Girorgio de Chirico. Piazza d’Italia (1956); Köln, Museum Ludwig
Von dem italienischen Maler Giorgio de Chirico (1888–1978) gibt es zwei Gemälde mit dem gleichlautenden Titel Piazza d’Italia, ein Querformat im Kölner Museum Ludwig und ein Hochformat in der Galleria d’Arte Moderne von Genua. Sie sind 1952 und 1956 entstanden und zählen zu einer Gruppe von über fünfzig Werken, deren Motiv de Chirico während seiner gesamten künstlerischen Laufbahn immer wieder aufgriff und in Variationen bearbeitete. Die frühesten „Piazze d’Italia“ wurden zwischen 1911 und 1915 in Paris gemalt, sie sind sozusagen die Urbilder für alle später geschaffenen Platzansichten des Künstlers.
Raffael: Vermählung Mariae (1504); Mailand, Pinacoteca di Brera
Die beiden Gemälde aus Köln und Genua zeigen einen weiten, von Architekturen gesäumten Platz, der im Hintergrund den Blick auf einen massiv aufragenden Turm freigibt. Der einem Tempietto ähnelnde Rundbau des Turms erinnert an die gemalte wie gebaute Idealarchitektur der italienischen Hochrenaissance. So könnte ein Vorbild der polygonale Tempel im Hintergrund von Raffaels Vermählung Mariae (1504) gewesen sein – ein Bild, das de Chirico sehr schätzte und für das „das vollkommenste und tiefsinnigste Bild der ganzen Malerei überhaupt“ hielt (de Chirico 2011, S. 230). Wie auf der Platzanalage Raffaels finden sich bei de Chirico im Mittelgrund Staffagefiguren: Dort stehen zwei Männer beieinander und beleben den ansonsten menschenleeren Platz. Das Zentrum der „Piazza“ wird flankiert von kastenartigen Gebäuden, die sich mit Portiken öffnen. Dort erkennt man eine Statue der in Schlaf gesunkenen Göttin Ariadne, die auf einem niedrigen Sockel ruht. Die Arkadenarchitektur ist einfach gehalten und unterstreicht den Eindruck von Stille und Verlassenheit.
Die Inspiration zu dieser
Bildidee der menschenleeren Plätze mit Arkaden, Monumenten und Türmen erhielt
de Chirico durch das Erlebnis italienischer Platzanlagen – vor allem in
Florenz, Ferrara und Turin. Seine erste Vision dieser Plätze beschreibt er
ausführlich: „An einem klaren Herbstnachmittag saß ich auf einer Bank auf der
Piazza Santa Croce in Florenz. Ich sah diesen Platz gewiss nicht zum ersten
Mal. Ich hatte gerade eine langwierige, schmerzhafte Darmerkrankung hinter mir
und befand mich in einem Zustand fast morbider Sensibilität. Es kam mir vor, als
wäre die ganze Natur, selbst der Marmor der Bauten und Brunnen, im Zustand der
Wiedergenesung. In der Mitte des Platzes steht eine Statue, die Dante darstellt
(…) Die laue und liebelose Herbstsonne beschien die Statue und die Fassade des
Tempels. Da hatte ich den seltsamen Eindruck, als sähe ich das alles zum ersten
Mal. Da kam mir die Komposition meines Gemäldes in den Sinn; und jedes Mal,
wenn ich das Bild ansehe, sehe ich diesen Augenblick wieder: Doch der
Augenblick ist ein Rätsel für mich, denn er ist unerklärlich“ (de Chirico 2011,
S. 91).
Giorgio de Chirico: Piazza d’Italia (1952); Genua, Galleria d’Arte Moderna
Giorgio de Chirico: Piazza d’Italia (1921); Mannheim, Kunsthalle
Der Aspekt einer überraschend auftretenden Entfremdung von der gewohnten Welt ist ein wesentliches Inspirationselement de Chiricos. Das neue, unvoreingenommene Sehen des Alltäglichen empfindet er, wie er schreibt, als Ausdruck des Rätsels, als Geheimnis: „Man muss das Rätsel der Dinge lösen, die allgemein als unbedeutend angesehen werden. Alles, was auf der Welt existiert, muss wie ein Rätsel gemalt werden“ (Pfleger 1992, S. 279). Aus dieser Haltung entstehen die beklemmenden Szenerien der großen, einsamen Plätze, die überwiegend in die melancholisch anmutenden Farben Grün, Ocker und Grau getaucht sind. Ein merkwürdig fahles Licht schlägt lange, dunkle Schatten. Die Perspektive, die mehrere Fluchtpunkte in einem Bild vereint, irritiert und entwickelt durch die stark verkürzten Fluchtlinien einen bedrohlichen Sog. In den „Piazza“-Darstellungen aus Köln und Mannheim wird die den Regeln der Zentralperspektive widersprechende, inkohärente Projektion des Raumes mit der Einfügung eines Quaders im Vordergrund nochmals gesteigert. „Die Dinge entfalten somit ein Eigenleben und werden zu Trägern des Rätsels“ (Pfleger 1992, S. 279).
Bis auf wenige Ausnahmen zeigen fast alle Bilder der „Piazza“-Serie eine Statue der schlafenden Göttin Ariadne. Ariadne, eine Tochter des Königs Minos, verletzte das von dem Mischwesen Minotaurus gehütete Geheimnis des Labyrinths, indem sie Theseus ein Garnknäuel gab, das diesem half, aus dem Labyrinth wieder herauszufinden. Sie flüchtete mit Theseus, wurde aber auf Naxos von ihm zurückgelassen. Dort fand Dionysos die in Melancholie verfallene Ariadne und wählte sie zu seiner Gemahlin. In der Philosophie Nietzsches verbindet sich der Ariadne-Mythos mit dem Geist der Wissenschaft und Erkenntnis, mit dem Rätsel und der Melancholie. Die Begegnung mit den Gedanken Nietzsches war für de Chirico von zentraler Bedeutung und gab nach seinen eigenen Worten den Anstoß zu der Darstellungsreihe der „Italienischen Plätze“, die er in einen magischen Raum der Melancholie und der Entfremdung verwandelt.
Giorgio de Chirico: Piazza d’Italia (1913); Buenos Aires, Museo Nacional de Bellas Artes
Die Plätze werden meist im Hintergrund von einer Mauer abgeschlossen. Jenseits der Mauer erkennt man in der Kölner Version ein Segel, als grenzte die Szene ans Meer. In der Mannheimer Darstellung dagegen fährt entlang der Mauer ein Zug, die Lokomotive stößt den Rauch fast senkrecht in den Himmel. Die Motive Segelboot und Lokomotive kehren in vielen frühen Bildern de Chiricos wieder und symbolisieren Ankunft und Abschied; sie stehen ganz allgemein für die Lebensreise, aber auch für die Reise des Künstlers ins Neue, Unbekannte. Das Genueser Bild zeigt im Hintergrund anstelle der Transportmittel die Eingangsfront eines Gebäudes, das aufgrund seiner architektonischen Gestalt und der großen Uhr auf der Fassade als Bahnhof gedeutet werden kann und ebenso den Gedanken der Reise einbringt.
Schon sehr früh hatte de Chirico begonnen, seine Kompositionen selbst zu wiederholen, sei es aus eigenem Interesse oder um dem Wunsch eines Auftraggebers zu entsprechen. So waren gerade die Darstellungen aus de Chiricos 1909 einsetzender „metaphysischer Periode“ im Kreis der Surrealisten sehr begehrt. Obwohl de Chirico diese Periode bereits 1919 als abgeschlossen betrachtete, bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, Repliken oder weitere Fassungen von Bildern aus dieser Zeit anzufertigen. Darüber hinaus kehrte de Chirico während seines Schaffens immer wieder zu den Gemälden seiner Frühzeit zurück, sodass man von einer systematischen Wiederaufnahme gleicher Themen in seinem Werk sprechen kann.
In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zeigte de Chirico auf Ausstellungen neben Arbeiten der aktuellen Phase auch Kopien seiner „metaphysischen“ Bilder. Alle Werke wurden mit Absicht ohne Datum präsentiert. Die von de Chirico so selbstverständlich geübte Praxis der mehrfachen Reproduktion seiner Schöpfungen und das Nebeneinander von Bildern verschiedener, gar gegensätzlicher Schaffensphasen stieß beim Publikum häufig auf Unverständnis – ermutigte aber unglücklicherweise zahlreiche Betrüger, Kopien von seinen Werken herzustellen. Der Künstler wurde Opfer von großangelegten und mit System betriebenen Fälschungen und zählt zu den meistgefälschten Malern des 20. Jahrhunderts.
Glossar
Tempietto (italienisch für Tempelchen) bezeichnet kleine Bauwerke in Tempelform, meist als Rundtempel mit Säulen und Kuppel ausgeführt.
Als Portikus (die Portikus, Plural: Portiken) wird in der Architektur ein Säulengang oder eine Säulenhalle mit horizontal aufliegendem Gebälk bezeichnet.
Literaturhinweise
de Chirico, Giorgio: Das Geheimnis der Arkade. Erinnerungen und Reflexionen. Schirmer/Mosel, München 2011;
Pfleger, Susanne: Giorgio de Chirico, Piazza d‘Italia, 1952/1956. In: Dietmar Elger (Hrsg.), Die Metamorphosen der Bilder. Sprengel Museum, Hannover 1992, S. 278-283.
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