Jacopo Sansovino: Madonna del Parto (1518-1521), Rom, Sant’Agostino |
Jacopo Sansovinos
Skulptur der Madonna del Parto („Madonna der Geburt“) begegnet dem
Besucher der römischen Kirche Sant‘Agostino gleich rechts hinter dem
Hauptportal. Die Figurengruppe ist in einer eigens vom Künstler geschaffenen
Nische aufgestellt und bewusst so platziert, dass sich Mutter und Kind dem
Betrachter, der die Kirche durch das Hauptportal betritt, zuwenden. Die Madonna
sitzt, leicht aus der Mitte nach links gerückt, im Halbrund der Nische und stützt
mit sicherndem Griff ihrer linken Hand den lebhaft bewegten Sohn unter der
Achsel. Ihre Rechte ruht auf dem Oberschenkel, die Finger zwischen die Seiten
eines Buchs gelegt. Das linke Bein ist leicht vorgestellt, sodass der Fuß unter
dem Gewand hervortritt. Über dem hochgegürteten Kleid trägt Maria einen Mantel,
der ihren Kopf bedeckt, über die Schultern und dann in großen Falten über ihre
Beine zu Boden fällt. Der Halsausschnitt des Kleides wird von einem Pektorale
mit einem geflügelten Engelskopf verziert.
Der nackte
Christusknabe steht mit einem Bein auf der durch den Mantel verdeckten Lehne
des Sessels und setzt das andere Bein in weitem Schritt auf den linken
Oberschenkel seiner Mutter. Mit seinem linken Arm greift er quer über seine
Brust hin zu Marias Schulter. Dort hält er einen flatternden Vogel
schützend in seinen Händen. Der etwas ängstliche Blick des Kindes aus weit
geöffneten Augen ist über dessen Arm direkt auf den Betrachter gerichtet, vor
dem er den Vogel zu verbergen scheint. Maria, die sich in die gleiche Richtung
wendet, blickt dagegen mit leicht gesenktem Haupt versonnen zu Boden.
Der Nischenrahmen
nimmt das antike Triumphbogenmotiv auf; Joachim Poeschke verweist außerdem auf
die Nischen im Pantheon als Vorbild. Zwei Dreiviertelsäulen korinthischer
Ordnung über hohen Sockeln tragen den Architrav und den abschließenden
Dreiecksgiebel. Die Rückwand der Nische ist in ihrem oberen, gewölbten Teil mit
einer Muschel ausgelegt. Zwei Frauengestalten mit Kelch und Kreuzesstab füllen
die Zwickel zwischen Säulen, Nischenbogen und Architrav und lassen sich als
Allegorien der Tugenden fides (Glaube)
und spes (Hoffnung) deuten. Entstanden
ist die Madonna del Parto zwischen
1518 und 1521 während des zweiten Romaufenthaltes von Jacopo Sansovino (1486–1570); errichtet wurde sie über der Grabstätte der Familie Martelli. Die Erben
von Giovanni Francesco Martelli hatten die Skulptur in Auftrag gegeben; daher
ist an den Sockeln unter den Säulen das Wappen der Familie angebracht: ein
steigender Löwe mit Greifenkopf und Flügeln.
Apollo mit Lyra (2. Jh. n.Chr.); Neapel, Museo Archeologico Nazionale |
Ganswürger, röm. Marmorkopie eines hellenistischen Bronzeoriginals; Paris, Louvre |
Für die Madonna wie
für den Christusknaben scheint Sansovino auf antike Vorbilder zurückgegriffen
zu haben: Von einer Apollofigur aus Porphyr, die sich heute im Museo
Archeologico Nazionale in Neapel befindet, übernahm er das aufrechte Sitzen,
die Haltung der Arme, die Stellung der Beine und Füße und die Gürtung des
Gewands unter der Brust. Der Christusknabe wiederum orientiert sich in seiner
Bewegung und im Schrittmotiv an den antiken Ganswürger-Statuen
(siehe meinen Post „Im Schwitzkasten“).
Michelangelo: Moses (1513-1515); Rom, San Pietro in Vincoli |
Raffael: Der Prophet Jesaja (1512); Rom, Sant’Agostino |
In ihrer schrägen
Sitzhaltung wird die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Werken wie
Michelangelos Moses, den Sibyllen und
Propheten der Sixtinischen Decke und Raffaels Jesaja erkennbar. Das gilt auch für die Gewandbehandlung,
insbesondere für die Drapierung des Mantels um die Beine, die in ihrem breiten
Faltenfluss ebenso dem Moses entspricht
wie die „lederartige Konsistenz des Mantelstoffes“ (Poeschke 1992, S. 147/148).
Für den Typus der Madonna mit dem auf ihrem Oberschenkel stehenden Kind
verweist Edgar Lein auf die enge Verwandtschaft zu Benedetto da Maianos Madonna di Misericordia in Florenz.
Benedettos Skulptur befand sich beim Tod des Künstlers 1497 nahezu vollendet in dessen Werkstatt. „Beiden Statuen gemeinsam ist der starke Kontrast zwischen der ruhig sitzenden
Mutter und der vehementen Bewegung im Körper des Kindes“ (Lein 1991, S.
204). Von Benedetto könnten auch
die Art der Gewandung, die Schwere des Stoffes und der Falten übernommen sein,
denn diese Art der Gewandgestaltung ist „typisch für alle Sitzfiguren, die Benedetto
da Maiano seit den 80er Jahren des 15. Jahrhunderts geschaffen hat“ (Lein 1991,
S. 206). Die auf dem Oberschenkel ruhende rechte Hand der Madonna, die mit
gestreckten Fingern ein kleines Buch umfasst, ist andererseits ein unverkennbar
von Michelangelos Brügger Madonna übernommenes Motiv (siehe meinen Post „In Stein gemeißelte Theologie“).
Benedetto da Maiano: Madonna mit Kind; Florenz, Arciconfraternita della Misericordia di Firenze |
Michelangelo: Madonna mit Kind (um 1504/05); Brügge, Liebfrauenkirche |
Der Vogel in der
Hand des Christusknaben ist ein Passionssymbol: Wahrscheinlich handelt es sich
um einen Stieglitz, auch Distelfink genannt. Er ist durch mehrere rote Flecken
am Kopf gekennzeichnet; nach der Legende stammen diese Flecken vom Blut
Christi. Ein Stieglitz soll dem kreuztragenden Sohn Gottes einen Splitter aus
der Augenbraue entfernt haben, wobei die herabfallenden Blutstropfen das
Gefieder des Vogels rot färbten.
So trifft man die Madonna del Parto heute an |
Die heutige
Bezeichnung der Figurengruppe als „Madonna del Parto“ greift die Inschrift
unter dem Dreiecksgiebel auf: „VIRGO TUA GLORIA PARTUS“ („Jungfrau, dein Ruhm
ist die Geburt“); sie ist allerdings erst seit dem 19. Jahrhundert
gebräuchlich. Die Skulptur wurde bald Teil der Volksfrömmigkeit: Seit
Jahrhunderten wird die Madonna als Beschützerin der Gebärenden und ihrer
Neugeborenen angerufen und mit Votivgaben beschenkt. Ihr linker Fuß ist von den zahllosen
Küssen und Berührungen so stark abgerieben, dass er mit einem Silberüberzug
geschützt werden musste. Die Abnutzungsspuren sind jedoch nicht das Ergebnis
einer allgemeinen Ehrerbietung, sondern von freudigen Danksagungen nach dem
Eintreten von „Wundern“. Auch der Christusknabe ist nicht mehr ganz derselbe: Im heutigen Zustand ist er mit einem züchtigen Lendentuch bedeckt.
Andrea Sansovino: Anna Selbdritt (1512); Rom, Sant’Agostino |
Literaturhinweise
Boeßenecker, Helen: Skulpturale Altäre im römischen Seicento. Die Vergegenwärtigung des Sakralen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2020, S. 361-377;
Garrard, Mary D.: Jacopo Sansovino’s Madonna in Sant’Agostino: An Antique Source Rediscovered. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 38 (1975), S. 333-338;
Güthner, Tobias: Florentiner Kaufleute und Bankiers in Rom: Auftraggeberschaft und Repräsentation im 15. und 16. Jahrhundert. Diss. München 2010, S. 148-153;
Lein, Edgar: Jacopo Sansovinos sogenannte „Madonna del Parto“ in Rom und ihre Beziehung zur Florentiner Skulptur der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 35 (1991), S. 193-210;
Poeschke,
Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band II: Michelangelo und
seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 126-127 und 147-148.Lein, Edgar: Jacopo Sansovinos sogenannte „Madonna del Parto“ in Rom und ihre Beziehung zur Florentiner Skulptur der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 35 (1991), S. 193-210;
(zuletzt bearbeitet am 17. März 2022)
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