt und in seiner Linken keine Laterne, sondern eine Wanderstab hält, versinkt wie das Tier mit den Beinen Im Wasser. Die Figuren verbindet dabei eine sie umgebende Schattenzone, wobei die Helligkeitswerte bei Maria konzentriert sind.

 

Literaturhinweise

Kaden, Sandra: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (um 1644). In: In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 162:

von Berswordt-Wallrabe, Kornelia (Hrsg.): Rembrandt fecit. 165 Rembrandt-Radierungen aus der Sammlung des Staatlichen Museums Schwerin. St. Gertrude GmbH, Hamburg 1995, S. 54-57.

 


Montag, 10. November 2025

Rembrandt radiert das Dunkel (2) – „Grablegung Christi“ (1654)

Rembrandt: Grablegung Christi (1654, 1. Zustand); Radierung

Rembrandts Grablegung Christi zählt zu einer Gruppe von vier gleichformatigen und mit ähnlichen Techniken entstandenen Radierungen aus den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts, die der Künstler möglicherweise zu einer geplanten, aber nie vollständig realisierten Serie von Darstellungen aus dem Leben Christi angefertigt hat. Bei den anderen drei Radierungen handelt es sich um die Darbringung im Tempel, eine Kreuzabnahme bei Fackelschein (siehe meinen Post „Rembrandt radiert das Dunkel“) und Christus in Emmaus (siehe meinen Post „Gehaltene Augen“). Im Bereich der Radierungen gehört die in vier Zuständen ausgeführte Grablegung Christi zweifellos zu Rembrandts weitestgehenden Experimenten, wobei es sogar innerhalb ein- und desselben Zustands mehrere Grade der Einfärbung und eine große Verschiedenheit der Papiersorten zu verzeichnen gibt.

Rembrandt: Darbringung im Tempel (um 1654); Radierung
Rembrandt: Kreuzabnahme Christi bei Fackelschein (1654); Radierung
Rembrandt: Christus in Emmaus (1654); Radierung

Der erste Zustand, der nur aus radierten Linien besteht, zeigt uns einen überwölbten Raum, den eine Grabplatte und zwei Totenköpfe an der Rückwand als Gruft kennzeichnen. Dort wird der Leichnam Jesu zur Ruhe gebettet. Der mit einem weißen Tuch umhüllte Tote liegt ganz im hellen Schein einer unsichtbaren Lichtquelle, die vollständig von der vor Christus stehenden, in Rückenansicht gezeigten Figur verdeckt wird. Aus der Tiefe des offenen Grabes ragt der Kopf eines Mannes hervor, der hier bereitsteht, um den Leichnam zu übernehmen. Am vorderen Bildrand sitzt die ihren Schmerz versunkene Mutter Jesu, während ein bärtiger Alter hinter ihr stumm das Geschehen verfolgt – es dürfte sich um Joseph von Arimathäa handeln, der sein eigenes Grab für die Bestattung Jesu zur Verfügung gestellt hatte (Matthäus 27,57-61). Alle Bildelemente sind, bis hin zu den vorwiegend parallelschraffierten Schattenpartien, klar erkennbar.

Rembrandt: Grablegung Christi (1654, 2. Zustand); Radierung

Radikal verändert zeigt sich die Radierung im zweiten Zustand. Die Platte wurde hier mit einem äußerst dichten Netz von radierten Linien überzogen, wobei auch die Kaltnadel und der Grabstichel zum Einsatz kamen. Das Ergebnis ist eine fast totale Finsternis, in der sich die räumliche Situation nur noch erahnen lässt; die Figuren schimmern kaum sichtbar hervor, am deutlichsten zeichnen sich dabei der Leichnam Christi und dessen Träger ab.

Rembrandt: Grablegung Christi (1654, 3. Zustand); Radierung
Rembrandt: Grablegung Christi (1654, 4. Zustand); Radierung

Dieses nivellierende Dunkel nahm Rembrandt im dritten und vierten Zustand etwas zurück: Die Figuren wurden durch das Abschleifen verschiedener Partien wieder mehr aufgehellt, so etwa die still leidende Mutter Jesu und der sich auf einen Stab stützende Joseph von Arimathäa. Dabei blieb jedoch der Charakter des Nachtstücks erhalten. Auch das Grab und die Architektur sind nun wieder deutlicher zu erkennen: Das Gewölbe gewann seine Form zurück, und die beiden Schädel heben sich gegen die nunmehr fahl schimmernde Rückwand ab, wobei Christi Leib das am hellsten beleuchtete Bildelement bleibt.

 

Literaturhinweise

Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Ein Virtuose der Druckgraphik. SMB DuMont, Köln und Berlin 2006, S. 146-147;

Hinterding, Erik: Licht. In: Bikker, Jonathan/Weber, Gregor J.M. (Hrsg.), Der späte Rembrandt. Hirmer Verlag, München 2014, S. 177-185;

Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 268.

 


Montag, 3. November 2025

Betörendes Kleinformat – Adam Elsheimers „Pietà“ und „Drei Marien am Grab Christi“

Adam Elsheimer: Pietà (um 1603); Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum
(für die Großansicht einfach anklicken)

Vor Kurzem konnte ich kurz hintereinander in zwei verschiedenen Museen zwei betörend schöne, wegen ihrer geringen Größe leicht zu übersehende Gemälde von Adam Elsheimer (1578–1610) bestaunen: Das eine befindet sich im Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum, das andere im Rheinischen Landesmuseum in Bonn. Bei dem Braunschweiger Bild handelt es sich um eine Pietà: Es zeigt Maria, die sich mit einer umarmenden Bewegung über ihren toten Sohn beugt. Sie hat den jugendlichen, fast zierlichen Körper gegen einen Felsblock gelehnt, stützt seinen Kopf mit der rechten Hand und trocknet mit ihrer Linken das Blut, das aus seiner Seitenwunde quillt. Hinter dem Kopf Christi, auf dem von der Dornenkrone herrührende Blutspuren zu sehen sind, kennzeichnen kleine Lichtstrahlen den Toten als Sohn Gottes. Am linken Bildrand liegen auf einem Stein die für die Hinrichtung verwendeten blutigen Nägel neben einem Glasgefäß mit Salböl und einem ebenfalls blutbenetzten Schwamm. Die Darstellung wird bekrönt von einer Gruppe schwebender Engel die – nach dem Vorbild Raffaels – als körperlose himmlische Wesen nur mit Kopf und Flügeln erscheinen. Auf der Felswand im Hintergrund sind Weinranken erkennbar, hinten links steht ein Feigenbaum, davor ein Holunderbusch und eine blühende Immergrünpflanze. Ein schmaler Bereich unterhalb der Engel, auf dem vielleicht ein von ihnen gehaltenes Tuch vorgesehen war, ist offenbar unvollendet geblieben.

Annibale Carracci: Pietà (1603); Wien, Kunsthistorisches Museum
Michelangelo: Pietà (1499/1500); Rom, St. Peter

Elsheimers Pietà erinnert in ihrer Form an verwandte Darstellungen von Annibale Carracci (1560–1609), in ihrer Stimmung aber auch an Michelangelos Skulptur in St. Peter von 1499/1500. Doch Elsheimer betont gegenüber diesen Werken noch stärker die innige Nähe von Mutter und Sohn und die Verletzlichkeit ihrer schmalen Körper. Stilistisch steht das kleinformatige, auf Kupfer gemalte Bild (21 x 16 cm) in enger Beziehung zu seinem Gemälde Drei Marien am Grab Christi aus dem Rheinischen Landesmuseum in Bonn. Beide Werke verbindet die Nahsicht, die die Figuren nur in Kniehöhe zeigt. Die minutiös wiedergegebenen Pflanzen und Ranken, die von der Felswand herabhängen, bilden bei beiden Werken einen nischenartigen Hintergrund. Außerdem ist ihnen eine intensive, auf Weiß, Blau und Rot gestimmte Farbigkeit gemeinsam. Ähnlich erscheint auch die mädchenhafte Gestalt der Mutter Jesu mit ihrem schmalen, von Trauer gezeichneten Gesicht.

Adam Elsheimer: Drei Marien am Grab Christi (um 1603); Bonn,
Rheinisches Landesmusum (für die Großansicht einfach anklicken)

Das Bonner Gemälde zeigt uns die drei Frauen, die nach dem Ende des Sabbats zum Grab Christi gingen, um seinen Leichnam zu salben. Ein Engel erwartete sie am leeren Grab und verkündete ihnen, dass Jesus von den Toten auferstanden sei (Matthäus 28,1-8; Markus 16,1-8; Lukas 24,1-11; Johannes 20,1-9). Auf Elsheimers Bild wendet sich der Engel den trauernden Frauen zu und stützt sich dabei auf die Deckplatte des Sarkophags, auf dem lateinische Zeilen aus dem Markus-Evangelium erkennbar sind, das damit wohl als Textgrundlage für die Darstellung zu betrachten ist. Im Hintergrund nähern sich Petrus und Johannes, die Maria Magdalena herbeigerufen hatte, ein Detail, das nur im Johannes-Evangelium erwähnt wird.

Caravaggio: Grablegung Christi (1603/04); Rom, Pinacoteca Vaticana

Die erschrocken erhobenen Arme der Trauernden erinnern an die gleiche deklamatorische Geste einer Figur aus Caravaggios Grablegung Christi (siehe meinen Post „Dies ist mein Leib“), die um 1602 entstanden ist und dem damals in Rom lebenden Elsheimer sicherlich bekannt gewesen ist. Mittelpunkt des 25,8 x 20 cm großen Bonner Gemäldes sind die beiden Gestalten im Vordergrund: links Maria Magdalena, die mit ausgestrecktem linkem Arm Auskunft über das leere Grab verlangt, und rechts der Engel, der sich zur Erklärung des Geschehens auf die Steinplatte mit dem Markus-Evangelium stützt. Die genaue Wiedergabe der auch vom Betrachter lesbaren Zeilen der Vulgata mit den Versen 1 bis 7 des 16. Kapitels ist für ein Bild dieser Zeit ungewöhnlich. Die Bäume und Pflanzen, die sich in der Grabeshöhle ausgebreitet haben, erinnern an die urtümlichen Landschaften des niederländischen Landschaftsmalers Paul Bril (1554–1626), der wie Elsheimer in Rom lebte und dem Deutschen persönlich nahestand. Bril war später Besitzer dieses Bildes.

Adam Elsheimer: Verherrlichung des Kreuzes (um 1604/05); Frankfurt,
Städel Museum (für die Großansicht einfach anklicken)

Zwei der Frauenfiguren aus den Drei Marien am Grab Christi hat Elsheimer dann etwa ein Jahr später in seinem Frankfurter Kreuzaltar wieder aufgenommen, und zwar in der Haupttafel der Verherrlichung des Kreuzes. Dort sind sie im Zentrum des Bildes platziert: Erneut ist Maria Magdalena mit dem gläsernem Salbgefäß abgebildet, und aus der zweiten Maria wiederum wird die hl. Katharina, erkennbar an dem Schwert in ihrer Rechten, ihrem Attribut.

 

Literaturhinweis

Klessmann, Rüdiger: Im Detail die Welt entdecken. Adam Elsheimer 1578–1610. Edition Minerva. Wolfratshausen 2006, S. 84-89.