Oskar Kokoschka: Bildnis Herwarth Walden (1910); Stuttgart, Staatsgalerie (für die Großansicht einfach anklicken) |
Mit seinen frühen Porträts legte der
österreichische Expressionist Oskar Kokoschka (1886–1980) den Grundstein zu seinem Ruhm. Sie gelten allgemein als sein bedeutendster Beitrag zur
europäischen Moderne. Als Beispiel für Kokoschkas Bildniskunst sei hier sein Porträt
von Herwarth Walden (1910) vorgestellt, das sich heute in der Staatsgalerie
Stuttgart befindet.
Der Kunsthändler, Verleger, Schriftsteller und
Komponist Herwarth Walden (1879–1941), eigentlich Georg Lewin, war einer der
wichtigsten Vorkämpfer der Avantgarde in Deutschland. Von Berlin aus entfaltete
er zahlreiche Aktivitäten, um der Kunst seiner Zeit zum Durchbruch zu
verhelfen: Ab 1910 gab Walden eine „Wochenschrift für Kultur und die Künste“ mit dem Titel Der Sturm heraus, 1912 gründete er die gleichnamige Sturm-Galerie, wob ein dichtes Netz von Bekanntschaften und
organisierte Ausstellungen in ganz Europa, 1914 sogar in Tokio. „Mit dem
»Sturm«-Kreis schuf er auf der Landkarte der europäischen Moderne einen Ort, wo
deutsche Expressionisten, italienische Futuristen, Dadaisten und französische
Kubisten am Vorabend des Ersten Weltkriegs zusammenfanden“ (Natter 2002, S.
138). Es war Herwarth Waldens Verdienst, dass Berlin neben Paris zum Zentrum
der Avantgarde wurde.
Herwarth Walden, 1918 |
Oskar Kokoschka: Herwarth Walden (1910; Feder in Tusche über Bleistiftspuren); Cambridge, Harvard Art Museum |
Von seinen expressionistischen Kollegen in Deutschland
unterscheidet sich Kokoschka vor allem durch den Einsatz der Farbe. Oft ist sie derart
lasierend und dünn aufgetragen, dass sie die Leinwand kaum färbt, stellenweise ist
sie kaum in das Baumwollgeflecht eingesickert und deckt nur dessen oberste
Schicht. Umgekehrt hat Kokoschka pastose Stellen mit dem Tuch und wohl auch mit
dem Finger verwischt, wodurch sich die Pigmente nur mehr in den „Tälern“ der
groben Leinwand festsetzen konnten. Der Malgrund erhält damit einen
wesentlichen Anteil an der Gesamterscheinung des Bildes.
Oskar Kokoschka: Hans Tietze und Erica Tietze-Conrat (1909); New York, The Museum of Modern Art (für die lohnenswerte Großansicht einfach anklicken) |
Kalligrafische, kratzende Eingriffe in die
Farbfläche, etwa mit dem Ende des Pinsels, werden ein weiteres wichtiges
Gestaltungsmittel Kokoschkas. „Im Hinblick auf den deutschen Expressionismus
fällt auf, dass Kokoschkas kalligrafische Reichhaltigkeit mit einem lasierend
koloristischen Reichtum korrespondiert, der den »Brücke«-Malern und Mitgliedern
des »Blauen Reiters« fremd ist. Kokoschka hingegen bündelte schillernde
Fabvaleurs und schwefelige Zwischentöne zu einem irrealen Schauspiel“ (Natter
2002, S. 91).
In dem 1910 entstandenen Profil-Porträt Herwarth
Waldens liegt über weite Bereiche die taubengrau grundierte Leinwand offen.
Erst im Hintergrund setzt Kokoschka farbige Flächen ein. Die agile,
vorwärtsdrängende Persönlichkeit Waldens vermittelt sich dem Betrachter durch
einen skizzenhaft vibrierenden Farbauftrag. „Dem kühlen Akkord der
Blau-Weiß-Schwarz-Töne im Gewand antwortet das Strohgelb der dünnen Haare. Die
leuchtend roten Akzentuierungen um Nase und Mund aber vermitteln Waldens Angriffslust“
(Natter 2002, S. 138).
Von der Weltwirtschaftskrise stark betroffen, musste Waldens Zeitschrift mit dem März-Heft 1932 sein Erscheinen einstellen. Noch im Sommer desselben Jahres emigrierte der engagierte Linke mit seiner vierten Frau in
die Sowjetunion. Hier bestritt er mit Deutschunterricht für Erwachsene am Moskauer Fremdspracheninstitut und mit journalistischer Tätigkeit den Lebensunterhalt seiner kleinen Familie – 1933 wurde die Tochter Sina geboren. Wenige Jahre später ereilte Walden das tragische Schicksal so vieler deutscher Emigranten, die, erfüllt von Idealismus, in die Sowjetunion übergesiedelt waren und dann Opfer der stalinistischen Säuberungswellen wurden. Im Frühjahr 1941, noch vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, verhaftete man Walden unter dem Vorwand der Spionage und deportierte ihn später in ein Lager nach Saratow an der Wolga, wo er noch im selben Jahr, nach offizieller Mitteilung am
31. Oktober, völlig entkräftet an Herzschwäche starb.
Literaturhinweise
Beloubek-Hammer, Anita: DER STURM – Schauplatz der europäischen Avantgarde im zeitgenössischen Umfeld. Zum 100. Jubiläum der von Herwarth Walden gegründetn Berliner Kunstgalerie. In: Jahrbuch der Berliner Museen 54 (2012), S. 103-127;Natter, Tobias G. (Hrsg.): Oskar Kokoschka. Das moderne Bildnis 1909 bis 1914. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002.
(zuletzt bearbeitet am 4. November 2021)
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