Albrecht Dürer: Rhinocerus (1515); Holzschnitt |
dürers rhinozeros
kam nie bis zu dürer, wurde nicht von dürer
getätschelt, nicht verwöhnt mit kopfsalaten –
der meister sah es nie: ein märtyrer
der kunst gleichwohl: geschenk von einem sultan
der kolonie für seine majestät
in portugal, von bengal oder assam
an bord der nossa senhora in einem spinnweb
von käfig, neben ihm sein wärter ocem,
der mürrisch seine kichererbsen mampft.
ein dämon oder urvieh: noch eben in noahs
arche, nun hier; wie es schnaubt und stampft
zwischen den säcken mit kardamom, anis
und kümmel, mit kurkuma oder zimt,
die erstaunlichste beschlagene kiste
von all den kisten und fässern, ein band aus samt
am hals, ein goldring rund ums horn, das blitze
wie magisch anzieht (so die leichtmatrosen,
die seine nähe meiden). afrika,
im sternbild der azoren dann nach dreizehn
wochen auf formloser see vor anker im viereck
von hafenbecken, plätzen und managen
(durch ganz europa fliegen, flattern skizzen),
schließlich erneut aufs schiff, unterm jubel der menschen
weiterverschenkt ans oberhaupt der christen,
ein gegenbild sämtlicher engel
mit seiner farb wie ein gesprenckelt schildtkrot;
vom sultan an könig an papst, vom dschungel
zum meer, vom meer zum sturm zum tod;
und so verschwindet es im tobenden quarz
der wellen, wie zum hohn genau vor la spezia
(la spezia, ital.: das gewürz),
mit kardamom und allem. schäbiger als putz-
lumpen ist es die haut des tage später
vom strand geklaubten leichnams, die zurück
nach lissabon kehrt. dann? mit hanf vernäht,
gestopft wie eine puppe; abermals nach rom geschickt;
von einem untersekretär vermerkt, dorthin gepackt,
wo alles vergessen lagert,
nur mehr ein leidlich amüsanter strohsack.
und welche ungerechtigkeit darin liegt,
daß es nach wie vor verschollen ist, irgendwo
auf dem vatikanischen subkontinent, verstaubt
ein indien tief in den archiven ruht,
während dürers wesen immer noch stampft und schnaubt.
Jan Wagner
(aus: Jan Wagner: Steine & Erden. Gedichte. Hanser Berlin, Berlin 2023, S. 78/79)