Montag, 30. April 2012

Der zornige Gottesheld – Albrecht Dürers Holzschnitt „Simson bezwingt den Löwen“

Albrecht Dürer: Simson bezwingt den Löwen (1496); Holzschnitt
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Simson gehört sicherlich zu den schillerndsten Gestalten des Alten Testaments. Er war mit übermenschlichen Kräften ausgestattet – so lange sein Haar nicht geschoren wurde. Seine Geburt wurde von einem Engel verkündet; er war dazu bestimmt, Israel von der Herrschaft der Philister zu befreien (Richter 13,2-5). Deswegen galt Simson der mittelalterlichen Theologie als Präfiguration, d. h. als vorausweisende Darstellung Christi. Sein „Löwenkampf“ (Richter 14,5-6) stand für den Sieg Christi über den Satan.
Albrecht Dürer (1471–1528) hat aus dieser ersten Heldentat Simsons einen Holzschnitt gemacht (1496), dessen meisterhafte Technik an Präzision, Verfeinerung und Formenreichtum alles hinter sich lässt, was in dieser grafischen Kunst bis dahin geleistet wurde. Die Linien in Dürers Holzschnitt konturieren nicht einfach, sie modellieren vielmehr und ahmen Stofflichkeit nach. Man könnte auch sagen: Sie wetteifern geradezu mit der Grabstichelarbeit des Kupferstechers.
Simson tötet einen Löwen, der ihn bedroht, indem er ihn niederringt und ihm die Kiefer auseinanderreißt: „Und der Geist des Herrn geriet über ihn, und er zerriss ihn, wie man ein Böcklein zerreißt, und hatte doch gar nichts in seiner Hand“ – so lautet der Bibeltext zu dieser Episode (Richter 14,6; LUT). Dürer zeigt den bärtigen, grimmig blickenden Simson rittlings auf dem Löwen sitzend; energisch stemmt er sein angewinkeltes rechtes Bein in den Nacken des Tieres, während er sich mit dem linken am Boden abstützt. Mit bloßen Händen reißt er den Rachen der niedergerungenen Bestie auf.
Simson ist als sehnig-muskulöser Mann reifen Alters dargestellt; er trägt ein Hemd mit weiten flatternden Ärmeln, darüber einen kurzen ärmellosen Rock mit einer kostbaren Agraffe. Der reich gezaddelte Saum erinnert an die Mode des frühen 15. Jahrhunderts. Simsons wilder Haarwuchs ist durch ein Stirnband gebändigt. In seinen kraftvollen Bewegungen vereinigen sich die Hauptlinien der Komposition: zwei sich kreuzende Diagonalen, dominiert von der energischen Raumdiagonalen, die von der Brennnesselpflanze im Vordergrund bis zu der fernen Felsenburg führt. Tier und Mensch wiederum bilden formal eine geschlossene pyramidale Gruppe, die auf den ersten Blick gar nicht ohne weiteres zu entwirren ist. Hinterfangen wird die dramatische Szene von einer Landschaft mit ganz anderem, geradezu friedlichen Charakter. Lediglich die steil aufragende Felsformation auf der rechten Seite erscheint durch ihre unruhige Struktur dem Kampfgeschehen zugehörig.
An seiner Schwertseite führt Simson einen Eselskiefer als Waffe mit sich. Der Eselskiefer ist als Attribut Simsons korrekt, allerdings nicht chronologisch, denn nach Richter 15,15 (LUT) findet der biblische Held den „frischen Eselskinnbacken“ erst nach dem Löwenduell und erschlägt damit „tausend Mann“ (gemeint sind Philister). 
Albrecht Dürer: Ercules (1496); Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken)
Ikonografisch ist der Eselskiefer jedoch wichtig, denn man soll den Auserwählten Gottes an seiner Waffe sofort erkennen können und ihn nicht z . B. für den antiken Heros Herkules halten, der ja ebenfalls einen Löwen besiegt hat. Vielleicht ist der Simson-Holzschnitt von Dürer bewusst als Gegenstück zu seinem formatgleichen Ercules (ebenfalls 1496) angelegt worden, um sowohl den griechischen wie den biblischen Helden als Personifikation der fortitudo (Tapferkeit) zu psentieren.
Rembrandt: Die Hochzeit Simsons (1638); Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
Simson verliebt sich in ein Philistermädchen und heiratet es. Bei ihren Eltern wird ein großes Hochzeitsgelage gehalten; dabei wettet Simson mit den Gästen um dreißig Festgewänder, er werde ihnen ein Rätsel aufgeben, das sie nicht lösen könnten (Richter 14,10-14). Das ist der Moment, den Rembrandt (1609–1669) auf seinem Bild aus der Dresdener Gemäldegalerie darstellt (1638). Bei der Gesamtkomposition lehnt sich der niederländische Künstler an Leonardo da Vincis Abendmahl an (1498 vollendet) – nur setzt er die kostbar gekleidete und gekrönte Philisterbraut an die Stelle der Christusfigur. Rembrandt präsentiert sie aufrecht sitzend und hell beleuchtet vor einem orientalisch anmutenden Teppich. Die junge Frau trägt ein weißes Brokatgewand; in sich gekehrt und scheinbar unberührt von dem Treiben um sie herum, blickt sie aus dem Bild heraus direkt den Betrachter an. Auch Simson selbst, der sich von seiner Braut abwendet, verweist aus Leonardos Abendmahl – dort ist rechts im Bild Matthäus in ähnlicher Haltung zu sehen.
Leonardo da Vinci: Abendmahl (1494-1498); Mailand, Santa Maria della Grazie (für die Großansicht einfach anklicken)
Das eigentliche Geschehen spielt sich im rechten Bilddrittel ab, wo Simson den Philistern mit sprechender Gestik sein Rätsel vorträgt: „Speise ging aus vom Fresser und Süßigkeit vom Starken“ (Richter 14,14; LUT). Rembrandt gibt Simson mit wallendem Haupthaar und Vollbart eine löwengleiche Erscheinung – und verweist damit auch auf die Lösung: der Honig im Löwengerippe. Auf dem Weg zu seiner Braut hatte Simson in dem Tierkadaver einen Bienenstock entdeckt; er nahm von dem Honig und teilte ihn mit seinen Eltern, ohne dessen Herkunft zu verraten (Richter 14,8-9).
In Simsons Kampf gegen die Philister sahen die Niederländer seit Ende des 16. Jahrhunderts Parallelen zu ihrem Aufstand gegen die Spanier. Im Zeitalter der Reformation waren auch in den „niederen Landen“ Teile der Bevölkerung zum Protestantismus konvertiert. Karl V. und sein Sohn und Nachfolger Philipp II. von Spanien, beide strenggläubige Katholiken, ließen die Protestanten verfolgen und versuchten sie zu rekatholisieren. Die Bemühungen Philipps II., eine zentrale Verwaltung einzuführen und einheitliche Steuern und Gesetze zu erlassen, führten schließlich 1579 zum Aufstand von sieben niederländischen Provinzen. Sie schlossen sich zur Utrechter Union zusammen und gründeten die Republik der Sieben Vereinigten Niederlande. Wilhelm von Oranien, eigentlich Statthalter des Königs, übernahm die Führung der Aufständischen im sogenannten Achtzigjährigen Krieg (1568–1648). Erst am 15. Mai 1648 kam es nämlich durch den Westfälischen Frieden in Münster und Osnabrück zur eigentlichen Geburtsstunde der Niederlande.
Rembrandt: Simson bedroht seinen Schwiegervater (1635); Berlin, Gemäldegalerie
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Rembrandt hat sich noch in weiteren Werken mit der Geschichte Simsons beschäftigt, so u. a. in dem Bild Simson bedroht seinen Schwiegervater aus der Berliner Gemäldegalerie (1635), einer in der Kunst äußerst selten dargestellten Episode (Richter 15,1-6): Als Simson nach seiner Abwesenheit zum Haus seiner Frau zurückkehrt, lässt ihn der Schwiegervater nicht herein und sagt ihm, er habe seine Tochter mittlerweile einem anderen Mann gegeben; Simson könne ihre jüngste Schwester zur Frau haben. Der zornerfüllte Simson, erkennbar an seinem langen Haar, steht mit dem Rücken zu der mit Eisenwerk gesicherten Tür und droht seinem Schwiegervater, der sich im Haus verbarrikadiert hat und ängstlich aus der Fensterluke schaut. Mit der erhobenen, geballten Faust macht Simson unmissverständlich deutlich, dass er Rache nehmen wird: „Diesmal bin ich frei von Schuld, wenn ich den Philistern Böses tue“ (Richter 15,3; LUT). Dann verbrennt er die Felder der Philister – die daraufhin Simsons Schwiegervater und seine Familie töten.

Literaturhinweise
Reuße, Felix: Albrecht Dürer und die europäische Druckgraphik. Die Schätze des Sammlers Ernst Riecker. Wienand Verlag, Köln 2002, S.16;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 153-154;
Schoch, Rainer: Samson tötet den Löwen. In: Matthias Mende u.a. (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band II: Holzschnitte. Prestel Verlag, München 2002, S. 106-108;
Seifert, Christian Tico: Leonardo und Jan Wierix. Bemerkungen zu Rembrandts »Hochzeit Simsons«. In: Holm Bevers u.a. (Hrsg.), Rembrandt – Wissenschaft auf der Suche. Beiträge des Internationalen Symposiums Berlin – 4. und 5. November 2006. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2009, S. 131-136;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 1. September 2024)

Donnerstag, 26. April 2012

Michelangelos schwankender Bacchus

Michelangelo: Bacchus (1496/97);
Florenz, Museo Nazionale del Bargello
Michelangelos Bacchus, den der junge Künstler 1496/97 in Rom für den Kardinal Raffaele Riario schuf, könnte man durchaus als „Fälschung“ bezeichnen. Auf jeden Fall handelt es sich um eine sehr ungewöhnliche Skulptur: Erstmals in der Geschichte der neuzeitlichen Kunst schuf ein noch nicht etablierter Bildhauer (Michelangelo war damals 22 Jahre alt!) eine allansichtige, etwas überlebensgroße und damit für damalige Verhältnisse monumentale Marmorfigur mit einem antiken Thema. Ihre Allansichtigkeit, übrigens einmalig in Michelangelos Œuvre, ist darauf zurückzuführen, dass die Skulptur für eine Antikensammlung unter freiem Himmel bestimmt war, wo sie von allen Seiten betrachtet werden konnte.
Geht schon in Ordnung, dass ein Bacchus seine Standfestigkeit einbüßt
Weinreben, Weinlaub und Efeu schmücken als pflanzliche Attribute den Kopf des Weingottes, und eine Trinkschale in seiner rechten Hand spielt auf den berauschenden Trank an, der aus den Trauben gewonnen wird. Ein bocksfüßiger Satyr, der an einer Weinrebe nascht, stützt die große, gebogene Figur des Bacchus – ein Kunstgriff, der bereits von dem Marmorbildhauern der Antike angewendet wurde. Auch das Raubtierfell in seiner linken Hand gehört zu den Attributen des Bacchus. 
Deutlich erkennbar: das Raubtierfell in der linken Hand des Bacchus
Michelangelos Absicht war es, die Skulptur wie eine echte antike Statue wirken zu lassen. So verweist z. B. das abgeschlagene Glied des Gottes auf das vermeintlich ehrwürdige Alter der Figur, ebenso die Tatsache, dass ursprünglich die rechte Hand und die Trinkschale fehlten – Defekte, wie sie bei ausgegrabenen antiken Skulpturen anzutreffen waren. 
In diesem Skulpturengarten war Michelangelos Bacchus ursprünglich aufgestellt

Dass der Bacchus tatsächlich in einem Skulpturen-Garten aufgestellt wurde, zeigt eine Zeichnung des niederländischen Künstlers Maarten van Heemskerck (1498–1574), der sich von 1532 bis 1535 in Rom aufhielt. Diese Zeichnung zeigt Michelangelos Skulptur ohne die rechte Hand mit der Trinkschale, also den Originalzustand. Sie ist später angefertigt worden, wahrscheinlich von einem Restaurator, der nicht über die Qualitäten Michelangelos verfügte. Die Arbeit des Restaurators ist an zwei Rissen erkennbar, von denen einer genau durch das Handgelenk, der andere durch Daumen und Zeigefinger verläuft. Heute befindet sich der Bacchus im Museo Nazionale del Bargello in Florenz.
Bacchus (Dionysos Richelieu), röm. Marmorkopie
nach einem um 300 v.Chr. entstandenen Original;
Paris, Louvre
Kennzeichen einer antiken Skulptur ist ein solider Kontrapost, d. h. die sorgfältige Balance einer Figur mit Stand- und Spielbein. Michelangelos Bacchus hat seine Standfestigkeit allerdings eingebüßt: Seine Trunkenheit und sein unsicherer Gang kommen sowohl in der instabilen Stellung der Beine als auch im Neigungswinkel von Oberkörper und Kopf zum Ausdruck. Der Weingott taumelt regelrecht und sucht mühsam Halt in sich selbst.
Michelangelos Bacchus tritt in direkte Konkurrenz mit vergleichbaren Werken antiker Bildhauer wie Praxiteles oder Lysipp. Aber er ahmt das antike Kunstideal nicht nur nach – er ironisiert es auch. Michelangelos Bacchus ist ohne Beispiel: In den allermeisten antiken Darstellungen des Weingotts fehlen Hinweise auf Trunkenheit oder Ausschweifung; Bacchus wird durch die oben genannten Attribute erkennbar. An Michelangelos Skulptur dagegen können wir durch die schwankende Pose sehr realistisch die Auswirkungen des reichlich genossenen Weins ablesen. Volker Herzner geht sogar so weit, die Statue als „Lasterallegorie“ zu bezeichnen, die vor den schädlichen Folgen exzessiven Weinkonsums warnen soll. Dem mag ich mich nicht anschließen dafür ist der Anblick des torkelnden Bacchus meiner Ansicht nach einfach zu vergnüglich.
Kardinal Riario hatte 1496 einen von Michelangelo in Florenz geschaffenen, heute verschollenen schlafenden Cupido als vermeintlich antike Skulptur gekauft – die Täuchung jedoch bald bemerkt. Das löste bei dem einflussreichen Würdenträger jedoch keine Empörung, sondern wohl eher Bewunderung aus, sonst hätte er den Bildhauer nicht nach Rom gerufen und mit dem Bacchus beauftragt. Für den Kunstliebhaber der  Renaissance war eine scheinbar „originalantike“ Plastik keineswegs Betrug, Imitation kein kaltes, uninspiriertes Geschäft, sondern sehr wohl mit schöpferischem Geist vereinbar. Bildhauern des Altertums nachzueifern wurde begrüßt und goutiert. Wenn es einem Künstler gelang, antike Meister täuschend ähnlich nachzuahmen, so konnte er sich mit ihnen messen.
Es stellt sich die Frage: Wie war es für Michelangelo möglich, fast gleichzeitig eine unverhohlen heidnische Götterfigur wie den Bacchus und die Pietà von St. Peter zu schaffen? Wie konnte er pagane antike Vorbilder imitieren und zugleich fromm sein (was Michelangelo ohne Zweifel war)? Eine Antwort darauf versucht Edgar Wind in seinem Buch Heidnische Mysterien in der Renaissance; speziell das Kapitel XII („Ein bacchisches Mysterium Michelangelos) geht auf den Bacchus ein.


Literaturhinweise
Barolsky, Paul: The Strange Case of the Young Michelangelo. In: Arion 21 (2013), S. 103-112;
Freedman, Luba: Michelangelo’s Reflections on Bacchus. In: artibus et historiae 24, No. 47 (2003), S. 121-135;
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015, S. 304-313; 
Hirst, Michelangelo: Michelangelo in Rome: an Altar-Piece and the Bacchus. In: The Burlington Magazine 123 (1981), S. 581-593;
Keazor, Henry: Täuschend echt! Eine Geschichte der Kunstfälschung. Theiss Verlag, Darmstadt 2015. S. 94-105;
Lieberman, Ralph: Regarding MichelangeloBacchus. In: artibus et historiae 22 (2001), S. 65-74;
Myssok, Johannes: Monolith und weiß. Die Oberflächen von Michelangelos Skulpturen. In: Magdalena Bushart/Andreas Huth (Hrsg.), superficies. Oberflächengestaltungen von Bildwerken in Mittelalter und Früher Neuzeit. Böhlau Verlag, Wien/Köln 2022, S. 57-74;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2: Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 73-75; 
Wind, Edgar: Heidnische Mysterien in der Renaissance. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1981;
Zöllner, Frank: Michelangelo. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2007.

(zuletzt bearbeitet am 26. Mai 2024)


Als Stendhal-Syndrom bezeichnete die Florentiner Psychiaterin Graziella Magherini (1927–2023)1989 eine spezifische Auswirkung der Betrachtung von Kunst und insbesondere von Meisterwerken, nämlich der Überforderung und Überwältigung durch visuelle Reize, die zu einem physischen und psychischen Zusammenbruch führen können, wie es der französische Schriftsteller Stendhal (1783–1842) 1817 in seinem Reisebericht „Rome, Naples et Florence“ beschrieben hatte.

Montag, 23. April 2012

Gianlorenzo Bernini – der Michelangelo des Barock

In heftiger Bewegung wie eingefroren
Die Villa Borghese auf dem Pincio gehört neben St. Peter, der Sixtinischen Kapelle und den Vatikanischen Museen zu den „must-sees“ für den kunstinteressierten Rom-Touristen. Das Gelände besteht aus einer ausgedehnten Parkanlage und dem zwischen 1613 und 1616 erbauten Casino, in dem der römische Kardinal Scipione Borghese (1577–1633) seine herausragende Kunstsammlung unterbringen ließ. Genau dafür und dafür allein war die Villa von Anfang an bestimmt, denn Wohn- und Haushaltsräume hatte man nicht vorgesehen. Die Villa war kein privates Refugium, sondern ein Ort der Muße, an dem sich Gleichgesinnte abseits der politischen Geschäfte mit den Künsten befassen sollten (Schulze 1993, S. 238). Natürlich erfüllten Villa und Kunstschätze auch Repräsentationszwecke: Sie sollten die gesellschaftliche Position des Würdenträgers sichtbar machen.
Die Villa Borghese auf dem Pincio – innen ist sie noch schöner
Die außergewöhnliche Kunstsammlung des Kardinals befindet sich noch heute an Ort und Stelle und ist auch zu besichtigen – allerdings nur bei Voranmeldung. Klugerweise sollte das vor Antritt einer Romreise geschehen ...
Kardinal Borghese, Neffe des damals amtierenden Papst Paul V., war es auch, der den jungen Künstler Gianlorenzo Bernini (1598–1680) maßgeblich förderte. Heute gilt Bernini als bedeutendster italienischer Bildhauer und Architekt des Barock – von ihm stammen u.a. die Kolonnaden auf dem Petersplatz und der Vierströmebrunnen auf der Piazza Navona. Für seinen Mäzen schuf Bernini insgesamt vier Skulpturen, die alle in der Villa Borghese zu besichtigen sind: Aeneas, Anchises und Ascanius auf der Flucht aus Troja (1618/19), Der Raub der Proserpina (1621/22; siehe meinen Post Göttliche Gewalt), David (1623/24; siehe meinen Post Die Schleuder Gottes) und Apoll und Daphne (1622-1625).
Gianlorenzo Bernini: Apoll und Daphne (1622-1625); Rom, Villa Borghese
Apoll und Daphne stellt den Höhepunkt in Berninis bildhauerischem Werk dar. Wer sich in Rom Michelangelos Pietà im Petersdom angesehen hat und hingerissen war, bei dem bricht angesichts dieser Figurengruppe das Stendhal-Syndrom vollends aus. Sie gehört zu den vollkommensten Skulpturen, die je geschaffen wurden, rundum begehbar, immer neue, überraschende Anblicke bietend. Ich habe sie, völlig überwältigt, mehrmals von allen Seiten betrachtet und mich fortwährend gefragt: Wie hat er das bloß gemacht? Es ist unglaublich, welche Perfektion hier zu bestaunen ist. Wer nur nach Rom reist, um Apoll und Daphne zu sehen, hat alles richtig gemacht, wage ich zu sagen.
Die Geschichte von Apoll und Daphne stammt aus Ovids Metamorphosen: Als Apoll den Liebesgott Eros als schlechten Schützen verspottet, rächt sich dieser, indem er einen Liebespfeil mit einer goldenen Spitze auf ihn und einen mit bleierner Spitze auf die Nymphe Daphne abschießt. Apoll verliebt sich unsterblich in Daphne, während der Pfeil, mit dem Eros die Nymphe trifft, genau das Gegenteil bewirkt. Als Apoll Daphne bedrängt, flieht sie, wird jedoch von Apoll verfolgt. Erschöpft fleht Daphne zu ihrem Vater Peneios, er möge ihre – den Apoll so sehr verlockende – Gestalt verwandeln. Daraufhin erstarren ihre Glieder, und sie wird zu einem Lorbeerbaum. – Der Lorbeer war Apoll seither heilig. Zum Gedenken an Daphne trug er fortan einen Lorbeerkranz bzw. eine mit Lorbeer geschmückte Leier.
Apoll vom Belvedere (1489 aufgefunden, römische Kopie einer
griechischen Bronzestatue); Rom, Vatikanische Museen
Bernini greift bei seinem Apoll auf ein hochberühmtes antikes Vorbild zurück, nämlich auf die Statue des Apoll vom Belvedere, die Ende des 15. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde und sich in den Vatikanischen Museen befindet (siehe meinen Post Der Apoll vom Belvedere). Von der merkwürdigen Haartracht über den Mantel bis hin zur letzten Sandalenschnalle begegnen wir bei Bernini jeder Einzelheit der Statue vom Belvedere (Winner 1998, S. 240). Bernini zeigt uns diesen Apoll aber nicht in „edler Einfalt und stiller Größe“, sondern in lebhafter Bewegung. Aus dem antiken Schreiten hat er einen laufenden Apoll entwickelt. Gemessene Ruhe ist dieser Gestalt fremd. 
Daphnes Beine überziehen sich mit Baumrinde, als Apoll sie berührt
Bernini gelingt es, in seiner Skulptur die ganze Geschichte Ovids zu erzählen, uns im Stein eine Abfolge des Geschehens vor Augen zu führen. „When Bernini depicts god and nymph, he transforms Ovids poetic version of their story in word into a marble image. The transformation of the verbal into the visual is an artistic metamorphosis, art as metamorphosis of one medium into another“ (Barolsky 2005, S. 157). Drei „Metamorphosen“ sind dargestellt: Auf dem Höhepunkt der Handlung verwandelt sich das Verlangen Apolls in Erstaunen, die flüchtende Verweigerung Daphnes in Entsetzen; zum zweiten erstarrt die Bewegung im Moment äußerster Anspannung – Apoll gelingt es, Daphne zu fassen – mit einem Schlag: als wäre ein Film angehalten worden ...; schließlich verwandelt sich die Gestalt Daphnes selbst zum Baum: Die Haare werden zu Blattwerk, die Füße zu Wurzeln, die Beine zu Rinde, die vorne bis über die linke Hüfte emporwächst. Das ist mit einer Meisterschaft gearbeitet, die ich bislang nirgends sonst gesehen habe. Und anders als bei Michelangelos Pietà darf man ganz nah herangehen an die Skulptur, immer wieder um sie herum, jedes Detail kann in Augenschein genommen und aufgesogen werden, es ist herrlich!
... und ihre Finger werden zu Blattwerk (für die Großansicht einfach anklicken)
Apolls rechter Arm ist nach hinten und abwärts gesenkt – ihm entspricht kontrapostisch Daphnes rechter, himmelwärts gestreckter Arm. Dass Apolls linke Hand Daphnes Leib umfasst und damit ihre Verwandlung auslöst, sieht man nur von der vorderen rechten Schmalseite aus. Umschreitet man die Gruppe weiter, zeigt sich, wie weit die Metamorphose des Mädchens fortgeschritten ist: Ein kräftiger Baumstamm umfängt das linke Bein von hinten, Büschel von Zweigen verdecken den Oberschenkel, das wallende Haar wird gegen die Schwerkraft emporgezogen und bildet an den Spitzen Blätter aus. Daphnes banges Gesicht mit ihrem vor Entsetzen weit geöffneten Mund offenbart dabei, dass sie sich bereits ihrer Verwandlung in einen Lorbeerbaum bewusst ist. Apoll hat dies, angesichts der leichten Verwunderung in seinem Gesicht, noch nicht realisiert. Beim Griff seiner Linken nach der Taille der inzwischen Eingeholten bemerkt er, dass deren Haut dem Druck seiner Finger nicht nachgibt, da sie bereits zu harter Rinde wurde.
Berninis Skulptur stand ursprünglich nicht frei im Raum wie heute in der Villa Borghese, sondern vor einer Seitenwand und mit dem Rücken zum Eingang. Indem der Bildhauer sein Publikum wohlüberlegt von hinten nach vorne um das Werk herumführte, erkannten die Betrachtenden das dargestellte Geschehen nur schrittweise, das sich erst auf der anderen Seite der Bildgruppe voll offenbarte. Wie Apoll selbst nahmen sie die Verwandlung eines Menschen in einem Baum erst allmählich wahr – was dem Werk einen eminent zeitlichen Aspekt verleiht.
Die Metamorphose des toten Marmors
Die Chlamys des Apoll vom Belvedere wird bei Bernini zu einem länglichen Tuch, das sich fast wie ein Segel hinter dem Rücken des Gottes aufbläht und gleichzeitig um seine Hüften flattert.
„Einer Spirale gleich, windet sich der Strang um seinen linken Arm und über die rechte Schulter, bauscht sich entlang des Rückens auf und dreht sich wieder nach vorn um seine Taille und über seine rechte Hüfte erneut nach hinten, um dort – wie bei einer Turbo-Muschel – in einem schraubenförmigen Zipfel zu enden“ (Scholten 2019, S. 37).
Die antike Statue verfügt über einen Baumstumpf als mechanische Stütze – ein Notbehelf des Bildhauers, um die ursprünglich stützenlose Bronzestatue in den brüchigeren Stein übertragen zu können. Bernini dagegen legt Wert darauf, daß die laufenden Beine seines Apoll stützenlos gemeißelt stehen (Winner 1998, S. 244). Die Virtuosität geht so weit, dass Apoll nur auf einem Fuß den Boden berührt. Doch der Baumstumpf der antiken Statue ist keineswegs verschwunden – aus der inhaltsleeren Stütze wird vor unseren Augen der sich wandelnde Leib Daphnes. 
Bernini gelang es, auch mit Hilfe der virtuosen Technik seines Meistergehilfen Giuliano Finelli (1601–1653), die traditionellen Grenzen des Skulptierens von Marmor zu überschreiten. Die phänomenale Anmutung von Stofflichkeit, der sich in der wirklichkeitsnahen Textur der menschlichen Haut, der Rinde und der Blätter zeigt, ist bis heute bewunderungswürdig. Dabei wird die Metamorphose zum künstlerischen Konzept, das sowohl die Verwandlung von Daphne in einen Baum als auch die Umwandlung des toten Marmors in eine emotional aufgeladene »lebende« Szene vorsah“ (Scholten 2019, S. 37). Berninis Ziel ist die Eroberung, ja die Verleugnung des Marmors, die Suggestion realer Bewegung und eines Zeitablaufs, um bei den Betrachtenden meraviglia (Überraschung) und stupore (Staunen) hervorzurufen.
Caravaggio: Martyrium des Matthäus (1600/1601); Rom, Santa Maria del Popolo, Contarelli-Kapelle
Die Gestalt der Daphne könnte von einer Figur aus Caravaggios Martyrium des Matthäus (1600/1601) in der römischen Contarelli-Kapelle angeregt worden sein (und zwar von dem erschreckt zurückweichenden Knaben am rechten Bildrand). Der gebauschte Mantel des nackten Apoll wiederum wie auch seine elegante Laufpose finden sich ähnlich auf Guido Renis Gemälde Hippomenes und Atalante (um 1615)
Guido Reni: Hippomenes und Atalante (um 1615); Madrid, Museo del Prado
Joy Kenseth sieht in der Figur des von hinten gezeigten, flüchtenden Acis aus Annibale Carraccis Polyphem-Fresko in der Galleria Farnese (1597) das Modell für den laufenden Apoll, wenn der Betrachter die Skulptur von der Rückseite in den Blick nimmt. Carraccis Deckenfresko hatte Bernini bereits für seinen David (1623/24) als Anregung gedient. Berninis Apoll erinnert in seiner Leichtigkeit zudem an das Motiv des fliegenden Merkur, das von Giambologna (1529–1608) und seinen Zeitgenossen in Bronze umgesetzt worden war. Jedoch zeigt die Marmorskulptur Berninis „keinen manieristisch posierenden Ballettänzer, sondern einen natürlich eilenden jungen Mann(Scholten 2019, S. 37).
Annibale Carracci: Polyphem und Acis (1597); Rom, Palazzo Farnese
Giambologna: Merkur (um 1580); Florenz, Bargello
Adriaen de Vries: Merkur und Psyche (1593); Paris, Louvre
Antonio Canova: Apoll krönt sich selbst (1781/82);
Los Angeles, J. Paul Getty Museum
Der italienische Bildhauer Antonio Canova (1757–1822) hat dann im 18. Jahrhundert den Fortgang von Ovids Erzählung ebenfalls in einer Marmorskulptur umgesetzt: Apoll krönt sich selbst.
Nachdem sich die von Apoll verfolgte Daphne in einen Lorbeerbaum verwandelt, um ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, setzt sich der nackte Gott einen Kranz aus Lorbeerblättern auf den Kopf. „Jetzo sagte der Gott: Da du mein als Gattin nicht sein kannst,/sei als Baum du die Meinige! Immer umwind‘ uns/Du das Haar, und die Leier, und du den Köcher, o Lorbeer! (Ovid; 1,557-559). Canovas 1781/82 entstandene Statue ist klassizistisch beruhigt und wieder deutlich an den Apoll vom Belvedere angelehnt. Die Figur präsentiert sich bis auf die Sandalen nackt und mit breiter, muskulöser Brust in schönstem Kontrapost; Leier und Chlamys hängen über einem Baumstamm, auf den sich Apoll mit seiner Rechten stützt.
 
Literaturhinweise
Barolsky, Paul: Ovid, Bernini, and the Art of Petrification. In: Arion 13 (2005), S. 149-161;
Bolland, Andrea: Desiderio and Diletto: Vision, Touch, and the Poetics of Berninis Apollo and Daphne. In: The Art Bulletin 82 (2000), S. 309-330;
Karsten, Arne: Bernini. Der Schöpfer des barocken Rom. Verlag C.H. Beck, München 2006;
Kenseth, Joy: Berninis Borghese Sculptures: Another View. In: The Art Bulletin 63 (1981), S. 191-210;
Kruse, Christiane: Parer viva oder die Kunst der (dis)simulazione im Barock. Zu Gian Lorenzo Berninis Apoll und Daphne in der Galleria Borghese. In: Gundolf Winter u.a. (Hrsg.), Skulptur – Zwischen Realität und Virtualität. Wilhelm Fink Verlag, München 2006, S. 155-176;
Ovid: Metamorphosen. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß.  Insel Verlag, Frankfurt am Main 1990, S. 27;
Scholten, Frits: Malerische Skulptur. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio & Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 30-45;
Schulze, Sabine: Zwischen Innovation und Tradition. Berninis Apoll und Daphne. In: Städel-Jahrbuch 14 (1993), S. 231-250;
Warwick, Genevieve: Speaking Statues: Berninis Apollo and Daphne at the Villa Borghese. In: Art History 27 (2004), S. 353-381;
Winner, Matthias: Paragone mit dem Belvederischen Apoll. Kleine Wirkungsgeschichte der Statue von Antico bis Canova. In: Matthias Winner u.a. (Hrsg.), Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Verlag Philip von Zabern, Mainz 1998, S. 227-252.
Antonello, berauscht

(zuletzt bearbeitet am 23. Juli 2024)