Karl Schmidt-Rottluff: Kristus (1918); Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der Holzschnitt Kristus, das Titelblatt der Grafik-Mappe, zeigt streng frontal einen maskenhaften Kopf mit wulstigen Lippen, einer kubisch-kantigen Nase und schwarzen, asymmetrischen Augen. Deutlich lehnt sich Schmidt-Rottluff mit diesen Formen an Skulpturen afrikanischer und ozeanischer Herkunft an. Bart, Haartracht und Strahlenkranz verweisen darauf, dass es sich um das Haupt Christi handelt. Sein Antlitz hat jedoch jegliche Harmonie und Schönheit verloren, Mund, Nase und Augen scheinen bewusst auf Hässlichkeit angelegt – die Erschütterung des Weltkrieges schlägt sich stilistisch nieder.
Christi Stirn ist wie von einer Dornenkrone oder
einem Brandmal mit der Jahreszahl 1918 gezeichnet; am unteren Bildrand ist die
mahnende Inschrift „ist euch nicht Kristus erschienen“ eingeschnitten. Die
Darstellung Christi wird von Schmidt-Rottluff auf die Gegenwart bezogen und zur
Anklage gegen das grausige Kriegsgeschehen gesteigert. Trotz der entstellten,
verstörenden Gesichtszüge leuchtet dieser Christuskopf auf; in der Finsternis
und den Verwüstungen des Krieges ist er Quelle des Lichts und der Erneuerung. Zerstörung
und Chaos führen zu einem Innewerden Christi und seiner Lehre. Sie gilt es, von
allen bürgerlichen Schlacken zu befreien und ihren urchristlichen Kern zu verkünden.
Schmidt-Rottluff stellt der Verzweiflung die Hoffnung auf einen durch den
Glauben gewandelten „neuen Menschen“ entgegen. Sein Holzschnitt soll als
moralischer Appell verstanden werden, zu einer Ethik im Sinne der vollkommenen Menschenliebe
Christi umzukehren.
Dennoch steht in Schmidt-Rottluffs Grafik
nicht der Mensch Jesus im Vordergrund, sondern vielmehr – erkennbar an dem übergroßen
Heiligenschein – der göttliche Christus. Er ist das Gegenbild zur eigenen friedlosen
Zeit. Schmidt-Rottluff fegt mit seinem Kristus die weltentrückt-süßliche,
letztlich völlig harmlosen Christusdarstellungen der Nazarener und ihrer
Nachfolger hinweg – dieser „wilde“ Sohn Gottes ist ein echter Revolutionär. Und
er ist eine unmissverständliche Absage an die etablierten Kirchen, die die
Waffen gesegnet hatten, mit denen der Erste Weltkrieg geführt wurde.
Christusikone aus der orthodoxen Gemeinde des Heiligen Isidor in Berlin |
Neben den Anleihen bei magisch-animistischer
Stammeskunst könnten Schmidt-Rottluff auch Vorbilder aus der altrussischen
Kunst zu seinem Kristus angeregt haben: Stephan von Wiese verweist auf die Nähe
zu Pantokrator-Darstellungen und Erlöser-Ikonen, so z. B. das große Brustbild des
Christus-Pantokrators in der Hagia Sophia von Nowgorod (Ende des 11. Jahrhunderts
entstanden).
Literaturhinweise
Hermand, Jost: Karl Schmidt-Rottluff: ist euch nicht Kristus erschienen (1919). In: Jost Hermand: Politische
Denkbilder. Von Caspar David Friedrich bis Neo Rauch. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien
2011, S. 118-132;
von Wiese, Stephan: Graphik des Expressionismus. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1976;
von Wiese, Stephan: Graphik des Expressionismus. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1976;
von Wiese, Stephan: Expressionistische Verkündigung.
Bemerkungen zu Schmidt Rottluffs religiösen Holzschnitten. In: Gunther
Thiem/Armin Zweite, Karl Schmidt-Rottluff. Retrospektive. Prestel-Verlag, München
1989, S. 42-48.
(zuletzt bearbeitet am 11. September 2018)
(zuletzt bearbeitet am 11. September 2018)