Samstag, 20. Oktober 2018

Wie auf einen Bogen gespannt – der romanische Kruzifix-Torso aus der Kölner Kirche St. Georg

Kruzifix aus St. Georg, Köln (um 1070); Köln, Museum Schnütgen
Zu den schönsten Ausstellungsstücken des an mittelalterlichen Kunstschätzen wahrlich nicht armen Kölner Schnütgen-Museums gehört der um 1070 entstandene Kruzifix aus der Kölner Kirche St. Georg. Der monumentale Torso aus Weidenholz ist 190 cm groß; er wurde 1921 in der Krypta von St. Georg aufgefunden und seit 1929 im Museum Schnütgen aufbewahrt. Für seine Entstehung gilt die Weihe der Stiftskirche St. Georg durch Erzbischof Anno II. (1056–1075) im Jahr 1067 als Anhalt. Außer dem Kreuz fehlen der Figur die Arme bis auf den Rest des linken Oberarms, die Füße und die Verschlussbretter der rückseitigen Höhlungen. Eine ehemals verschließbare Öffnung am Hinterkopf diente vermutlich zur Aufbewahrung von Reliquien. Der Korpus ist vollrund ausgearbeitet, hinten jedoch schnitzerisch nicht gestaltet.
Der Körper des nach links ausschwingende Gekreuzigten wirkt wie auf einen großen Bogen gespannt. „Kopf und Knöchel bilden die äußersten Punkte einer Rechtsneigung, die von der linken Hüfte ihren Ausgang nimmt“ (Bergmann 1989, S. 128). Der Rücken Christi ist durchgedrückt, sodass sich der Leib vorwölbt. Beeindruckend ist vor allem das weit nach vorn und unten gesunkene Haupt mit seinem strengen, kantig geschnitzten Gesicht, das vom gescheitelten und in seitlichen Strähnen herabfallenden Haar umrahmt wird. Die Augen sind gebrochen, aber nicht geschlossen; die kräftig gebogene, nach unten trichterförmig sich verbreiternde Nase ist von scharfen Linien begleitet: Sie ziehen sich von den Nasenflügeln und den inneren Augenwinkeln zu den Mundwinkeln herab und betonen „die Längung des schmalen Antlitzes und seinen Ausdruck verhaltenen Grames“ (Bergmann 1989, S. 128). Auf den Wangen sind zudem je zwei tränensackartige Falten herausgearbeitet.
Die verlorenen Arme muss man sich, wie der Stumpf des linken und die Ansatzstelle des rechten zeigen, nach schräg oben gerichtet vorstellen, wie etwa am 100 Jahre älteren Gerokruzifix (siehe meinen Post „Vom Christus victor zum Christus patiens“). Die weiche Form des Oberkörpers bildet einen auffälligen Kontrast zu dem von der Hüfte bis oberhalb der Knie reichenden Schurz. Gehalten durch ein reifförmiges Zingulum mit ursprünglich zwei hochstehenden Knotenschlaufen, bildet sein Stoff „hölzern“ wirkende Parallelfalten. „Die hohen Stege und tiefen Ausbuchtungen der Faltenstränge verleihen dem Lendentuch den Charakter eines Baumstammes mit Borke“ (Wesenberg 1972, S. 67). Der Gegensatz von weich modelliertem Oberkörper und starrer Tektonik des Lendentuchs „kennzeichnet viele salische Kruzifixe und offenbart sich vor allem in der Seitenansicht in einem starken Anschwellen des Leibes“ (Wittekind 2009, S. 348) – so z. B. auch bei dem um 1000 entstandenen Udenheimer Kruzifix in der Gotthardkapelle des Mainzer Doms (siehe meinen Post Mit offenen Augen am Kreuz“). 
Die Körperproportionen und das weit vorgeneigte Haupt weisen darauf hin, dass der Georgskruzifixus auf Untersicht angelegt ist. Seine Dimensionen machen es sehr wahrscheinlich, dass er ursprünglich als Triumphkreuz verwendet wurde und daher in erhöhter Position aufgestellt war.
Dass die Gestalt des Gekreuzigten heute sehr expressiv auf den Betrachter wirkt, beruht vor allem auf seinem Zustand als Torso und der eher grob geschnitzten Oberfläche. Mit der Farbfassung, von der sich Reste an Kopf und Brust finden, war der ursprüngliche Ausdruck des Kruzifix sicherlich ein anderer. Heute bestimmt ein gleichmäßig grau-brauner Farbüberzug das Aussehen der Figur.
Der Evangelist Johannes aus dem Evangeliar von St. Gereon (um 1050-1967);
Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek
Werdener Bronzekruzifix (um 1060); Essen-Werden, Schatzkammer St. Ludgerus
Kunstwissenschaftler haben bei der Figurenauffassung des Schnütgen-Torso immer wieder auf die Nähe zur Buchmalerei der Annozeit hingewiesen, so z. B. auf den Kopf des Evangelisten Johannes aus dem Kölner Evangeliar von St. Gereon. Einen ähnlichen Kopftypus weist auch das etwas frühere Werdener Bronzekruzifix auf, das um 1060 entstanden sein dürfte.

Literaturhinweise
Beer, Manuela/Woelk, Moritz (Hrsg.): Museum Schnütgen. Handbuch zur Sammlung. Hirmer Verlag, München 2019, S. 54-56;
Bergmann, Ulrike: Schnütgen-Museum. Die Holzskulpturen des Mittelalters (1000-1400). Köln 1989, S. 126-132;
Bering, Kunibert: Kunst-Epochen. Band 3: Romanik. Philipp Reclam jun. Srtuttgart 2004, S. 214-217;
Geese, Uwe: Mittelalterliche Skulptur in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2007, S. 40-41;
Legner, Anton (Hrsg.): Monumenta Annonis. Köln und Siegburg. Weltbild und Kunst im hohen Mittelalter. Schnütgen-Museum Köln, Köln 1975, S. 133-146;

Wesenberg, Rudolf: Frühe mittelalterliche Bildwerke. Die Schulen rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung. Verlag L. Schwann, Düsseldorf 1972;

Wittekind, Susanne (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Band 2: Romanik. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, S. 348.

(zuletzt bearbeitet am 20. Oktober 2022)