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In heftiger Bewegung wie eingefroren |
Die Villa Borghese
auf dem Pincio gehört neben St. Peter, der Sixtinischen Kapelle und den Vatikanischen Museen
zu den „must-sees“ für den kunstinteressierten Rom-Touristen. Das Gelände
besteht aus einer ausgedehnten Parkanlage und dem zwischen 1613 und 1616 erbauten Casino, in
dem der römische Kardinal Scipione Borghese (1577–1633) seine herausragende
Kunstsammlung unterbringen ließ. Genau dafür und dafür allein war die Villa von Anfang an bestimmt, denn Wohn- und Haushaltsräume hatte man nicht vorgesehen. „Die Villa war kein privates Refugium, sondern ein Ort der Muße, an dem sich Gleichgesinnte abseits der politischen Geschäfte mit den Künsten befassen sollten“ (Schulze 1993, S. 238). Natürlich erfüllten Villa und Kunstschätze auch Repräsentationszwecke: Sie sollten die gesellschaftliche Position des Würdenträgers sichtbar machen.
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Die Villa Borghese auf dem Pincio – innen ist sie noch schöner |
Die außergewöhnliche Kunstsammlung des Kardinals befindet sich noch heute an Ort und Stelle und ist auch
zu besichtigen – allerdings nur bei Voranmeldung. Klugerweise sollte das vor
Antritt einer Romreise geschehen ...
Kardinal Borghese, Neffe des
damals amtierenden Papst Paul V., war es auch, der den jungen Künstler
Gianlorenzo Bernini (1598–1680) maßgeblich förderte. Heute gilt Bernini als bedeutendster italienischer Bildhauer
und Architekt des Barock – von ihm stammen u.a. die Kolonnaden auf dem Petersplatz
und der Vierströmebrunnen auf der Piazza Navona. Für
seinen Mäzen schuf Bernini insgesamt vier Skulpturen, die alle in der Villa Borghese zu
besichtigen sind: Aeneas, Anchises und Ascanius auf der Flucht aus Troja
(1618/19), Der Raub der Proserpina (1621/22; siehe meinen Post „Göttliche Gewalt“), David (1623/24; siehe meinen Post „Die Schleuder Gottes“) und Apoll
und Daphne (1622-1625).
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Gianlorenzo Bernini: Apoll und Daphne (1622-1625); Rom, Villa Borghese |
Apoll und Daphne
stellt den Höhepunkt in Berninis bildhauerischem Werk dar. Wer sich in Rom
Michelangelos Pietà im Petersdom angesehen hat und hingerissen war, bei dem
bricht angesichts dieser Figurengruppe das Stendhal-Syndrom vollends aus. Sie
gehört zu den vollkommensten Skulpturen, die je geschaffen wurden, rundum
begehbar, immer neue, überraschende Anblicke bietend. Ich habe sie, völlig überwältigt,
mehrmals von allen Seiten betrachtet und mich fortwährend gefragt: Wie hat er
das bloß gemacht? Es ist unglaublich, welche Perfektion hier zu bestaunen ist.
Wer nur nach Rom reist, um Apoll und Daphne zu sehen, hat alles richtig
gemacht, wage ich zu sagen.
Die Geschichte von
Apoll und Daphne stammt aus Ovids Metamorphosen: Als Apoll den Liebesgott
Eros als schlechten Schützen verspottet, rächt sich dieser, indem er einen
Liebespfeil mit einer goldenen Spitze auf ihn und einen mit bleierner Spitze
auf die Nymphe Daphne abschießt. Apoll verliebt sich unsterblich in Daphne, während der
Pfeil, mit dem Eros die Nymphe trifft, genau das Gegenteil bewirkt. Als Apoll
Daphne bedrängt, flieht sie, wird jedoch von Apoll verfolgt. Erschöpft fleht
Daphne zu ihrem Vater Peneios, er möge ihre – den Apoll so sehr verlockende –
Gestalt verwandeln. Daraufhin erstarren ihre Glieder, und sie wird zu einem
Lorbeerbaum. – Der Lorbeer war Apoll seither heilig. Zum Gedenken an
Daphne trug er fortan einen Lorbeerkranz bzw. eine mit Lorbeer geschmückte
Leier.
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Apoll vom Belvedere (1489 aufgefunden, römische Kopie einer
griechischen Bronzestatue); Rom, Vatikanische Museen |
Bernini
greift bei seinem Apoll auf ein hochberühmtes antikes Vorbild zurück, nämlich auf die
Statue des Apoll vom Belvedere, die Ende des 15. Jahrhunderts wiederentdeckt
wurde und sich in den Vatikanischen Museen befindet (siehe meinen Post „Der Apoll vom Belvedere“). „Von der merkwürdigen Haartracht über den Mantel bis hin zur letzten Sandalenschnalle begegnen wir bei Bernini jeder Einzelheit der Statue vom Belvedere“ (Winner 1998, S. 240). Bernini zeigt uns diesen
Apoll aber nicht in „edler Einfalt und stiller Größe“, sondern in lebhafter
Bewegung. Aus dem antiken Schreiten hat er einen laufenden Apoll entwickelt. Gemessene Ruhe ist dieser Gestalt fremd.
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Daphnes Beine überziehen sich mit Baumrinde, als Apoll sie berührt |
Bernini gelingt es, in seiner Skulptur die ganze
Geschichte Ovids zu erzählen, uns im Stein eine Abfolge des Geschehens vor
Augen zu führen. „When Bernini depicts god and nymph, he transforms Ovid’s poetic version of their story in word into a marble image. The transformation of the verbal into the visual is an artistic metamorphosis, art as metamorphosis of one medium into another“ (Barolsky 2005, S. 157). Drei „Metamorphosen“ sind dargestellt: Auf dem Höhepunkt
der Handlung verwandelt sich das Verlangen Apolls in Erstaunen, die flüchtende
Verweigerung Daphnes in Entsetzen; zum zweiten erstarrt die Bewegung im Moment
äußerster Anspannung – Apoll gelingt es, Daphne zu fassen – mit einem Schlag:
als wäre ein Film angehalten worden ...; schließlich verwandelt sich die
Gestalt Daphnes selbst zum Baum: Die Haare werden zu Blattwerk, die Füße zu
Wurzeln, die Beine zu Rinde, die vorne bis über die linke Hüfte emporwächst. Das ist mit einer Meisterschaft gearbeitet, die
ich bislang nirgends sonst gesehen habe. Und anders als bei Michelangelos Pietà darf man ganz nah herangehen an die Skulptur, immer wieder um sie herum, jedes
Detail kann in Augenschein genommen und aufgesogen werden, es ist herrlich!
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... und ihre Finger werden zu Blattwerk (für die Großansicht einfach anklicken) |
Apolls rechter Arm ist nach hinten und abwärts gesenkt – ihm entspricht kontrapostisch Daphnes rechter, himmelwärts gestreckter Arm. Dass Apolls linke Hand Daphnes Leib umfasst und damit ihre Verwandlung auslöst, sieht man nur von der vorderen rechten Schmalseite aus. Umschreitet man die Gruppe weiter, zeigt sich, wie weit die Metamorphose des Mädchens fortgeschritten ist: Ein kräftiger Baumstamm umfängt das linke Bein von hinten, Büschel von Zweigen verdecken den Oberschenkel, das wallende Haar wird gegen die Schwerkraft emporgezogen und bildet an den Spitzen Blätter aus. Daphnes banges Gesicht mit ihrem vor Entsetzen weit geöffneten Mund offenbart dabei, dass sie sich bereits ihrer Verwandlung in einen Lorbeerbaum bewusst ist. Apoll hat dies, angesichts der leichten Verwunderung in seinem Gesicht, noch nicht realisiert. Beim Griff seiner Linken nach der Taille der inzwischen Eingeholten bemerkt er, dass deren Haut dem Druck seiner Finger nicht nachgibt, da sie bereits zu harter Rinde wurde. Berninis Skulptur stand ursprünglich nicht frei im Raum wie heute in der Villa Borghese, sondern vor einer Seitenwand und mit dem Rücken zum Eingang. Indem der Bildhauer sein Publikum wohlüberlegt von hinten nach vorne um das Werk herumführte, erkannten die Betrachtenden das dargestellte Geschehen nur schrittweise, das sich erst auf der anderen Seite der Bildgruppe voll offenbarte. Wie Apoll selbst nahmen sie die Verwandlung eines Menschen in einem Baum erst allmählich wahr – was dem Werk einen eminent zeitlichen Aspekt verleiht.
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Die Metamorphose des toten Marmors
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Die Chlamys des Apoll vom Belvedere wird bei Bernini zu einem länglichen Tuch, das sich fast wie ein Segel hinter dem Rücken des Gottes aufbläht und gleichzeitig um seine Hüften flattert. „Einer Spirale gleich, windet sich der Strang um seinen linken Arm und über die rechte Schulter, bauscht sich entlang des Rückens auf und dreht sich wieder nach vorn um seine Taille und über seine rechte Hüfte erneut nach hinten, um dort – wie bei einer Turbo-Muschel – in einem schraubenförmigen Zipfel zu enden“ (Scholten 2019, S. 37).
Die antike Statue verfügt über einen Baumstumpf als mechanische Stütze – ein Notbehelf des Bildhauers, um die ursprünglich stützenlose Bronzestatue in den brüchigeren Stein übertragen zu können. Bernini dagegen „legt Wert darauf, daß die laufenden Beine seines Apoll stützenlos gemeißelt stehen“ (Winner 1998, S. 244). Die Virtuosität geht so weit, dass Apoll nur auf einem Fuß den Boden berührt. Doch der Baumstumpf der antiken Statue ist keineswegs verschwunden – aus der inhaltsleeren Stütze wird vor unseren Augen der sich wandelnde Leib Daphnes.
Bernini gelang es, auch mit Hilfe der virtuosen Technik seines Meistergehilfen Giuliano Finelli (1601–1653), die traditionellen Grenzen des Skulptierens von Marmor zu überschreiten. Die phänomenale Anmutung von Stofflichkeit, der sich in der wirklichkeitsnahen Textur der menschlichen Haut, der Rinde und der Blätter zeigt, ist bis heute bewunderungswürdig. Dabei wird die Metamorphose zum künstlerischen Konzept, „das sowohl die Verwandlung von Daphne in einen Baum als auch die Umwandlung des toten Marmors in eine emotional aufgeladene
»lebende«
Szene vorsah“ (Scholten 2019, S. 37). Berninis Ziel ist die Eroberung, ja die Verleugnung des Marmors, die Suggestion „realer“ Bewegung und eines Zeitablaufs, um bei den Betrachtenden meraviglia (Überraschung) und stupore (Staunen) hervorzurufen.
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Caravaggio: Martyrium des Matthäus (1600/1601); Rom, Santa Maria del Popolo, Contarelli-Kapelle |
Die Gestalt der Daphne könnte von einer Figur aus Caravaggios Martyrium des Matthäus (1600/1601) in der römischen Contarelli-Kapelle angeregt worden sein (und zwar von dem erschreckt zurückweichenden Knaben am rechten Bildrand). Der gebauschte Mantel des nackten Apoll wiederum wie auch seine elegante Laufpose finden sich ähnlich auf Guido Renis Gemälde Hippomenes und Atalante (um 1615).
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Guido Reni: Hippomenes und Atalante (um 1615); Madrid, Museo del Prado |
Joy Kenseth sieht in der Figur des von hinten gezeigten, flüchtenden Acis aus Annibale Carraccis Polyphem-Fresko in der Galleria Farnese (1597) das Modell für den laufenden Apoll, wenn der Betrachter die Skulptur von der Rückseite in den Blick nimmt. Carraccis Deckenfresko hatte Bernini bereits für seinen David (1623/24) als Anregung gedient. Berninis Apoll erinnert in seiner Leichtigkeit zudem an das Motiv des fliegenden Merkur, das von Giambologna (1529–1608) und seinen Zeitgenossen in Bronze umgesetzt worden war. Jedoch zeigt die Marmorskulptur Berninis „keinen manieristisch posierenden Ballettänzer, sondern einen natürlich eilenden jungen Mann“ (Scholten 2019, S. 37).
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Annibale Carracci: Polyphem und Acis (1597); Rom, Palazzo Farnese
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Giambologna: Merkur (um 1580); Florenz, Bargello
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Adriaen de Vries: Merkur und Psyche (1593); Paris, Louvre
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Antonio Canova: Apoll krönt sich selbst (1781/82); Los Angeles, J. Paul Getty Museum
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Der
italienische Bildhauer Antonio Canova (1757–1822) hat dann im 18.
Jahrhundert den Fortgang von Ovids Erzählung ebenfalls in einer
Marmorskulptur umgesetzt: Apoll krönt sich selbst. Nachdem sich die von Apoll verfolgte Daphne in einen
Lorbeerbaum verwandelt, um ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, setzt sich
der nackte Gott einen Kranz aus Lorbeerblättern auf den Kopf. „Jetzo sagte der Gott: Da du mein als Gattin nicht sein kannst,/sei als Baum du die Meinige! Immer umwind‘
uns/Du das Haar, und die Leier, und du den Köcher, o Lorbeer!“ (Ovid; 1,557-559). Canovas 1781/82 entstandene Statue ist klassizistisch beruhigt und wieder deutlich an den Apoll vom Belvedere
angelehnt. Die Figur präsentiert sich bis auf die Sandalen nackt und mit breiter, muskulöser Brust in schönstem Kontrapost; Leier und
Chlamys hängen über einem Baumstamm, auf den sich Apoll mit seiner Rechten stützt.
Literaturhinweise
Barolsky, Paul: Ovid, Bernini, and the Art of Petrification. In: Arion 13 (2005), S. 149-161;
Bolland, Andrea: Desiderio and Diletto: Vision, Touch, and the Poetics of Bernini’s Apollo and Daphne. In: The Art Bulletin 82 (2000), S. 309-330;
Karsten, Arne: Bernini. Der Schöpfer des barocken
Rom. Verlag C.H. Beck, München 2006;
Kenseth, Joy: Bernini’s Borghese Sculptures: Another View. In: The Art Bulletin 63 (1981), S. 191-210;
Kruse, Christiane: Parer viva oder die Kunst der (dis)simulazione im Barock. Zu Gian Lorenzo Berninis Apoll und Daphne in der Galleria Borghese. In: Gundolf Winter u.a. (Hrsg.), Skulptur – Zwischen Realität und Virtualität. Wilhelm Fink Verlag, München 2006, S. 155-176;
Ovid: Metamorphosen. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1990, S. 27;
Scholten, Frits: Malerische Skulptur. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio
& Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 30-45;
Schulze, Sabine: Zwischen Innovation und Tradition. Berninis Apoll
und Daphne. In: Städel-Jahrbuch 14 (1993), S. 231-250;
Warwick, Genevieve: Speaking Statues: Bernini’s Apollo and Daphne at the Villa Borghese. In: Art History 27 (2004), S. 353-381;
Winner, Matthias: Paragone mit dem Belvederischen Apoll. Kleine
Wirkungsgeschichte der Statue von Antico bis Canova. In: Matthias Winner
u.a. (Hrsg.), Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im
Vatikan. Verlag Philip von Zabern, Mainz 1998, S. 227-252.
(zuletzt bearbeitet am 23. Juli 2024)