Samstag, 22. Oktober 2016

Alles nur getürkt – Parmigianinos „Selbstbildnis im Konvexspiegel“


Parmigianino: Selbstbildnis im Konvexspiegel (1523/24); Wien, Kunsthistorisches Museum
Im Herbst 1524 schenkte der italienische Maler Parmigianino (1503–1540) Papst Clemens VII. eines der ungewöhnlichsten Selbstporträts, die in der Frühen Neuzeit entstanden sind: Der Künstler hatte als Bildträger die hölzerne Nachbildung eines mittelgroßen Konvexspiegels gewählt und auf dessen gewölbte Fläche sein Bildnis als verzerrte Spiegelung gemalt (Durchmesser 24,4 cm). Der heutige breite Rahmen – das Werk ist im Kunsthistorischen Museum Wien ausgestellt – macht allerdings die ursprünglich beabsichtigte Fiktion eines alltäglichen Gebrauchsgegenstandes zunichte. Denn gemeint war einer jener einfachen Rundspiegel, wie sie vor allem in Venedig hergestellt wurden, als der teurere, zumeist viereckige Flachspiegel sich noch nicht durchgesetzt hatte. Die Malfläche erhält bei Parmigianino also den Anschein eines Spiegels, das gemalte Porträt den Anschein einer natürlichen Spiegelung.
Fingiert ist folgende reale Situation: Der auffallend jugendliche, beinahe knabenhafte Künstler zeigt sich sitzend in einem Raum mit Kassettendecke und hochgelegenem Fenster. Offenbar handelt es sich um sein Atelier, denn am rechten Rand des Bildes erscheint eine Staffelei. Der runde glänzende Spiegel davor deutet auf einen halb abgewendeten Rundspiegel seitlich der Staffelei. Die Entstehungssituation des künftigen Selbstbildnisses ist hier simuliert. Doch der Porträtierte blickt nicht in den Spiegel im Bild, sondern aus dem Bild heraus, was bedeutet, dass er sich dem wirklichen Spiegel, also der vorgewölbten Malfläche des Bildes zuzuwenden scheint.
Dabei hält Parmigianino dem Betrachter die lässig abgelegte, bizarr vergrößerte und überlängte rechte Hand entgegen. Obwohl sie am unteren Bildrand platziert ist, zieht sie durch ihre Vergrößerung die Aufmerksamkeit auf sich, noch bevor der Betrachter sich dem Gesicht zuwendet. Das Haupt besetzt zwar den Mittelpunkt des Bildes, befindet sich aber in größerer Distanz zum Spiegel und fällt deshalb im Vergleich zur Hand eher klein aus. Die Hand bildet „eine abschirmende Schranke, hinter der der Kopf um so sicherer an der vom Kragen bis zum Scheitel markierten Achse entlang aufragen kann“ (Warnke 1997, S. 108). Durch das gemeinsame Inkarnat sind Kopf und Hand deutlich aufeinander bezogen: Es ist der Kopf, der die Hand aktiviert; nicht nur die Hand, sondern auch die Erfindungsgabe ist entscheidend, wenn ein bedeutsames Werk entstehen soll. Parmigianino betont auf diese Weise, dass es sich bei der Malerei ganz wesentlich um einen intellektuellen Prozess handelt.
Das Handgelenk des Künstlers wächst regelrecht aus einer feinen Hemdrüsche hervor. Die vier Finger sind entspannt ausgestreckt; den kleinen Finger ziert ein Goldring, der Daumen bleibt hinter dem aufgelegten Handrücken verborgen. „Daß die Hand ruht und keinen Pinsel mehr hält, mit dem doch die Tondo-Tafel gemalt worden ist, zeugt von der Vollendung des Werks“ (Winner 2005, S. 102). Parmigianinos Gesicht ist im Vergleich zur rechten Hand und dem stark fluchtenden Hintergrund nahezu unverzerrt wiedergegeben – hierbei dürfte ein flacher oder anders gewölbter Spiegel zum Einsatz gekommen sein.
Entgegen der Atelierrealität zeigt Parmigianino sich in einem pelzbesetzten Wams, also in vornehmer, hoffähiger Kleidung nach der aktuellen Mode. „Sie erinnert daran, dass in der Frühzeit der Gattung Selbstporträt (...) die Kleidung nicht die soziale Wirklichkeit, sondern den sozialen Anspruch des Malers spiegelt“ (Preimesberger 2005, S. 50). Parmigianino ist, wie Sylvia Ferino-Pagden feststellt, der erste italienische Maler, der sich in seinem Atelier darstellt und damit seine Profession preisgibt: „Bis fast zur Mitte des 16. Jahrhunderts zogen gerade die italienischen Maler es vor, sich als Gentleman darzustellen, ohne Hinweise auf ihre Arbeitsinstrumente, wahrscheinlich um nicht Gefahr zu laufen, wieder unter die ,artes mechanicae‘ gereiht zu werden“ (Ferino-Pagden 2003, S. 50).
Martin Warnke sieht in dem extravaganten, in äußerst reduziertem Farbspektrum ausgeführten Kunstwerk vor allem „ein Bewerbungsstück“ (Warnke 1997, S. 110) des einundzwanzigjährigen Malers, mit dem er seine Originalität unter Beweis stellen und sich im päpstlichen Rom potentiellen Auftraggebern empfehlen wollte. Seit dem 15. Jahrhundert war es übliche Praxis, dass Künstler unaufgefordert Arbeiten an Höfe oder Fürsten sandten, um sich in Erinnerung oder ins Gespräch zu bringen. Für Matthias Winner schließlich zeigt Parmigianinos Selbstbildnis „nichts anderes als das körperhafte Bild einer überdimensionalen Pupille“ (Winner 2005, S. 113), denn die flache Wölbung des hölzernen Malgrunds folge nicht dem steileren Reliefgrund eines Konvexspiegels, sondern ähnele proportional dem abgeflachten Profil des menschlichen Sehlochs.  

Literaturhinweise
Ferino-Pagden, Sylvia: Parmigianinos Selbstporträt: Materie und Reflex. In: Sylvia Ferino-Pagden (Hrsg.), Parmigianino und der europäische Manierismus. Silvana Editoriale, Mailand 2003, S. 43-55;
Haselstein, Ulla: Selbstporträts im Konvexspiegel: Parmigianino und Ashbery. In: Erika Greber/Bettine Menke (Hrsg.), Manier – Manieren – Manierismen. Gunter Narr Verlag, Tübingen 2003, S. 41-62;
Preimesberger, Rudolf: Giorgio Vasari: Ursprungslegende eines Selbstporträts (1550). In: Rudolf Preimesberger u.a. (Hrsg.), Porträt. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren. Diettrich Reimer Verlag, Berlin 1999, S. 262-273;
Preimesberger, Rudolf: Parmigianino, Selbstbildnis im Konvexspiegel, 1523/24. In: Ulrich Pfisterer/Valeska von Rosen, Valeska (Hrsg.): Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Philipp Reclam, Stuttgart 2005, S. 50;
Warnke, Martin: Der Kopf in der Hand. In: Martin Warnke, Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zu Kunst und Kunsttheorie. DuMont Buchverlag, Köln 1997, S. 108-120;
Winner, Matthias: Das ›O‹ von Lorenzo Lotto und Parmigianinos Selbstbildnis im Konvexspiegel. In: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 36 (2005), S. 93-116.

(zuletzt bearbeitet am 28. April 2023)

Donnerstag, 6. Oktober 2016

Bullige Majestät – Hans Holbeins Porträt Heinrichs VIII.


Hans Holbein: Heinrich VIII: (1536/37); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der deutsche Maler Hans Holbein (1498–1638) war 1532 zum zweiten Mal nach England aufgebrochen, wo er sein Ziel, Hofmaler Heinrichs VIII. zu werden, spätestens 1536 erreichte. Als sein wohl wichtigster Auftrag gilt das Wandgemälde des Königs und seines Vaters, Heinrich VII., zusammen mit ihren Ehefrauen, Elisabeth von York und Jane Seymour (1537 entstanden). Ganzfigurig waren die vier Personen in einem kostbar ausgestatteten Renaissance-Architekturambiente zu Seiten eines Steinpodests mit umfangreicher Inschrift wiedergegeben. Das monumentale Gruppenporträt wurde allerdings 1698 durch einen Brand im Whitehall Palace völlig zerstört; es existiert jedoch eine Kopie aus dem 17. Jahrhundert, die eine genaue Vorstellung des verlorenen Originals vermittelt. Ein Entwurf Holbeins, der zur Ausführung des Wandbildes diente und sich erhalten hat, stimmt in Körperhaltung, Kleidung und Physiognomie sehr weitgehend mit einem kleinformatigen Porträt Heinrichs VIII. überein, das sich heute im Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid befindet.
Kopie des 1698 zerstörten Holbein-Wandbildes in Whitehall Palace (1667 angefertigt);
Hampton Court Palace, The Royal Collection
Holbeins Bildnis, das den König als nah an den Vordergrund gerückte Halbfigur zeigt, ist mit großer feinmalerischer Präzision ausgeführt. Oberkörper und Kopf sind leicht nach rechts gewandt, der Blick jedoch richtet sich direkt nach vorne auf den Betrachter. Wir sehen eine gedrungene Gestalt mit breiten Schultern vor uns – ein Eindruck, den der ausladende Schnitt der ärmellosen Schaube mit ihrem breiten Pelzbesatz noch verstärkt. Der Oberkörper wird von den seitlichen Bildrändern angeschnitten, ebenso an der unteren Bildkante der angewinkelte rechte Arm und die ringgeschmückten Hände, „die durch die Körperdrehung aus der Mittelachse nach rechts verschoben sind“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 378). In seiner Rechten hält Heinrich einen einzelnen Handschuh. Holbein „schafft mit der bildparallelen Führung des Armes und der »Reihung« der Hände einen festen Riegel, der die Figur zum Außenraum hin hermetisch abgrenzt“ (Buck 1997, S. 84).
Während der Oberkörper wie ein massiver Sockel wirkt, ragt der Kopf, der auf einem kurzen, feisten Hals sitzt, frei vor dem einfarbig mit leuchtendem Blau bemalten Hintergrund auf. Das juwelenbesetzte schwarze Barett, über dessen Rand sich eine weiße, flaumige Straußenfeder biegt, stößt an die obere Bildgrenze. Der flache Hut wirkt auf dem massigen Kopf mit seiner bulligen Kinnpartie und dem Stiernacken geradezu zierlich, setzt aber mit seiner schwungvollen Schräge „in dem strengen Achsensystem von Horizontalen und Vertikalen einen belebenden Akzent“ (Buck 1997, S. 85). Der König, erkennbar von beträchtlicher leiblicher Fülle, scheint den engen Bildraum des sehr kleinen Formats (28 x 20 cm) fast zu sprengen und demonstriert „körperliche Dominanz“ (Buck 1997, S. 93).
Der glatt gespannte, silberfarbene Stoff des langärmeligen Obergewandes hat trotz der zahlreichen Schlitze, die das gebauschte Hemd sichtbar werden lassen, eine geradezu metallische Anmutung. Das Wams ist in der Taille straff gegürtet und mit goldgefassten Rubinen besetzt; vertikal verlaufende Bordüren zeigen ein in sich verschlungenes florales Ornament. Der goldbestickte, enge Kragen des weißen Hemdes ist faltenlos um den Hals des Königs nach oben geführt und schließt exakt mit dem Haaransatz ab. „So wird der Kopf korsettartig gestützt“ (Buck 1997, S. 86) und die Konzentration des Betrachters ganz auf das Gesicht gelenkt. Heinrich trägt eine prunkvolle modische Renaissancetracht und keinesweg Königsornat. Neben dem Braun des Pelzes und dem dunklen Rot der Rubine weist die aus Gold- und Silberstoffen bestehende Kleidung keine weiteren Farben auf. Um den Hals liegt eine lange, schmale Kette, deren Glieder in regelmäßigen Abständen durch Heinrichs Initiale unterbrochen werden. Zwei der Rubine schließen das an dieser Kette angebrachte Medaillon ein.
Körperliche Dominanz auf engstem Raum
Pose und Ausdruck Heinrichs VIII. haben vermuten lassen, „es könne sich um eines jener Bildnisse gehandelt haben, die als Geschenke an die europäischen Höfe geschickt wurden, als Beweis dynastischer oder vertraglicher Verbundenheit“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 378). Da sich diverse Porträts zeitgenössischer Herrscher im Besitz des englischen Hofes befanden (darunter mehrere Bildnisse des französischen Königs Franz I.), ist anzunehmen, dass es entsprechende Gegenstücke, also Bilder Heinrichs, auch in anderen Fürstenhäusern gab. Die exquisite Ausführung verweist auf den hohen Anspruch und die gehobene Stellung von Auftraggeber und Empfänger. Das gilt ebenso für das kostbare Ultramarin, das Holbein für den Hintergrund verwendet hat. Stephanie Buck vertritt ganz explizit die Ansicht, Holbeins Bildnis sei für Franz I. bestimmt gewesen. In dessen Sammlungen hätte es sich bestens eingefügt, denn das französische Renaissanceporträt tendierte im Allgemeinen zum Kleinformat. Jean Clouet (1480–1541) hatte zudem in seinem Porträt des Königs Franz I. den Typus vorgegeben: knapper Brustausschnitt, klare Konturen, auffällige Flächigkeit und ausschließliche Konzentration auf den bildfüllenden Herrscher.
Jean Clouet: Franz I. (um 1530); Paris, Louvre
Denkbar ist aber auch, dass wir hier eines der Brautbewerbungsbilder des Königs vor uns haben, der zeit seines Lebens immer wieder auf der Suche nach einer neuen Ehefrau war. Auf jeden Fall hat Holbein mit diesem Porträt die Norm festgelegt für alle späteren Darstellungen des Königs und damit dessen öffentliche Erscheinung maßgeblich mitgeprägt.

Literaturhinweise
Bätschmann, Oskar/Griener, Pascal: Hans Holbein. DuMont Buchverlag, Köln 1997, S. 189;
Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei.  Hirmer Verlag, München 2002, S. 132;
Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010;
Buck, Stephanie: Holbein am Hofe Heinrichs VIII. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 82-102.

(zuletzt bearbeitet am 1. Juli 2020)