Donnerstag, 10. Oktober 2024

Das Messer an der Kehle – Rembrandts „Opferung Isaaks“


Rembrandt van Rijn: Die Opferung Isaaks (1635), St. Petersburg, Eremitage
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Rembrandts großformatiges Gemälde (193 x 133 cm) aus der Eremitage in St. Petersburg zeigt einen der dramatischsten Augenblicke des Alten Testaments: Gott befiehlt dem greisen Abraham, seinen einzigen Sohn Isaak ins Gebirge zu führen, ihn dort zu töten und als Brandopfer darzubringen (1. Mose 22, 1-13). Ein ungeheuerlicher, ein monströser Befehl, eine Prüfung, die kein Vaterherz bestehen kann. Und doch gehorcht Abraham. Drei Tage ist er mit seinem Sohn unterwegs, und sie müssen entsetzlich gewesen sein für den alten Mann. Abraham soll nicht nur das Schrecklichste tun, was einem Vater zuzumuten ist, er erhält auch keinerlei Erklärung von Gott.
Im Land Morija angekommen, errichtet Abraham auf einem der Berge einen Altar. Wir sehen links eine Wegesschlucht, die den Abhang hinunterführt – sie verdeutlicht sowohl, welche Entfernung Vater und Sohn zurückgelegt haben, wie auch den beschwerlichen Aufstieg. Dem tiefen Ausblick, der sich links im Bild auf eine bergige Flusslandschaft eröffnet, steht rechts die weitere Erhebung des Berges gegenüber. Wir sehen Walddickicht, durch das warmes Licht bricht. Unterhalb davon befindet sich ein Opferbecken, aus dem Flammen züngeln. Unmittelbar hinter dem Kopf Abrahams treten die Wurzeln einer knorrigen Eiche hervor, deren breiter Stamm von der oberen Bildkante angeschnitten ist für Nicola Suthor weist dieser Baum sinnbildlich auf die Stammvaterschaft Abrahams voraus (1. Mose 22,16-19).
Abraham schichtet Holz auf den Altar, fesselt den bis auf einen Lendenschurz entkleideten Isaak und legt ihn rücklings auf den Scheiterhaufen, um ihn mit einem orientalischen Krummdolch zu schlachten. Er geht rechts von Isaak in die Knie gegangen, beugt sich über seinen Sohn – und drückt ihm das Gesicht mit seiner Linken nach hinten, um die Kehle des Jungen bloßzulegen, die er im nächsten Moment durchschneiden will. Die Drastik, mit der Abrahams Hand den Kopf Isaaks zurückzwingt, zeigt die Entschlossenheit des Patriarchen, dem göttlichen Willen zu gehorchen und sein einziges Kind zu töten. Die Schutzlosigkeit des auf seinen Gewändern liegenden Knaben wird durch den scharfen Lichtschein, der den entblößten Oberkörper ausleuchtet, und die auf den Rücken gebundenen Hände besonders betont. Aber was könnte das Preisgegebensein Isaaks schmerzhafter veranschaulichen als der Anblick seiner Kehle! Abrahams Hand bedeckt das Gesicht des Sohnes fast vollständig, ja er erstickt ihn fast. Denn der Patriarch möchte seinen Sohn mit diesem Griff auch schützen: Er erspart Isaak so, mit ansehen zu müssen, wie der eigene Vater Hand an ihn legt. Und er verhindert zugleich, dass wir als Betrachter in das angstgepeinigte Antlitz des Kindes blicken können.
„... und reckte seine Hand aus und fasste das Messer,
dass er seinen Sohn schlachtete“ (1. Mose 22,10; LUT)
Doch bevor Abraham das grausame Menschenopfer vollziehen kann, schreitet ein Engel ein. Anders als in der biblischen Erzählung ist es bei Rembrandt nicht nur die Stimme eines Engels, die Abraham Einhalt gebietet, sondern der Engel eilt selbst vom Himmel herab, um dem Greis in den Arm zu fallen. Mit der einen Hand greift er nach dem rechten Handgelenk Abrahams, der sein Messer erschrocken fallen lässt, mit der anderen deutet er nach oben, denn von dort kommt die erlösende Weisung: Isaak soll leben.
Von dem plötzlichen Erscheinen des Engels überrascht, wendet Abraham jäh den Kopf – die in Falten gelegte hohe Stirn des alten Mannes zeigt an, dass ihm noch völlig unverständlich ist, was hier geschieht. Fassungslos, je regelrecht verstört blickt Abraham nach oben, das Gesicht von Wellen des schlohweißen, rauschenden Bartes und des schütteren Haupthaares umkränzt. „Das gesträubte Haar trägt gleichsam die innere Erregung nach außen“ (Suthor 2014, S. 135). Die buschigen, nach oben abstehenden Augenbrauen tragen ebenfalls zum Eindruck erschreckten Erstaunens bei, das sich dem bleichen Antlitz insgesamt eingeschrieben hat.
Es sind vor allem die Hände und Blicke dieser zwei Figuren, die uns diese atemberaubende Geschichte erzählen – zusammen mit dem göttlichen Licht, das der rothaarige Engel mit sich führt und das hoffnungslose Dunkel der Szene erleuchtet. Der heranfliegende Engel wirft einen tiefen Schatten auf die Gestalt Abrahams, aber die Körperteile, die für das Geschehen wichtig sind – sein Gesicht und die Hände – liegen voll im Licht. „Die Pelzverbrämung von Abrahams Obergewand, die auf den ersten Blick wie eine Fortsetzung der Wolke des Engels erscheint, unterstreicht den göttlichen Eingriff ins Geschehen: Abrahams Hand scheint von seinem verschattenen Körper abgetrennt“ (Suthor 2014, S. 133). Durch diese Lichtregie, die von der Helldunkel-Malerei Caravaggios inspiriert ist, gewinnt Rembrandts Bild eine besondere dramatische Wucht. Das Antlitz des Engels ist verschattet, das des Sohnes verdeckt, das Gesicht des Greises hingegen vom Licht getroffen – Abraham wird begreifen, so deutet sich hier an, dass er von seiner Prüfung erlöst ist.
Die drei lebengroßen Figuren agieren auf einer recht schmalen, durch das dichte Unterholz hinterfangenen Bühne im Vordergrund; miteinander füllen sie nahezu die gesamte Bildfläche. Der Eindruck großer Nähe wird durch den weiten Landschaftsausblick zusätzlich gesteigert. Abraham verbindet mit seinen weit ausgreifenden Armen die beiden zentralen Handlungsmomente: das bevorstehende Opfer des Sohnes – der Körper Isaaks führt von links unten diagonal hinauf zum Vater – und die göttliche Intervention durch den von links mit wehendem Ärmel herbeifliegenden Engel.
„Da rief ihn der Engel des Herrn von Himmel und sprach: Abraham! Abraham!“ (1. Mose 22,11; LUT)
Die Opferung Isaaks bleibt eine verstörende Geschichte
. 1. Mose 22 erzählt davon, dass Gott als kaum zu bewältigende Zumutung an den Menschen herantreten kann – dunkel, rätselhaft und verborgen. In der calvinistischen Welt Rembrandts war Abraham jedenfalls ein leuchtendes Vorbild für den unbedingten Gehorsam gegenüber den Ratschlüssen und Anweisungen des Allmächtigen – denn gerade dieser für uns heute kaum mehr nachvollziehbare Gehorsam galt als „Erkennungszeichen des wahren Glaubens“ (Schama 2000, S. 411).
Unbekanner Schüler Rembrandts: Die Opferung Isaaks (1636); München,
Alte Pinakothek (für die Großansicht einfach anklicken)
Es existiert eine Kopie von Rembrandts Gemälde im Maßstab 1:1, die in seinem Atelier entstanden sein muss. Sie befindet sich in der Alten Pinakothek in München und unterscheidet sich in drei Punkten vom Original: Der Engel schwebt nicht mehr von links heran, sondern taucht plötzlich hinter dem Erzvater auf, „sich gleichsam um den mächtigen, den Berggipfel angebenden Baumstamm windend“ (Dekiert 2004, S. 43); der Widder, den Abraham statt seines Sohnes opfern wird, fehlt in der St. Petersburger Fassung – auf dem Münchner Bild wurde er im Mittelgrund links eingefügt; das Feuerbecken rechts von Abrahams Ellbogen ist durch ein Gebüsch ersetzt. Die meisten Kunsthistoriker gehen heute davon aus, dass diese Kopie zu großen Teilen von einem Schüler stammt, dessen Arbeit Rembrandt allerdings verbessert hat.
Pieter Lastman: Abrahams Opfer (1612); Amsterdam, Rijksmuseum
Rembrandt dürfte bei seiner Bildgestaltung von einer Komposition seines früheren Lehrmeisters Pieter Lastman (1583–1633) ausgegangen sein: Dessen Grisaille von 1612 ähnelt in der Szenerie und den vertikal angeordneten Figuren Rembrandts Gemälde sehr. Vor allem die Konfrontation zwischen Abraham und dem Engel ist wohl als Vorbild bedeutsam gewesen – wobei Rembrandt gegenüber Lastman einen körperlichen Kontakt zwischen den beiden Gestalten herstellt. Bei Lastman hält Abraham außerdem noch ein Schwert in der Hand, was einem Übersetzungsfehler der lateinischen Vulgata („portabat in manibus ignem et gladium“, 1. Mose 22,6) und der darauf fußenden Bildtradition geschuldet ist. Rembrandt dagegen stellt, der korrekten Übersetzung Martin Luther entsprechend, ein Messer dar.
Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1602); Rom, San Luigi dei Francesi
Doch Rembrandt hat von Lastman nicht nur einzelne Motive für sein Bild übernommen: Der junge Künstler erhielt über den nach Italien gereisten Lehrer Kenntnis von der römischen Malerei des Frühbarock, insbesondere von der Kunst Caravaggios. Denn die kleine Amsterdamer Tafel Lastmans greift zurück auf das berühmte, um 1602 entstandene Altarblatt der Contarelli-Kapelle in der römischen Kirche San Luigi dei Francesi, in dem ein Engel in vergleichbar kühnem Flug zu dem Evangelisten Matthäus herabfährt (siehe meinen Post Matthäus, der Analphabet“). Die Drastik wiederum, mit der Abraham bei Rembrandt den Kopf seines Sohnes auf den Opferaltar zwingt, ist mit der Rohheit vergleichbar, die Caravaggio in seinem Gemälde von 1597/98 vor Augen stellt: Unter dem Druck der väterlichen Hand, die den Sohn im Nacken packt, schreit Isaak in Todesangst auf (siehe meinen Post ,Nimm deinen einzigen Sohn, den du lieb hast ...‘). Auch das Motiv des zugreifenden Engels ist bei Caravaggio vorgebildet – es gibt allerdings keinerlei Beleg dafür, dass Rembrandt, wie auch immer vermittelt, das Gemälde des Italieners bekannt war.
Caravaggio: Die Opferung Isaaks (1597/98); Florenz, Uffizien
In der kunsthistorischen Forschung wird noch ein weiterer Künstler genannt, der mit seiner Umsetzung des Themas Rembrandts Gemälde maßgeblich beeinflusste: Peter Paul Rubens (1577–1640). Er hatte 1614 eine Opferung Isaaks vollendet, die noch im gleichen Jahr durch einen Nachstich von Andreas Stock verbreitet wurde. Offenbar war Rembrandt vor allem an der Gestalt des unbekleideten Isaak interessiert:
„Dreht man die Rubenssche Komposition um 45 Grad nach rechts und betrachtet den Knaben gleichsam liegend, so ist die Orientierung Rembrandts an dieser Figur evident“ (Dekiert 2004, S. 64/65). Außerdem scheint auch der Bildraum mit dem dichten Gehölz auf der rechten Seite und dem kontrastierenden Fernblick links der Fassung Rembrandts nahezukommen.
Peter Paul Rubens: Die Opferung Isaaks (1613/14);
Kansas City, Nelson-Atkins-Museum
Die Opferung Isaaks gehört zu einer Reihe von ambitionierten Historiengemälden mit lebensgroßen Figuren, die Rembrandt in den mittleren 1630er Jahren geschaffen hat. In Dramatik und Drastik vergleichbar sind zwei Bilder mit ebenfalls alttestamentlichen Themen: das wohl gleichfalls 1635 geschaffene Gastmahl des Belsazar in der Londoner National Gallery und die monumentale Blendung Simsons von 1636 im Frankfurter Städel (siehe meinen Post Mit den Waffen einer Frau“). Dem Motiv des fallenden Opfermessers ähnlich werden im Gastmahl des Belsazar zwei Goldpokale von den panisch erschrockenen Figuren umgestoßen bzw. ausgeschüttet.
Rembrandt van Rijn: Gastmahl des Belsazar (1635);
London, National Gallery (für die Großansicht einfach anklicken)
Ferdinand Bol: Opferung Isaaks (um 1638/40); Radierung
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Ferdinand Bol (1616–1680), ein Schüler Rembrandts, hat das Thema der Opferung Isaaks noch während der Zeit im Atelier seines Lehrers aufgegriffen, und zwar in einer Radierung, die um 1638/40 entstanden sein dürfte. D
er Bezug auf Rembrandts Komposition ist deutlich erkennbar, gerade auf die Münchner Fassung von 1636. Der aus der Raumtiefe hervorschnellende Engel wie auch die geduckte Haltung des erschreckten Erzvaters verweisen klar auf das Vorbild; dies umso mehr, wenn man bedenkt, dass Bol die Szene seitenverkehrt in die Kupferplatte geschnitten hat und diese damit Rembrandts Version mit dem von oben links anfliegenden Enfgel entsprach.

Literaturhinweise
Ausstellungskatalog Rembrandt – Caravaggio. Rijksmuseum Amsterdam und Van Gogh Museum 24. Februar bis 18. Juni 2006, Belser Verlag, Stuttgart 2006, S. 97-103;  
Brown, Christopher u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 181-183; 
Dekiert, Marcus: Rembrandt – Die Opferung Isaaks. Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München 2004;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000;
Schwartz, Gary: Das Rembrandt-Buch. Leben und Werk eines Genies. Verlag C.H. Beck, München 2006, S. 343-346;
Suthor, Nicola: Rembrandts Rauheit. Eine phänomenologische Untersuchung. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014, S. 130-136;
Tümpel, Christian: Rembrandts Ikonographie: Tradition und Erneuerung. In:  Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.), Rembrandt – Genie auf der Suche. DuMont Verlag, Köln 2006, S. 105-127;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 30. November 2024)

1 Kommentar:

  1. Danke, lieber Herr Schnabel! Ihr Blog ist vorzüglich und vorbildlich, das sage ich als Kunstvermittler.

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