Cappenberger Kruzifix (um 1200), ehem. Stiftskirche des Klosters Cappenberg, Selm |
Bei der ehemaligen Stiftskirche des
Klosters Cappenberg (Kreis Unna in Nordrhein-Westfalen) handelt es sich kunsthistorisch
gesehen um eine romanische Querhausbasilika mit Chorquadrat und gotischer
Apsis. Das Bauwerk ist neben der Stiftskirche in Freckenhorst das einzige
große, in wesentlichen Teilen unverändert erhaltene romanische Kirchengebäude
vor der Mitte des 12. Jahrhunderts in Westfalen. Bedeutsam ist die frühere
Klosterkirche aber vor allem durch das Kruzifix, das hier im
westlichen Vierungsbogen aufgehängt wurde: Der Cappenberger Christus gilt als
eines der herausragendsten Bildwerke der Zeit um 1200.
Der Cappenberger Christus ist vollrund ausgearbeitet und allansichtig angelegt |
Der 126 cm hohe und damit deutlich
unterlebensgroße Corpus hängt fast gerade am Kreuz. Sein Leib wirkt
entspannt und zeigt – abgesehen von der Seitenwunde – keinerlei Leidensspuren. „Wie enthoben aus der physischen Qual der Kreuzigung und aus menschlicher Verletzlichkeit geht von dem Gekreuzigten eine sanfte Ruhe aus“ (Endemann 2000, S. 11). Die
nebeneinander gestellten Beine standen ursprünglich auf einem (heute
verlorenen) Suppedaneum. Dennoch entspricht das Kruzifix nicht dem im 12.
Jahrhundert vorherrschenden Typus des siegreichen Überwinders mit Königskrone
(siehe meinen Post „Rex triumphans“). Denn das durchgehend ausgearbeitete Haar
deutet darauf hin, dass der Cappenberger Christus – zumindest ursprünglich – wahrscheinlich
weder eine permanent angebrachte Königs- noch eine Dornenkrone besaß. Erscheint
die Figur in der Frontalansicht ruhig und ausgewogen, so ergibt sich von der
Seite ein anderes Bild: Mit den Schulterblättern noch auf dem Kreuzstamm
aufliegend, löst sich der Körper vom Holz und schiebt sich nach vorn in den
Raum. Die Knie des Gekreuzigte knicken wieder ein, sodass die Fersen schließlich
abermals den Kreuzbalken berühren.
Ernst und in sich gekehrt, aber ohne Leidensspuren |
Das Haupt Christi ist stark nach vorne
gesunken und, wie bei den meisten mittelalterlichen Kruzifixen, nach rechts
geneigt. Vom Schnitzer anatomisch korrekt wiedergegeben, entstehen durch diese
Neigung am Hals Hautfalten. Die nur halb geöffneten Augen klären nicht, ob der
Tod unmittelbar bevorsteht oder bereits eingetreten ist. Die auffälligen
Augenbrauen sind zusammengezogen, sodass sich in der Mitte der Stirn Falten
bilden, „was dem Gesicht einen strengen und durch den geschlossenen Mund sowie
durch den nach unten gerichteten Blick einen in sich gekehrten Charakter
verleiht“ (Lutz 2015, S. 157). Unter den Augen liegen tiefe Ringe. Das in der
Mitte gescheitelte Haar fällt in breiten, spitz zulaufenden Bahnen in die Stirn
und ist durch feine Rillen gegliedert; an den Seiten ziehen sich die Strähnen
zunächst nach hinten, sodass die Ohren sie halb bedecken, und fallen dann herab
bis auf die Schulter. Kunstvoll schlängelt sich auf jeder Seite eine
Haarsträhne, die sich durch ihren fast kreisrunden Durchmesser besonders abhebt, bis
über die Schulter hinab. Auch der Bart besteht aus einzelnen, zungenförmigen
Bahnen, die sich am Ende spiralig einrollen. Der breite Oberlippenbart ist
abgearbeitet. „Insgesamt ist das Gesicht Christi durch ein Nebeneinander genau
beobachteter Körperdetails und stilisierter Formen gekennzeichnet“ (Lutz 2004,
S. 62).
Das Lendentuch ist mit Auferstehungssymbolen besetzt |
Das originale, gelblich getönte
Inkarnat ist von emailhafter Glätte und trägt wesentlich zum lebensnahen
Aussehen der Figur bei. Die Wangen werden durch eine leichte Rötung betont,
unter der Seitenwunde befinden sich rote Blutbahnen. Die Lippen sind hellrot,
Haupt- und Barthaar sowie Augenbrauen dunkelbraun, Augenlider und Pupille
schwarz eingezeichnet. Das mit Hilfe eines Stoffgürtels befestigte Lendentuch
ist eng um den Körper geschlungen, sodass sich dessen Formen deutlich
abzeichnen. Der kunstvoll gearbeitete Hüftknoten besteht aus zwei zierlichen,
spiralförmig in sich gedrehten Stoffbahnen. Auf der dem Knoten
entgegengesetzten Seite ist das Lendentuch hochgerafft. Von dort haben
sämtliche größeren Faltenbahnen ihren Ausgangspunkt, die sich als am Körper
anliegende Schlaufen diagonal über den linken Oberschenkel bis auf die ebenso
sorgfältig ausgearbeitete Rückseite ziehen. Der Stoff des Tuches ist mit zahlreichen goldenen Ornamenten auf blauem Grund verziert. Neben zahlreichen
Blumen- und Palmettenmustern sind unter anderem Adler und Löwen identifizierbar. Der Adler kann
als Symbol für die Auferstehung wie für die Himmelfahrt Christi verstanden werden,
und auch Löwendarstellungen wurden im Mittelalter auf die Auferstehung bezogen.
In ganz Westfalen gibt es kein anderes
Kreuz, das als direktes Vergleichsbeispiel oder gar Vorbild für den
Cappenberger Christus herangezogen werden könnte. Sein Schnitzer hat eine
vollrund ausgearbeitete, nahezu allansichtige Figur geschaffen – vielleicht um
sie bei Prozessionen mitzuführen. Dafür spricht auch, dass man als Material für
das Kruzifix das besonders leichte Pappelholz gewählt hat. Die Arme des
Cappenberger Christus sind nicht original; sie wurden mehrmals ersetzt, 1977 erhielten
sie schließlich ihre heutige, fast waagrecht ausgestreckte Form. Auch die Füße
wurden 1977 in großen Teilen erneuert, ebenso ist das Kreuz aus alten Fragmenten
und neuen Teilen rekonstruiert worden. Im Rücken des massiven Corpus befinden
sich drei Öffnungen, die wahrscheinlich – wie so oft bei mittelalterlichen
Skulpturen – zur Aufbewahrung von Reliquien dienten.
Literaturhinweise
Anczykowski, Maria: Westfälische Kreuze des 13. Jahrhunderts. Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster 1992, S. 46-56;
Beer, Manuela: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12.
und 13. Jahrhundert. Verlag Schnell & Steiner, Regensburg: Schnell &
Steiner 2005, S.
541-546;
Endemann, Klaus: Spurensicherung. Voraussetzung und notwendige Ergänzung kunstwissenschaftlicher Analysen. Zum Kruzifixus des ehemaligen Prämonstratenser-Klosters in Cappenberg. In: Anna Moraht-Fromm/Gerhard Weilandt (Hrsg.), Unter der Lupe. Neue Forschungen zu Skulptur und Malerei des Hoch- und Spätmittelalters. Jan Thorbecke Verlag, Stuttgart 2000, S. 11-38;
Lutz, Gerhard: Das Bild des Gekreuzigten im Wandel. Die sächsischen und westfälischen
Kruzifixe der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Michael Imhof Verlag,
Petersberg 2004, S. 60-75; Endemann, Klaus: Spurensicherung. Voraussetzung und notwendige Ergänzung kunstwissenschaftlicher Analysen. Zum Kruzifixus des ehemaligen Prämonstratenser-Klosters in Cappenberg. In: Anna Moraht-Fromm/Gerhard Weilandt (Hrsg.), Unter der Lupe. Neue Forschungen zu Skulptur und Malerei des Hoch- und Spätmittelalters. Jan Thorbecke Verlag, Stuttgart 2000, S. 11-38;
Lutz, Gerhard: Das Cappenberger Kruzifix. Form – Funktion – Kontext. In: Kristin Marek/Martin Schulz (Hrsg.), Kanon Kunstgeschichte I. Einführung in Werke, Methoden und Epochen. Mittelalter. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015, S. 152-173.
(zuletzt bearbeitet am 19. September 2021)
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