Die Niobiden – alle in einem Saal der Uffizien versammelt |
Im Frühling des Jahres
1583 wurden auf einem Weingut in der Nähe von San Giovanni in Laterano in Rom neben
anderen Skulpturen auch zehn fragmentierte Marmorstatuen aufgefunden. Wie sich
herausstellte, bildeten sie eine gemeinsame Figurengruppe. Der Kardinal
Ferdinando de Medici erwarb die antiken Skulpturen, ließ sie restaurieren und im
Garten der Villa Medici aufstellen. 1769/70 wurden die sogenannten „Niobiden“
nach Florenz überführt und abermals ergänzt; 1781 bezog die Gruppe einen eigens
hergerichteten Saal in den Uffizien.
Thema des Figurenensembles ist ein griechischer
Mythos, den Ovid in seinen Metamorphosen
erzählt (VI, 142-316). Er handelt von menschlichem Hochmut, göttlichem Zorn und
der unfassbaren Grausamkeit, zu der die olympischen Götter fähig waren: Niobe,
Gattin des Königs von Theben, ist stolz auf ihren Kinderreichtum. Mit ihren je
sieben Knaben und Mädchen prahlt sie sogar vor der Göttin Leto und verspottet
sie, nur zwei Kinder geboren zu haben. Leto fühlt sich in ihrer Ehre verletzt
und bittet ihre beiden Kinder, Apoll und Artemis, die Beleidigung zu rächen.
Apoll tötet die sieben Söhne der Niobe. Der Vater Amphion begeht daraufhin
Selbstmord. Als Niobe nicht von ihrem Hochmut lässt, da ihr noch die Töchter
geblieben seien, streckt Artemis auch diese sieben mit ihren Pfeilen nieder.
Die jüngste Tochter flüchtet sich zur Mutter. Verzweifelt fleht Niobe um das
Leben dieses letzten Kindes – vergeblich. Der ungeheure Schmerz lässt Niobe
erstarren und schließlich versteinern. Der Wirbel eines mächtigen Windes
erfasst sie und versetzt sie zurück in ihre alte phrygische Heimat am Berg
Sipylos; aber auch dort hört der
Stein nicht auf, Tränen zu vergießen.
Entsetzen überall, denn keiner entkommt |
Die Florentiner Gruppe zeigt nicht die
strafenden Götter, sondern beschränkt sich allein darauf, das Leid der Kinder
und die Verzweiflung der Mutter darzustellen. Einige Niobiden versuchen noch zu
fliehen, sich entsetzt nach den schwirrenden Geschossen umblickend; andere sind
bereits getroffen und fallen oder liegen tot am Boden. Zu den zehn erhaltenen
Figuren zählt auch ein älterer bärtiger Mann, der ebenfalls dem Morden zusehen
muss; es ist aber nicht der Vater, sondern der Lehrer der Kinder. Insgesamt
musste die Gruppe also mindestens 16 Figuren umfasst haben: 14 nach ihren
Altersstufen differenzierte Kinder, die Mutter sowie den Pädagogen. Mindestens
in einem Fall bilden zwei Figuren eine eng umschlungene Zweiergruppe, nämlich
die Mutter und die jüngste Tochter.
Vergeblich versucht die Mutter, ihr letztes Kind zu schützen |
Das in die Knie gesunkene kleine Mädchen hat
sich in den Schoß ihrer Mutter geworfen, die mit dem angehobenen linken Arm und
ihrem Mantel wenigstens noch diese eine Tochter vor den tödlichen Pfeilen zu
schützen versucht; mit der Rechten drückt sie ihr Kind an sich und blickt
flehend empor. Die üppige Gestalt der Mutter und die Fülle ihres tief
durchfurchten Gewandes bilden einen deutlichen Kontrast zu dem zarten, von
feinen Falten überrieselten Körper des Mädchens. Ihr Untergewand wirkt derart
dünn, dass Rücken und Gesäß fast wie nackt erscheinen; die Mantelfalten
hingegen sind kräftig ausgeführt.
Erst sterben die Söhne, dann die Töchter ... |
Die Niobiden gelten als Inbilder von Leid und Verzweiflung |
Die Niobidengruppe ist nur in Kopien aus
römischer Zeit überliefert. Über insgesamt 30 weitere römische Repliken
belegen, dass die um 330/320 v.Chr. entstandenen griechischen
Originalskulpturen in Rom gut bekannt waren. Über die ursprüngliche Anordnung der Niobiden
gehen die Ansichten auseinander: Wurden die Figuren lose
im Freien aufgestellt? Oder waren sie eng nebeneinandergereiht in einem Giebel
angeordnet? Tatsächlich ist die abgestufte Höhe der Köpfe, von der Figur des
liegenden Toten über die niederfallenden Niobiden bis hin zur größten Figur
(der Niobe), ein Argument für die Anbringung in einem Dreiecksgiebel. Die
felsartige Ausarbeitung der Plinthen wiederum legt eher eine räumlich lockere
Gruppierung nahe, etwa in einem Garten.
Literaturhinweis
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer
Verlag, München 2001, S. 65-66.(zuletzt bearbeitet am 19. November 2018)