Michelangelo: Die erythräische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina |
Das Sockelgeschoss der von Michelangelo
ausgemalten Sixtinischen Decke wird beherrscht von zwölf monumentalen
Sitzfiguren: sieben Propheten des Alten Testaments und fünf sogenannten
Sibyllen. Sie besetzen die zwölf Zwickel des Kapellengewölbes. Michelangelo vereint
damit im wichtigsten Sakralraum der damaligen Christenheit die griechisch-römische
mit der biblischen Welt.
Propheten des Alten Testaments waren
von Beginn an ein Thema der christlichen Kunst, denn das Christentum verstand
die Geburt Christi, sein Leiden wie seine Auferstehung als Erfüllung dessen, was
diese Seher vorhergesagt hatten. Die Sibyllen dagegen gehören der heidnischen
Antike an; als Verkünderinnen der Staatsorakel hatten sie große Bedeutung. Die
hohe Achtung, die das Volk den Sibyllen entgegenbrachte, versuchten christliche
Autoren zu nutzen, indem man ihre Weissagungen mit christlichen
Messiaserwartungen verknüpfte. Möglich war dies, weil die Sibyllen Zeugnis
ablegen von nur einem Gott; außerdem
sagen sie die Passion des Gottesssohns und das Jüngste Gericht voraus. Legitimiert
für die christliche Theologie werden die heidnischen Seherinnen vor allem durch
Augustinus: In einem ganzen Kapitel seines Werkes De civitate (18,23) beschäftigt er sich mit der Vision der
erythräischen Sibylle zum Jüngsten Gericht.
Von Michelangelos sieben Propheten nehmen
Zacharias und Jonas die beiden prominentesten Plätze ein, nämlich die an den
Schmalseiten der Kapelle (Zacharias über dem Eingangsportal und Jonas über der
Altarwand). Die übrigen fünf Propheten und fünf Sibyllen wechseln sich an den
Längsseiten im Verhältnis 2:3 bzw. 3:2 ab; auf der Südseite die Delphica,
Jesaja, die Cumäa, Daniel und die Libyca, auf der Nordseite Joel, die Erythräa,
Hesekiel, die Persica und Jeremias.
Michelangelo: Decke der sixtinischen Kapelle (1508-1512); Rom, Sixtina (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Sehergestalten nehmen Plätze in kargen
Sitznischen ein, deren Hauptmerkmal eine glatte, die Figuren überragende
Rückwand und seitlich begrenzende, mit Puttenskulpturen dekorierte Pfeiler
sind. Vorkragende, von Konsolen getragene steinerne Platten schaffen den
Fußraum. Unterhalb dieser Platte, die unterschiedlich tief in den
Gewölbezwickeln ihren Sitz hat, befindet sich eine große gerahmte, an grünen
Bändern aufgehängte Tafel mit dem Namen der jeweils dargestellten Figur; noch
darunter, im untersten Zwickel, stehen „lebendige“ Putten, die sich mit den
grünen Girlanden beschäftigen oder auch die Tafeln stützen. Die Thronnischen
werden bekrönt von einem reich profilierten, über den seitlichen Pfeilern
verkröpften Gesims, das zugleich ein Teil des Rahmens ist, „der den gesamten
flachen Deckenspiegel des Gewölbes als autonomen Bereich für die Darstellung
des Genesis-Zyklus abtrennt und aussondert“ (Herzner 2015, S. 156).
Über
den seitlichen Pfeilern der Thronnischen steigen Gurtbögen auf, die über den
Deckenscheitel hinweg die Verbindung zu den Thronnischen der gegenüberliegenden
Seite herstellen. Diese insgesamt zehn Gurtbögen gliedern den inneren Bereich
der Decke in neun Felder, in denen neun Szenen aus den biblischen
Genesis-Erzählungen dargestellt sind. Die Pfeiler, die die Thronnischen
begrenzen, haben allerdings einen geringeren Abstand voneinander als die Pfeiler
von einer Thronnische zur nächsten. Das hat Folgen für die Abmessungen der neun
Bildfelder im Gewölbespiegel: Über den Thronnischen sind sie deutlich schmaler
als über den Stichkappen. Es resultiert daraus ein Wechsel von vier breiteren
und fünf schmaleren Feldern. Dieser Wechsel wird noch dadurch drastisch
verstärkt, dass die breiteren Felder zur Gänze die Fläche zwischen den
begrenzenden Gesimsen ausfüllen; den schmaleren steht jedoch, da an den beiden
Schmalseiten bronzefarbene Medaillons eingefügt sind, nur eine sehr viel
kleinere Fläche zur Verfügung. Außerdem sind den kleineren Bildfeldern die Ignudi zugeordnet: Diese nackte
Jünglingsfiguren (siehe meinen Post „Michelangelo feiert das schöne Geschlecht“) sitzen auf Sockeln über den Pfeilern der Thronnischen einander
gegenüber und halten sowohl Eichengirlanden als auch Bänder, die zur
Befestigung der erwähnten Medaillons dienen.
Was nun alle Sibyllen Michelangelos
verbindet, ist ihre heilsgeschichtliche Aufgabe: nämlich Künderinnen von
Christi Geburt und Passion unter den Heiden zu sein. „Die unmittelbare Konsequenz
davon ist, daß ihre Namen für die verschiedenen heidnischen Weltteile stehen,
aus denen sie stammen“ (Herzner 2015, S. 178). Die Delphica, die Erythräa, die
Cumäa, die Persica und die Lybica repräsentieren Griechenland, Ionien, Italien,
Asien und Afrika. Die Seherinnen sind dabei in verschiedenen Altersstufen
wiedergegeben. Allen Sibyllen sind zwei Putten, gelegentlich auch weiblichen
Geschlechts, beigegeben, die sich zumeist in ihrem Rücken aufhalten.
Michelangelo: Die delphische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina |
Die delphische Sibylle ist von allen
die jüngste. Sie sitzt schräg nach links auf ihrer Bank, den Blick anscheinend
in die Tiefe der Kapelle gerichtet, doch galt ihre Aufmerksamkeit zuvor dem
mit der linken Hand gehaltenen Rotulus, „als sie plötzlich, mit angstvoll
geweiteten Augen den Kopf in die entgegengesetzte Richtung wendet, offenbar
weil sie von dort einen Anruf empfing, der ihre Beschäftigung mit den
schriftlichen Zeugnissen als nebensächlich erscheinen lässt“ (Herzner 2015, S.
180). Der fast waagrecht vor der Brust ausgestreckte linke Arm wirkt wie eine
Barriere, „die den Kopf in die Tiefe rücken läßt, aus der heraus der Blick der
Seherin umso nachdrücklicher in die Weite geht“ (ebd.).
Zusätzlich geben der ansteigende rechte Arm und der die ganze Figur in ihrem Rücken
einschließende Gewandbogen diesem Blick eine große Energie mit. Der Kopf ist
ganz in Ruhe, das Gesicht dabei frontal wiedergegeben, was der Sibylle eine
große Würde und Autorität verleiht.
Frauen, die ihre Muskeln spielen lassen |
Das Studium in einem Buch ist
merkwürdigerweise auch die Haupttätigkeit der übrigen drei Sibyllen, der Cumäa,
der Persica und der Libyca. Denn das Besondere sibyllinischer Weissagung
bestand ja darin, dass sie nicht aus Büchern erfolgte, sondern auf unmittelbarer
Eingebung beruhte. Dagegen ist bei Michelangelos Sibyllen „Sehen und Hören
nicht dominant, sondern lesendes Forschen“ (Kuhn 1975, S. 49/50). Denn die
Bücher dienen nicht zur Aufzeichnung der Weissagungen, was die Sibyllen ja auch
niemals taten. „Michelangelo kam es anscheinend darauf an, die Sibyllen als
reguläre Vertreterinnen der Buch-Religion zu ,verfälschen‘, aber damit
gleichzeitig auch zu legitimieren. Offensichtlich war der Verzicht auf die den
Sibyllen eigentümliche Raserei der Preis, den sie für ihre Akzeptanz als
klarsichtige christliche Seherinnen zahlen mußten“ (Herzner 2015, S. 184).
Michelangelo: Die cumäische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina |
Die Cumäa ist die einzige der sixtinischen Sibyllen, die annähernd frontal auf der Bank sitzt, sodass ihre gewaltigen Beine in den Raum zu ragen scheinen. Sie blickt in den links von ihr aufliegenden Folianten, den sie mit beiden Händen offenhält. Ihr Kopf ist deswegen ins Profil gewendet, auch die Schulterpartie folgt dieser Bewegung. Quer vor der Figur erstreckt sich ihr nackter muskulöser linker Arm, der zusammen mit den wuchtigen bedeckten Beinen dieser Sibylle ihren geradezu herkulischen Charakter verleiht. Die Züge hohen Alters beschränken sich vor allem auf das Gesicht; sie äußern sich aber auch in der Weitsichtigkeit, wegen der die Sibylle das Buch von ihren Augen entfernt hält. Die Putten schauen der Cumäa beim Lesen zu, sie blicken ebenfalls in das Buch, anscheinend jedoch, ohne irgendetwas verstehen zu können; der vordere hält unter dem rechten Arm ein weiteres großformatiges Buch für künftige Studien der Sibylle bereit.
Michelangelo: Die persische Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina |
Michelangelo: Die libysche Sibylle (1508-1512); Rom, Sixtina |
Literaturhinweise
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015;
Justi, Carl:
Michelangelo. Beiträge zur Erklärung der Werke und des Menschen. Breitkopf
& Härtel, Leipzig 1900;Kuhn, Rudolf: Michelangelo. Die sixtinische Decke. Beiträge über ihre Quellen und zu ihrer Auslegung. De Gruyter, Berlin/New York 1975.
(zuletzt bearbeitet am 18. März 2024)