Dienstag, 7. November 2017

Ins Ohr geflüstert – Rembrandt malt den Evangelisten Matthäus


Rembrandt: Der Evangelist Matthäus (1661); Paris, Louvre
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Bis in die Frühe Neuzeit galt das Matthäus-Evangelium als das wichtigste der vier Evangelien: Man ging davon aus, dass es, wie das Johannes-Evangelium, von einem Apostel geschrieben wurde und damit eine höhere Authentizität besaß als die beiden von Lukas und Markus, die gemäß der Überlieferung nur Schüler von Aposteln waren. Da man annahm, das Matthäus-Evangelium sei im Unterschied zu den drei anderen nicht in griechischer, sondern in hebräischer Sprache verfasst, hielt man es damals für das älteste der vier Evangelien – deswegen bekam es seinen Platz am Beginn des Neuen Testaments. In der bildenden Kunst wird Matthäus meist als Schreibender dargestellt, an einem Pult, mit Schreibfeder, Buch oder auch mit Buchrolle, und in der Regel identifizierbar durch sein Evangelistensymbol: einen Engel.
Rembrandts Gemälde von 1661 zeigt einen bärtigen Matthäus im Moment des inspirierten Schreibens. Er befindet sich vor einem Pult, dessen Tischkante parallel zur unteren Bildgrenze durch einen dicken Farbbalken sichtbar wird. Vor ihm liegt ein aufgeschlagenes Buch, das die hellste Stelle des Gemäldes bildet. „Mit trockener Farbe und festem Strich hat Rembrandt die beleuchteten Kanten von sechs Buchseiten auf den graubraunen Malgrund gesetzt“ (Suthor 2014, S. 123). Es dürfte sich um das Manuskript seines Evangeliums handeln. Der Text besteht einfach aus waagrecht gezogenen, aus der Farbmasse herausgekratzten Linien.
Ein Engel tritt von hinten an den Evangelisten heran, legt ihm die Hand sanft auf die Schulter und flüstert ihm die Worte ins Ohr, die Matthäus niederschreiben soll. Wir sehen außer der rechten Hand und dem Kopf des Engels nur noch eine angeschnittene Schulter, auf die das gelockte Haar fällt – Flügel und Nimbus, die ihn als himmlisches Wesen kennzeichnen würden, fehlen auf den ersten Blick. Der Zwischenraum oberhalb der beiden Köpfe ist durch Farbtupfer ausgefüllt, die allerdings einen fedrigen Flügel meinen könnten. Rembrandts Engel aus Fleisch und Blut ist für den Betrachter eine reale Erscheinung, nicht aber für Matthäus – der seine Gegenwart gar nicht zu bemerken scheint.
Rembrandt: Paulus im Gefängnis (1627); Stuttgart, Staatsgalerie
Der Blick des Matthäus ist nicht auf sein Buch gerichtet, sondern scheint ganz nach innen gewendet zu sein, konzentriert horchend. Sein Mund ist wie der des Engels leicht geöffnet; während seine sehnige Rechte den Federkiel gezückt hält, streicht er mit der Linken über seinen Bart (ganz ähnlich wie in seinem Frühwerk Paulus im Gefängnis von 1627) – oder berührt seinen Hals. Der Geste des Matthäus, die sich im Zentrum des Gemäldes befindet, dürfte deswegen besondere Bedeutung zukommen: „Matthäus greift sich an sein eigenes Stimmorgan und öffnet den Mund. Er ist folglich Medium der Stimme, die er aufmerksam zu vernehmen scheint“ (Suthor 2014, S. 124). Zusätzlich zu dieser Gebärde verweisen die dick aufgetragenen Furchen auf der glänzenden Strirn des Evangelisten auf seine intensive Konzentration.
Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1599); 1945 in Berlin verbrannt
Rembrandts Bildidee ist in Caravaggios erster Fassung seiner Matthäus-Darstellung vorformuliert (siehe meinen Post „Matthäus, der Analphabet“). Caravaggios Matthäus macht allerdings den Eindruck, als würde er in diesem Moment erst schreiben lernen. Ein Engel steht dicht neben ihm und hat seinen Arm ausgestreckt, um dem Evangelisten die Hand zu führen. Dessen Gesichtsausdruck zeigt nicht nur Einfalt, sondern ebenso großes Erstaunen. Matthäus wirkt, als würde er „erst mitlesend realisieren, was seine Hand notiert“ (Suthor 2014, S. 125/126). Ganz offensichtlich ist er nicht Autor des Textes – sondern quasi nur das Schreibwerkzeug. Caravaggio inszeniert in seinem Bild also vor allem den Engel als Medium für das Wort Gottes: Er greift sich – ähnlich wie der Matthäus von Rembrandt – mit der Linken an den Hals und hat den Mund sprechend geöffnet, als würde er dem Evangelisten nicht nur die Hand führen, sondern ihm dabei auch die niederzuschreibenden Worte diktieren.
Rembrandt: Titus, lesend (um 1656/57); Wien, Kunsthistorisches Museum
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Als Modell für Rembrandts Engel wird in der Regel Titus gesehen, der Sohn des Künstlers. Sein Bildnis in Wien, das ihn lesend darstellt, zeigt denselben Jungen mit großer Nase und tiefliegenden Augen in etwas jüngeren Jahren. Titus wurde 1641 geboren und überlebte als einziges der vier Kinder von Rembrandt und seiner Frau Saskia van Uylenburgh das Kindesalter. Kurz vor seinem Vater starb er Anfang September 1668 im 27. Lebensjahr an der Pest.

Literaturhinweis
Barasch, Moshe: Die Inspiration des Evangelisten Matthäus in der Kunst der Reformation und der Gegenreformation. In: Moshe Barasch, Das Gottesbild. Studien zur Darstellung des Unsichtbaren. Wilhelm Fink Verlag, München 1998, S. 174-195;
Bikker, Jonathan: Kontemplation. In: Bikker, Jonathan/Weber, Gregor J.M. (Hrsg.), Der späte Rembrandt. Hirmer Verlag, München 2014, S. 215-233;
Suthor, Nicola: Rembrandts Rauheit. Eine phänomenologische Untersuchung. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.

(zuletzt bearbeitet am 17. Dezember 2024)

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