Rembrandt: Der Evangelist Matthäus (1661); Paris, Louvre (für die Großansicht einfach anklicken) |
Bis in die Frühe Neuzeit galt das
Matthäus-Evangelium als das wichtigste der vier Evangelien: Man ging davon aus,
dass es, wie das Johannes-Evangelium, von einem Apostel geschrieben wurde und
damit eine höhere Authentizität besaß als die beiden von Lukas und Markus, die
gemäß der Überlieferung nur Schüler von Aposteln waren. Da man annahm, das
Matthäus-Evangelium sei im Unterschied zu den drei anderen nicht in griechischer,
sondern in hebräischer Sprache verfasst, hielt man es damals für das älteste
der vier Evangelien – deswegen bekam es seinen Platz am Beginn des Neuen
Testaments. In der bildenden Kunst wird Matthäus meist als Schreibender
dargestellt, an einem Pult, mit Schreibfeder, Buch oder auch mit Buchrolle, und
in der Regel identifizierbar durch sein Evangelistensymbol: einen Engel.
Rembrandts Gemälde von 1661 zeigt einen
bärtigen Matthäus im Moment des inspirierten Schreibens. Er befindet sich vor
einem Pult, dessen Tischkante parallel zur unteren Bildgrenze durch einen
dicken Farbbalken sichtbar wird. Vor ihm liegt ein aufgeschlagenes Buch, das
die hellste Stelle des Gemäldes bildet. „Mit trockener Farbe und festem Strich
hat Rembrandt die beleuchteten Kanten von sechs Buchseiten auf den graubraunen
Malgrund gesetzt“ (Suthor 2014, S. 123). Es dürfte sich um das Manuskript
seines Evangeliums handeln. Der Text besteht einfach aus waagrecht gezogenen,
aus der Farbmasse herausgekratzten Linien.
Ein Engel tritt von hinten an den
Evangelisten heran, legt ihm die Hand sanft auf die Schulter und flüstert ihm
die Worte ins Ohr, die Matthäus niederschreiben soll. Wir sehen außer der
rechten Hand und dem Kopf des Engels nur noch eine angeschnittene Schulter, auf
die das gelockte Haar fällt – Flügel und Nimbus, die ihn als himmlisches Wesen
kennzeichnen würden, fehlen auf den ersten Blick. Der Zwischenraum oberhalb der
beiden Köpfe ist durch Farbtupfer ausgefüllt, die allerdings einen fedrigen
Flügel meinen könnten. Rembrandts Engel aus Fleisch und Blut ist für den Betrachter
eine reale Erscheinung, nicht aber für Matthäus – der seine Gegenwart gar nicht
zu bemerken scheint.
Rembrandt: Paulus im Gefängnis (1627); Stuttgart, Staatsgalerie |
Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1599); 1945 in Berlin verbrannt |
Rembrandts Bildidee ist in Caravaggios
erster Fassung seiner Matthäus-Darstellung vorformuliert (siehe meinen Post
„Matthäus, der Analphabet“). Caravaggios Matthäus macht allerdings den
Eindruck, als würde er in diesem Moment erst schreiben lernen. Ein Engel steht
dicht neben ihm und hat seinen Arm ausgestreckt, um dem Evangelisten die Hand zu führen. Dessen Gesichtsausdruck zeigt nicht nur Einfalt,
sondern ebenso großes Erstaunen. Matthäus wirkt, als würde er „erst mitlesend
realisieren, was seine Hand notiert“ (Suthor 2014, S. 125/126). Ganz
offensichtlich ist er nicht Autor des Textes – sondern quasi nur das
Schreibwerkzeug. Caravaggio inszeniert in seinem Bild also vor allem den Engel
als Medium für das Wort Gottes: Er greift sich – ähnlich wie der Matthäus von Rembrandt
– mit der Linken an den Hals und hat den Mund sprechend geöffnet, als würde er
dem Evangelisten nicht nur die Hand führen, sondern ihm dabei auch die niederzuschreibenden
Worte diktieren.
Rembrandt: Titus, lesend (um 1656/57); Wien, Kunsthistorisches Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Als Modell für Rembrandts Engel
wird in der Regel Titus gesehen, der Sohn des Künstlers. Sein Bildnis in Wien,
das ihn lesend darstellt, zeigt denselben Jungen mit großer Nase und
tiefliegenden Augen in etwas jüngeren Jahren. Titus wurde 1641 geboren und
überlebte als einziges der vier Kinder von Rembrandt und seiner Frau Saskia van
Uylenburgh das Kindesalter. Kurz vor seinem Vater starb er Anfang September
1668 im 27. Lebensjahr an der Pest.
Literaturhinweis
Barasch, Moshe: Die Inspiration des Evangelisten Matthäus in der Kunst der Reformation und der Gegenreformation. In: Moshe Barasch, Das Gottesbild. Studien zur Darstellung des Unsichtbaren. Wilhelm Fink Verlag, München 1998, S. 174-195;
Suthor, Nicola: Rembrandts Rauheit. Eine phänomenologische
Untersuchung. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
(zuletzt bearbeitet am 3. April 2024)
(zuletzt bearbeitet am 3. April 2024)
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