Dienstag, 14. Juni 2022

Wuchtige Charakterköpfe – Lucas Cranach d.Ä. malt die hll. Franziskus und Valentin

Lucas Cranach d.Ä.: Stigmatisation des Hl. Franziskus
(1502/03); Wien, Belvedere (für die Großansicht anklicken)
Der Theologe und Franziskaner Bonaventura (1221–1274) berichtet in seiner Franziskus-Biografie, der Heilige Geist habe den Ordensgründer (1181–1226) einst auf den Berg Alverna in der Toskana geführt, wo ihm ein Engel mit sechs Flügeln erschienen sei. Der Seraph habe ein Abbild des gekreuzigten Christus mit sich getragen, und während Franziskus über die Bedeutung der himmlischen Erscheinung meditierte, zeigten sich an seinen Händen und Füßen sowie an der Seite die Wundmale Christi.

Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) hat dieses zentrale Ereignis im Leben des Franziskus um 1502/03 auf einer schmalen, hochformatigen Tafel wiedergegeben. Es ist in seiner Wiener Zeit entstanden (1502–1505) und zählt zu seinem expressiven Frühwerk. Giotto und Pietro Lorenzetti hatten das Geschehen auf ihren berühmten Wandbildern (Assisi, San Francesco; Ende des 13. Jhs.) in einer gebirgigen Einöde angesiedelt – Cranach verlegt es dagegen in ein begrüntes Tal. Auch Albrecht Dürer wählt für einen themengleichen Holzschnitt, der um 1503 entstanden sein dürfte, ein von Bäumen und Strauchwerk bewachsenes Gelände als Szenerie.

Albrecht Dürer: Stigmatisation des hl. Franziskus (um 1503/04); Holzschnitt
Der treue Gefährte des Franziskus, Bruder Leo, ist schlafend am rechten Bildrand in riesenhafter Gestalt wiedergegeben. Hinter dem Ordensbruder eröffnet sich ein stimmungsvoller Ausblick auf eine kleine Burg, deren Umrisse sich auf der Oberfläche des umliegenden Gewässers spiegeln. Dahinter zeichnet sich eine Gebirgssilhouette ab, die in ihren zarten Blautönen mit der Himmelszone zu verschwimmen scheint. In der linken Bildhälfte wird der Mittelgrund von einem dichten Mischwald abgeschlossen.

Im Vordergrund kniet Franziskus, sein linkes Bein weit nach vorn schiebend. Erschrocken reißt er die Hände in die Höhe und richtet den Blick starr auf die Himmelserscheinung. Die Hände rahmen auf diese Weise den zurückgeworfenen, wuchtigen Kopf; in den Handflächen sind die Stigmata bereits sichtbar. Hinterfangen werden Kopf und Hände von der flächigen, metallen-goldene Scheibe des Nimbus. Breite Bleiweißstreifen betonen das verkürzte Gesicht sowie die Hände und Füße des Heiligen. Eine stoffreiche Kutte, die sich an der rechten Brustseite öffnet und das Aufspringen der Seitenwunde erkennen lässt, spiegelt das saftige Grün der Vegetation. Ihre üppigen, wulstigen Falten umkreisen die Arme und Schultern des Heiligen. Eine Eiche, die sich links wie ein Bogen vom unteren bis zum oberen Bildrand dehnt, klemmt Franziskus regelrecht in den Vordergrund des Bildes ein; ihre dynamische Form spielt die Dramatik des dargestellten Augenblicks. Ein so im Vordergrund positionierter Baum erscheint erstmals in Cranachs Ölberg-Holzschnitt von 1502.

Lucas Cranach d.Ä.: Christus am Ölberg (1502); Holzschnitt
Eng verwandt mit der Franziskus-Darstellung ist eine zweite Tafel Cranachs, die wohl zeitgleich geschaffen wurde. Sie zeigt den hl. Valentin von Rätien (gest. um 475) in Bischofstracht, der einen Stifter präsentiert. Im Rücken des auf der Mittelachse platzierten Heiligen ragt der Oberkörper eines am Boden liegenden Epileptiker hervor, der als Attribut des hl. Valentin fungiert. Da ihm die Heilung eines Epileptikers zugeschrieben wird, gilt er als Schutzpatron gegen die Fallsucht und verwandte Erkrankungen.

Die Figurengruppe ist von einer urwüchsigen, der Franziskus-Tafel vergleichbaren Landschaft hinterfangen, die jedoch im Unterschied zu dieser eine geringere Tiefenräumlichkeit entfaltet. Valentins Pontifikaltracht ist außerordentlich prunkvoll: Neben dem roten, goldgesäumten Pluviale mit goldener Schließe sind vor allem Mitra und Krummstab sehr kunstvoll und kostbar gearbeitet. Die Vorderseite der mit Perlen bestickten Bischofsmütze ziert die plastische Darstellung der Maria mit Kind im Typus einer Mondsichelmadonna. „Die Krümme des goldenen Stabs ist von expressivem, nahezu organischem Charakter, der die wild wachsende Natur des landschaftlichen Hintergrunds widerspiegelt“ (Messling/Richter 2022, S. 94).

Lucas Cranach d.Ä.: Der hl. Valentin präsentiert einen Stifter
(1502/03); Wien, Akademie der bildenden Künste

Mit ähnlicher Ausdruckskraft und Tendenz zur Verhässlichung sind das grobknochige, teigige Gesicht des Heiligen und die schmerzverzerrte Mimik des Epileptikers gestaltet. Die Ruhe des betenden Stifters bildet dazu einen starken Kontrast. Der hl. Valentin hat dem bartlosen Mann mit dem braunen Lockenkopf die Hand auf die Schulter gelegt und blickt wohlwollend auf ihn herab. Seine repräsentative Kleidung – eine dunkelbraune Schaube mit schwarzem Pelzkragen – lässt einen wirtschaftlich erfolgreichen Bürger in gehobener gesellschaftlicher Stellung vermuten. Der Stifter wendet sich einem Bildgegenstand zu, der sich rechts von ihm und offenbar recht weit oben befindet – womöglich dem Kruzifix einer Kreuzigungsszene.

Dass beide Tafeln zusammengehören, legen nicht nur die sehr ähnlichen Maße und ihre eng verwandte Komposition nahe. Übereinstimmend ist auch die Machart der Heiligenscheine, die sich ansonsten in Cranachs Werk nicht findet: Die Nimben sind mit poliertem Blattgold belegt und durch konzentrische Kreise unterteilt, die äquidistant mit dem Zirkel gezogen wurden. Die Einstichstelle ist in der Röntgenaufnahme des Franziskus gut zu erkennen. Unklar ist bislang, welchen Platz die beiden Tafeln ursprünglich in einem Altar-Ensemble eingenommen haben. Die Figurenanordnung legt nahe, dass beide Bilder einst auf der linken Seite angebracht waren: „Der Hl. Valentin bildete dabei wohl die Innenseite des linken Flügels, sodass der betende Stifter bei geöffnetem Altar auf die ursprüngliche Mittelzone ausgerichtet war“ (Messling/Richter 2022, S. 95).

Cranachs Stigmatisation des hl. Franziskus ähnelt dem bereits erwähnten Dürer-Holzschnitt nicht nur durch das Naturambiente, verwandt sind auch – seitenverkehrt und detailgetreu – die groß gesehenen Figuren und das Kreuz. Vor allem die Körperhaltung des Heiligen mit dem aufgestellten rechten Bein scheint von Dürer zu stammen. Cranach versetzt seinen Franziskus allerdings mit den höher erhobenen Armen in eine größere Körperspannung und verleiht dem Charakterkopf noch individuellere Züge.

 

Literaturhinweise

Brinkmann, Bodo (Hrsg.): Cranach der Ältere. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2007, S. 122;

Messling, Guido/Richter, Kerstin (Hrsg.): Cranach. Die Anfänge in Wien. Hirmer Verlag. München 2022, S. 94-95;

Stadlober, Margit: Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 175-177.

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