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Matthias Grünewald: Kreuzigung Christi (um 1523/25); Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken)
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Von Matthias Grünewald (1480–1528) sind fünf
Gemälde der „Kreuzigung Christi“ überliefert: eine mittelgroße Tafel im Basler
Kunstmuseum; eine etwas kleinere Komposition in Washington; die Kreuzigung, die
auf den großen Klapptafeln der ersten Schauseite des Isenheimer Altars in
Colmar dargestellt ist; die Vorderseite einer 1883 gespaltenen Tafel aus
Tauberbischofsheim (heute in Karlsruhe), sowie die 2005 in die Sammlung Würth
nach Schwäbisch Hall gelangte Kopie nach dem verschollenen Fragment eines
Altarbildes, dessen ursprünglicher Standort unbekannt ist. Die vier originalen
Gemälde geben die „Kreuzigung Christi“ mit sehr reduziertem Personal wieder und
konzentrieren ihre Aussage auf Christus am Kreuz und auf zwei bis vier seiner
um ihn trauernden und klagenden Anhänger. Näher betrachtet werden soll hier die
Die Kreuzigung Christi aus Karlsruhe, deren Rückseite, eine Kreuztragung
Christi, ich bereits vorgestellt habe (siehe meinen Post „Er lud auf sich unsre Schmerzen“). Die zwei Gemälde bildeten einst das beidseitig bemalte
Hauptbild eines sonst zerstörten Retabels, das wohl einmal am Eingang zum Chor
der Tauberbischofsheimer Stadtpfarrkirche stand.
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Matthias Grünewald: Kreuzigung Christi (um 1505/10); Basel, Kunstmuseum
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Christus am Kreuz, das
die ganze Breite und Höhe der Tafel einnimmt, wird flankiert von Maria und
Johannes: Auf diese drei, vor dunklem Hintergrund aufscheinenden Protagonisten
beschränkt sich Grünewald bei seiner Tauberbischofsheimer Kreuzigung. Damit
wählte er einen der ältesten Bildtypen dieses Themas, der auch als „Kanonbild“
bezeichnet wird, weil die dreifigurige symmetrische Kreuzigungsgruppe in der
mittelalterlichen Buchmalerei und im frühen Buchdruck als Schmuckbild des
Messbuchs am Beginn des Kanons erscheint, also am stets gleichbleibenden
Gebetsteils der Messe.
Maria und Johannes
verharren nah unter den ausgestreckten Armen des Gekreuzigten. Die trauernde,
in ihr Leid ergebene Mutter Jesu steht wie erstarrt zur Rechten ihres Sohnes.
Sie hat den mit einem Tuch verhüllten Kopf gesenkt, die weinenden Augen niedergeschlagen
und die gefalteten Hände vor die Brust genommen. Dagegen ringt der von Schmerz
übermannte Johannes die Hände, reckt die Arme vor, wirft den Kopf in den Nacken
und strebt, den Blick auf seinen Herrn geheftet, in stürmischer Bewegung auf
das Kreuz zu. Der verzweifelte Jünger hat den Mund geöffnet und scheint um
Worte zu ringen.
Christus ist mit drei großen Nägeln an das rohe Kreuz geschlagen. Sein
entstellter, verwesender Körper hängt schwer an den überdehnten Armen; die
Hände spreizen sich, und das Querholz des Kreuzes verbiegt sich unter der Last
des Toten. Der Leichnam Jesu hat sich im Herabsacken nach rechts verschoben,
und die verquollenen, auf einem klobigen Holzblock (Suppedaneum) aufsetzenden
Füße haben sich um den Nagel gedreht und weisen auf Johannes. Bei dieser
Torsion und Dehnung ist der Oberkörper etwas nach vorne gekippt, nach links
eingeknickt und das Haupt auf die Brust gesunken, sich Maria zuneigend. Unter
der tief in die Stirn gepressten, mächtig ausladenden Dornenkrone ist das
verschattete, schmerzverzerrte Gesicht mit dem offenen Mund zu erkennen. Aus
dem Lanzenstich in der Seite und den Nagelwunden quillt Blut. Ein
zerschlissenes Tuch ist um Christi Hüften geknotet und hängt in Lumpen um seine
Beine.
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Matthias Grünewald: Kreuzigung Christi (um 1511/20); Washington D.C., National Gallery of Art
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In die vorderste
Bildzone und in scheinbar greifbare Nähe zum Betrachter rückt der Maler die
drei Figuren. In farblichem Kontrast zum nachtschwarzen Hintergrund wird der zu
Tode gemarterte Christus in seiner tiefsten Erniedrigung präsentiert, rechts
von ihm die mit ihm leidende und seelisch sterbende Maria als Verkörperung der
christlichen „compassio“ und Teilhaberin am göttlichen Erlösungswerk, links von
ihm der Jünger Johannes, einer der wichtigsten Zeugen des Sterbens Jesu. In
seinem Evangelium findet sich das dritte der „Sieben Worte Jesu am Kreuz“: „Als
nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht
er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem
Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger
zu sich“ (Johannes 19,26-27; LUT).
Grünewald geht es bei
seinem Bild darum, den für die Menschen leidenden und ihre Sünden für alle Zeit
sühnenden Christus zu zeigen. Wirkungsabsicht ist es, den Gläubigen „in
unmittelbare, diesseitige Nähe des Erlösers zu führen, ihn im Innersten zu
erschüttern, sein Mitleiden zu wecken, ihn letztlich auf den Pfad der
Christus-Nachfolge zu führen und seinem Leben eine heilsversprechende Richtung
zu weisen“ (Lüdke 2007, S. 212). Wie bei seinen anderen Passionsbildern auch arbeitet Grünewald bei der Tauberbischofsheimer
Kreuzigung Christi mit den Mitteln der Übersteigerung. So betont er die
leidvollen Gesichtszüge Jesu, vervielfacht seine Wunden, deformiert und
überzeichnet die Körperformen, verhässlicht den Gottessohn, bekrönt ihn mit
einem monströsen Dornenkranz und macht die Last des am Kreuz hängenden
Leichnams sichtbar. Außerdem vergrößert er die Figur Jesu im Vergleich zu Maria
und Johannes in bedeutungssteigernder Absicht, wie es auch im Isenheimer Altar
der Fall ist – ein oft genutztes Stilmittel spätmittelalterlicher Malerei.
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Matthias Grünewald: Isenheimer Altar/Kreuzigung Christi (1512-1516); Colmar, Musée d'Unterlinden
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Crucifixus dolorosus (um 1300); Köln, St. Maria im Kapitol
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Grünewald greift bei
seiner Darstellung auf den Typus der aus dem erzählerischen Kontext der
Evangelien herausgelösten crucifixi dolorosi zurück, das heißt, auf im
14. und frühen 15. Jahrhunderts entstandene, farbig gefasste Bildwerke des
Gekreuzigten, bei deren Anblick sich der Gläubige in das Leiden Christi versenken
soll (siehe meine Post „Um unsrer Sünden willen zerschlagen“). Eindrucksvolle
Beispiele für diesen Bildtypus finden sich in St. Maria im Kapitol in Köln, in
Andernach, Friesach oder Warschau. Die drastische Darstellung des geschundenen
Körpers Jesu und seines von tödlicher Erschöpfung entstellten Gesichts verweist
auf das bekannte alttestamentliche Prophetenwort aus Jesaja 2-4: „Er hatte
keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns
gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen
und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg;
darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und
lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von
Gott geschlagen und gemartert wäre“ (LUT). Von der göttlichen Natur Christi ist
bei Grünewald nichts, rein gar nichts zu erkennen. Damit übertrifft er deutlich
viele vergleichbare Werke der spätmittelalterlichen Malerei und Plastik an
Eindringlichkeit.
Die berühmte
Beschreibung der Kreuzigung Christi, die der französische Schriftsteller
Joris-Karl Huysmans (1848–1907) in seinem Roman Là-Bas („Tief unten“)
1891 veröffentlichte und die in deutscher Übersetzung erstmals 1895 in der
Kunstzeitschrift Pan erschien, markiert übrigens den Beginn der
Entdeckung Grünewalds durch die Künstler und Kunsttheoretiker der Moderne in Deutschland.
Das deutlich zunehmende Interesse deutscher Künstler an Grünewald lässt sich
ablesen an Berichten von Fahrten zu dessen Werken und an Kommentaren in Tagebüchern
und Briefen: 1904 war Max Beckmann in Colmar (wo sich der Isenheimer Altar
noch beute befindet), 1906 sah sich Paul Klee in Karlsruhe die Kreuzigung
Christi an und beschrieb Grünewald
als „ganz Wilden“ und „psychisch begabten Kerl“; August Macke „wallfahrtete“
1909 auf seiner Hochzeitsreise zum Isenheimer Altar (Heinemann 2003, S.
10). Huysmans bedeutsamer, ebenso pathetischer wie poetischer Text sei hier noch in voller Länge angefügt:
„Und schaudernd
erbebte er in seinem Sessel und schloß so fest die Augen, daß es fast schmerzte.
In außergewöhnlicher Schärfe sah er dieses Bild jetzt, wo er es heraufbeschwor,
wieder vor sich, dort, ganz nah, und den Ausruf der Bewunderung, welchen er
getan hatte, als er den kleinen Saal des Kasseler Museums betrat – innerlich
schrie er den nun abermals, da in seinem Zimmer sich furchterregend der
Christus an seinem Kreuz erhob, durch dessen Längsbalken statt des Querholzes
ein schlecht entrindeter Ast getrieben war, der sich gleich einem Bogen unter
der Last des Körpers krümmte.
Dieser Ast schien
jeden Augenblick wieder hochschnellen zu wollen, um es mitleidsvoll aus jener
Heimstätte von Schmach und Verbrechen weit fortzuschleudern, dieses arme
Fleisch, doch der riesige Nagel, welcher die Füße durchbohrte, hielt es fest,
streckte es bodenwärts.
Aus der Schulter
gerenkt, ja fast herausgerissen, wirkten die Arme des Christus angesichts der gewundenen
Muskelriemen wie in ganzer Länge von einer Schraubspindel verwrungen. Die lahmgezerrte
Achselhöhle krachte, die weit geöffneten Hände schwangen angstwilde Finger – und
doch sagten diese auch dank es war eine wirre Geste zwischen Gebet und Anklage,
die Brust erzitterte und glänzte, von Schweißbachen eingefettet, der Oberkörper
trug, da das geblähte Rippengehäuse sich verräterisch abzeichnete, faßbandige Querstreifen,
die Fleischpartien schwollen auf, salpetrig und blau angelaufen, grün
durchfleckt von Flohbissen, übersät mit vielen nadelstichartigen Wunden dort
waren Rutenspitzen eingedrungen, unter der Haut abgebrochen und spickten diese
stellenweise jetzt noch mit Splittern.
Die Stunde der
eitrigen Sekrete war gekommen, aus der flutenden Seitenwunde rann es dichter,
überschwemmte die Hüfte mit einem Blut, das dunklem Brombeermost glich,
schmutzig-rosarieselnde Serumwasser, dünne Molken, Säfte, blaßroten Moselweinen
ähnelnd, entsickerten der Brust, netzten den Bauch, darunter wand sich, beulig
geschlungen, ein großes Stück Leinen, etwas tiefer dann stießen sich die
zusammengezwungenen Knie gegenseitig ihre Scheiben wund, und die verdrehten
Unterschenkel wölbten sich, nach außen gekrümmt, bis hin zu den Füßen, die,
aufeinandergesteckt, immer noch länger wurden, die mitten in der Verwesung noch
wuchsen, von Blutströmen zum Ergrünen gebracht. Gräßlich waren sie anzuschauen,
diese schwammigen, klumpig verdickten Füße, das Fleisch trieb Sprossen,
wucherte über den Nagelkopf, und die gekrümmten Zehen widersprachen der
flehenden Geste der Hände, schleuderten Verwünschungen, zerkrallten beinahe mit
ihren bläulichen Hornplatten das Ockergelb des Bodens – eines ebenso
eisengesättigten Bodens wie die purpurrote Erde Thüringens.
Über diesem
aufberstenden Leib erschien, gewaltig und voll heftiger Unruhe, das Haupt.
Umflochten mit einer nachlässig gefertigten Dornenkrone, hing es kraftlos
herab, öffnete kaum spaltbreit ein brechendes Auge, in dem immer noch ein Blick
schauderte vor Schmerz und Furcht, das Antlitz war zerklüftet, die Stirn
eingeebnet, die Wangen waren vertrocknet, alle Gesichtszüge weinten,
fassungslos, der entsiegelte Mund jedoch lachte mit seiner von scheußlichen
Starrkrämpfen geschüttelten und verzogenen Kinnlade.
Fürchterlich war die
Marterung gewesen, der Todeskampf hatte die Heiterkeit der nun geflohenen
Peiniger fortgeschreckt.
Jetzt schien es, als
ob unter dem nachtblauen Himmel das Kreuz sich vornüber neigte, sehr tief, fast
bis auf den Boden, und bei dem Kreuz wachten zwei Gestalten, eine zur Linken,
eine zur Rechten des Heilands stehend – die erste, die Heilige Jungfrau, trägt
einen Schleier, blaß-rot wie wäßriges Blut, der dichtgewellt über einen
langfaltigen, schwach azurfarben schimmernden Rock fällt, die Heilige Jungfrau
reglos und bleich, das Gesicht tränenverquollen, schluchzt sie starren Auges,
gräbt sich die Nagel der einen in die Finger der anderen Hand, – die zweite
Gestalt ist der heilige Johannes: eine Art Vagabund oder grober schwäbischer
Bauernkerl, sonnenverbrannt, ums Kinn einen sich in lauter dünnen Hobelspänen
kräuselnden Bart, bekleidet mit steifen, breitflächigen Stoffen, die aus
Baumrinde geschnitten sein könnten, einem scharlachfarbenen Rock, einem
sämischgelben Mantel, dessen Futter, bei den Ärmeln nach außen gewendet, das
Fiebergrün unreifer Zitronen anzunehmen begann. Entkräftet vom vielen Weinen,
aber widerstandsfähiger als die gebrochene und abgewiesene, sich jedoch immerhin noch aufrecht haltende Maria, schwingt
Johannes die gefalteten Hände empor, reckt sich hoch zu jenem Leichnam, den er
aus geröteten und trüben Augen betrachtet, und stößt, fast erstickend im
Aufruhr seiner tonlosen Kehle, stumme Schreie aus.
Ach, vor diesem
blutbeschmierten, tränenverschwommenen Kalvarienberg war man wahrhaftig weit
entfernt von jenen übermilden Golgathas, die sich die Kirche seit der
Renaissance zu eigen macht! Dieser Christus in Starrkrämpfen war nicht der
Christus der Reichen, der galiläische Adonis, der kerngesunde Schönling mit
rotblonden Locken, mit ordentlich zweigeteiltem Bart, mit faden,
ritterpferdähnlichen Zügen, nicht der hübsche junge Bursche, den die Gläubigen
seit vierhundert Jahren anbeten. Dieser dort, das war der Christus des heiligen
Justinus, des heiligen Basilius, des heiligen Cyrillus, des Tertullian, der
Christus der ersten Jahrhunderte der Kirche, ein Christus, gemein und häßlich,
weil er die volle Summe der Sünden auf sich nahm und aus Demut sich in die
verächtlichste der Gestalten kleidete.
Es war Dieser der
Christus der Armen, Derjenige, welcher sich gerade den Elendsten unter denen,
die zu erlösen er kam, angeglichen hatte, den Mißgebildeten und den Bettlern,
all jenen, deren Häßlichkeit oder Bedürftigkeit die Menschen in ihrer
Gemeinheit stetig zusetzen; auch war dies der menschlichste der Heilande, ein
Christus in der ganzen Jämmerlichkeit und Schwachheit seines Fleisches,
verlassen vom Vater, der erst eingegriffen hatte, als kein neuer Schmerz mehr
möglich war; der Christus, dem nur noch seine Mutter zur Seite stand, nach der er
wohl, wie alle Gemarterten, mit kindlichen Schreien gerufen haben wird, nur
noch seine Mutter, nunmehr ohnmächtig zu helfen und von keinerlei Nutzen.
Zweifellos durch
Aufbieten letzter Demut hatte er es ertragen, daß seine Passion keineswegs die
der Reichweite der Sinne gezogenen Grenzen überstieg; und unbegreiflichen
Weisungen folgend hatte er sich drein gefügt, daß seine Göttlichkeit gleichsam
unterbrochen wurde für die Zeit der Peinigungen – von den Backenstreichen und
Rutenschlägen, Beschimpfungen und Bespeiungen, von all diesen kleinen
Plünderakten des Leidens bis hin zu den grauenvollen Schmerzen einer endlosen
Agonie. So hatte er es leichter bewältigen können, dieses Leiden, Röcheln,
dieses Verrecken, schmutzig, schändlich wie das eines Strauchdiebs, wie das
eines Hundes: indem er in jener Erniedrigung bis zum Äußersten ging, bis hin
zur Schande der Verwesung, bis hin zum schlimmsten Schimpf des Eiters!
Wahrlich, noch niemals
war der Naturalismus zu solchen Sujets durchgebrochen; noch niemals hatte je
ein Maler derart das göttliche Beinhaus zu Paste gerührt und so brutal seinen Pinsel
in die Paletten der Körpersäfte und in die blutigen Farbnäpfe der Wundlöcher
getaucht. Es war ohne Maß, und es war entsetzlich. Grünewald war der
besessenste der Realisten; doch betrachtete man ihn länger, diesen Erlöser aus
der Gosse, diesen Gott aus der Leichenhalle, so änderte sich das Bild. Aus dem
verschwärten Haupt drangen helle Schimmer: ein Ausdruck des Übermenschlichen
erleuchtete die auf gequollenen Fleischpartien, die verkrampften Züge. Dieser
gespreitete Kadaver war der eines Gottes, und ohne Aureole, ohne Nimbus,
ausstaffiert lediglich mit jener zerzausten, von rotkörnigen Blutsprenkeln
besäten Dornenkrone, erschien Jesus in seiner ganzen himmlischen Überwesenheit
zwischen der niedergeschmetterten, tränentrunkenen Jungfrau Maria und dem
heiligen Johannes, dessen leergebrannte Augen keine Träne mehr zu schmelzen vermochten.
Diese Gesichter, die
anfangs so gewöhnlich gewirkt hatten – nun erstrahlten sie, verklärt durcheine
unerhörte, alle Maße sprengende Seelengröße. Es gab da keinen Straßenräuber
mehr, keine arme Frau, keinen Bauernlümmel, sondern es standen überirdische
Wesen zu Seiten eines Gottes.
Grünewald war der
besessenste der Idealisten. Noch niemals hatte je ein Maler so großartig die
Höhe gepriesen und so entschlossen den Aufsprung vom Gipfel der Seele in ein
wildbewegtes Himmelsrund gewagt. Bis zu beiden Extremen war er gegangen und
hatte aus triumphalem Unrat die feinsten Minzwässer der Liebesempfindungen, die
beißendsten Essenzen der Tränen herausgefiltert. In diesem Gemälde offenbarte
sich das Meisterwerk jener Kunst, die unausweichlich dazu bestimmt war, das
Unsichtbare und das Greifbare wiederzugeben, die tränenverwaschene Schäbigkeit
des Körpers kundzutun, der endlosen Seelenbedrängnis Erhabenheit zu verleihen.“
Literaturhinweise
Aurnhammer, Achim: Joris-Karl Huymans‘ Supranaturalismus im
Zeichen Grünewalds und seine deutsche Rezeption. In: Wilhelm Kühlmann (Hrsg.):
Moderne und Antimoderne der „Renouveau catholique“ und die deutsche Literatur.
Beiträge des Heidelberger Colloquiums vom 12 bis 16. September 2006. Rombach
Verlag, Freiburg 2006, S. 17-42;
Heinemann, Katharina: Entdeckung und Vereinnahmung. Zur
Grünewald-Rezeption in Deutschland bis 1945. In: Brigitte Schad und Thomas
Ratzka (Hrsg.), Grünewald in der Moderne. Die Rezeption Grünewalds im 20.
Jahrhundert. Wienand Verlag, Köln 2003, S. 8-17;
Huysmans, Joris-Karl: Tief unten. Übersetzt und herausgegeben
von Ulrich Bossier. Philipp Reclam jun., Stuttgart 1994, S. 11-16;
Lüdke, Dietmar: Die „Kreuzigung“ des Tauberbischofsheimer
Altars im Kontext der Bildtradition. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
(Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007,
S. 209-214;
Pressl, Claus:
Grünewald und die Nation. Ein Beitrag zur Rezeption des Künstlers in
Deutschland. In: Johanna Aufreiter u.a. (Hrsg.), KunstKritikGeschichte.
Festschrift für Johann Konrad Eberlein. Dietrich Reimer Verlag, Berlin
2013, S. 313-331;
Reuter, Astrid: Zur expressiven Bildsprache Grünewalds
am Beispiel des Gekreuzigten. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald
und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 78-86;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung,
revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.