Gerard David: Die Bestrafung des Sisamnes (1498); Brügge, Groeningemuseum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Gerard David: Die Verhaftung des Sisamnes (1498); Brügge, Groeningemuseum (für die Großansicht einfach ankliclen) |
Über Jahrhunderte ist es Brauch gewesen, Gerichtssäle einerseits mit Darstellungen des Jüngsten Gerichts und andererseits mit Beispielen antiker oder biblischer bzw. christlicher Rechtsprechung zu schmücken. Das Jüngste Gericht sollte daran erinnern, dass der ewige Richer auch über jeden irdischen Richter sein Urteil sprechen wird; die Exempel guter oder schlechter Richter wiederum dienten als Mahnung zu einer gerechten und unparteiischen Urteilsfindung. Als frühestes und zugleich viel bewundertes Beispiel solcher Bilder gelten die zwischen 1435 und 1439 für das Brüsseler Rathaus entstandenen vier Gerechtigkeitstafeln des Rogier van der Weyden (nicht erhalten), die beiden von Dirk Bouts für das Löwener Rathaus 1470/75 geschaffenen Gemälde mit der Gerechtigkeit Kaiser Ottos (heute in den Brüsseler Musées Royaux des Beaux-Arts) und die um 1498 zu datierenden Darstellungen von Gerard David (1460–1523) für das Brügger Rathaus. Die beiden Tafeln von David sollen hier vorgestellt werden.
Die zwei heute im Brügger Groeningemuseum ausgestellten Gemälde zeigen die Festnahme und Bestrafung eines korrupten Richters. Es handelt sich um eine Begebenheit, die, zunächst von dem antiken Geschichtsschreiber Herodot berichtet, weit ausführlicher von dem im späten Mittelalter sehr beliebten Valerius Maximus erzählt wird: Der König Kambyses überführt den Richter Sisamnes der Bestechlichkeit und verurteilt ihn zu der grässlichen Strafe der „Schindung“: Dem Delinquenten soll bei lebendigem Leib die Haut abgezogen werden. Der Herrscher ordnet außerdem an, dass der Richterstuhl mit der Haut des Sisamnes zu bespannen sei und dessen Sohn Otanes, der dem Hingerichteten als Richter nachfolgt, von diesem Richterstuhl aus zu amtieren habe und so immerzu an die furchtbare Strafe erinnert wird, die der Korruption droht.
David stellt die Erzählung in ihren vier wichtigsten Momenten dar, und zwar so, dass jeweils eine Szene im Vordergrund von einer viel kleineren im Hintergrund begleitet wird. In der ersten Tafel sind wir Zeugen bei der Überführung des Schuldigen: Sisamnes wird auf seinem Richterstuhl von Kambyses überrascht, der ihm mit zahlreichem Gefolge unvermittelt gegenübertritt. Links neben dem König ist ein Büttel zu sehen, der eilig heranschreitet, während ein zweiter schon den rechten Arm des Richters packt. Sisamnes findet nur noch Zeit, seine Kopfbedeckung vor dem König abzunehmen; er blickt „wie ein gestelltes Wild, in hilfloser und schuldbewußter Furcht“ (von Simson 1977, S. 352) auf Kambyses, der ihm seine Untaten offenbar an den Fingern seiner Hand aufzählt. Das vorausgegangene Delikt erblicken wir links oben im Hintergrund durch die offenen Arkaden der Gerichtslaube: Unter einem Eingang nimmt der bestechliche Richter einen Geldbeutel in Empfang.
Rembrandt: Anatomie des Dr. Tulp (1632); Den Haag, Mauritshuis |
Dirk Bouts: Martyrium des hl. Erasmus (1458); Leuven, M-Museum |
Auf der ersten Tafel sind rechts und links des Richterstuhls zwei Medaillons zu sehen. Das linke zeigt das Bild des Füllhorns, das der antike Heros Herkules der Deianeira überreicht – es könnte als Hinweis auf den Wohlstand gemeint sein, der sich der Regierung des König Kambyses verdankt. Das rechte Medaillon gibt das tragische Geschick des antiken Sartyrs Marsyas wieder, der wie Sisamnes bei lebendigem Leibe geschunden wurde. Statt Apoll, den Marsyas zu einem künstlerischen Wettkampf herausgefordert hatte, erscheint bei David eine weibliche Figur mit einem Saiteninstrument. Es dürfte sich um die Göttin Pallas Athene handeln: Marsyas fand eine Flöte, die die Göttin weggeworfen hatte, lernte auf ihr zu spielen und war schließlich so von seiner Kunst überzeugt, dass er den musikalischen Wettstreit mit Apoll wagte.
Schindung des Marsyas; Holzschnitt aus Sebastian Brants Narrenschiff (Ausgabe von 1495) |
Literaturhinweise
De Vos, Dirk: Flämische Meister. Jan van Eyck – Rogier van der Weyden – Hans Memling. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002, S. 189-198;
Pächt, Otto: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. Prestel-Verlag, München 1994, S. 245-250;
van der Velden, Hugo: Cambyses for example: the origins and function of an exemplum iustitiae in Netherlandish art of the fifteenth, sixteenth and seventeeth centuries. In: Simiolus 23 (1995); S. 5-39;
van der Velden, Hugo: Cambyses reconsidered: Gerard David’s exemplum iustitiae ifor Bruges town hall. In: Simiolus 23 (1995); S. 40-62;
van Miegroet, Hans J.: Gerard David’s Justice of Cambyses: exemplum iustitiae or political allegory? In: Simiolus 3 (1988), S. 116-133;
von Simson, Otto: Gerard Davids Gerechtigkeitsbild und der spätmittelalterliche Humanismus. In: Friedrich Piel/Jörg Traeger (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Braunfels. Verlag Ernst Wasmuth, Tübingen 1977, S. 349-356.van der Velden, Hugo: Cambyses for example: the origins and function of an exemplum iustitiae in Netherlandish art of the fifteenth, sixteenth and seventeeth centuries. In: Simiolus 23 (1995); S. 5-39;
van der Velden, Hugo: Cambyses reconsidered: Gerard David’s exemplum iustitiae ifor Bruges town hall. In: Simiolus 23 (1995); S. 40-62;
van Miegroet, Hans J.: Gerard David’s Justice of Cambyses: exemplum iustitiae or political allegory? In: Simiolus 3 (1988), S. 116-133;
(zuletzt bearbeitet am 25. Mai 2021)