Montag, 15. September 2025

Monet malt Paris

Claude Monet: Saint-Germain-lAuxerrois (1867); Berlin, Alte Nationalgalerie (für die Großansicht einfach anklicken)

Claude Monet (1840–1926), der heute bekannteste und wohl auch beliebteste der französischen Impressionisten, hat nicht nur zahllose Ölbilder von Gärten, Blumenwiesen, Parklandschaften, Flussufern und Meeresküsten gemalt, sondern auch rund zwei Dutzend Ansichten von Paris. Die ersten entstanden im Frühsommer 1867, im Jahr der zweiten großen Pariser Weltausstellung. Eine dieser frühen Ansichten der Pariser Innenstadt möchte ich hier vorstellen – sie zeigt von einem erhöhten Standpunkt den Blick auf die spätgotische Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois. Monet hatte hierfür seine Staffelei auf den Louvre-Kolonnaden aufgestellt, also auf der Ostseite des damaligen Herrschersitzes Napoleons III., wofür ihm eine Sondergenehmigung erteilt wurde.

Saint-Germain-lAuxerrois heute ...

Monet hat die Dachkonstruktion der Kirche genau beobachtet, ebenso die Fensterrosette auf der giebelgekrönten Westseite, die beiden Treppentürme, die Strebepfeiler und Fialen. Vom linken Bildrand abgeschnitten, für den Betrachter also nicht sichtbar, sind der unmittelbar anschließende, 1860 eingeweihte neugotische Turm und die ebenfalls neu errichtete Mairie des ersten Arrondissements, die die Fassade des Gotteshauses imitiert. Am rechten Bildrand ist eines jener großen Wohnhäuser abgebildet, die auch die neuen breiten Pariser Boulevards bis heute säumen. Möglicherweise hat der Künstler für seine Komposition auf eine fotografische Vorlage zurückgegriffen: Eine etwa zur gleichen Zeit entstandene Aufnahme, die neben der Kirche auch das neugotische Rathaus zeigt, stimmt nahezu mit dem Blickwinkel von Monets Gemälde überein. Daran ist nichts Ehrenrühriges, denn Monet wollte ja gerade diejenigen Effekte abbilden, die eine Schwarzweiß-Fotografie unmöglich erfassen konnte: die Farben von Himmel, Zinkdächern, Steinen, Straßenpflaster und Laubwerk, das facettenreiche Wechselspiel von weißem Licht und blauen Schatten „sowie die atmosphärische Umhüllung der Motive“ (Shackelford 2021, S. 53).

... und auf einer Fotografie aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
Auf Monets Bild herrscht ausgezeichnetes Wetter: Der Himmel ist wolkenlos, das strahlend helle Sonnenlicht fällt von Süden über die Dächer der angrenzenden Häuser so steil auf den Vorplatz der Kirche, dass die Gebäude, Bäume und Passanten nur kurze Schatten werfen. Das gleißende Licht lässt unter den Bäumen dunkle Zonen entstehen und verleiht selbst den verschatteten Gebäudepartien wie der Kirchenfassade noch eine gewisse Helligkeit. Auf der Straße im Vordergrund spazieren Personen in kleinen Grüppchen, am Fahrbahnrand warten einige Pferdedroschken. Im Schatten des Blätterdachs, das die untere Hälfte der Bildfläche als grün-gelb geflecktes, breites Band dominiert, haben sich größere Menschenansammlungen zusammengefunden. Auf detailgetreue Präzision in der Wiedergabe individueller Gestalten hat Monet ebenso verzichtet wie auf eine sie verbindende Handlung, ja die in stetiger Bewegung befindlichen Figuren unter den blühenden Kastanien sind beinahe nur fleckenhaft wiedergegeben.

Claude Monet: Quai du Louvre (1867); Den Haag, Gemeentemuseum
Claude Monet: Le Jardin de lInfante (1867);
Oberlin/Ohio, Allen Memorial Art Museum
Für zwei weitere Gemälde aus dem gleichen Entstehungszeitraum wechselte Monet seinen Standort – er zog von der Mitte der Ostkolonnaden zu einer weiter südlich gelegenen Stelle. Von dieser veränderten Position aus entstanden zwei exakt gleich große Bilder, die Monet als Quer- und Hochformat ausführte: Quai du Louvre und Le Jardin de l’Infante. In allen drei Gemälden beleben vorbeiströmende Passanten die städtische Szenerie. Sonnenschirm tragende Damen in Krinolinen, Dienst- oder Kindermädchen mit langen weißen Schürzen, Mütter und Väter mit ihren Kindern, Soldaten und Geschäftsleute sind zu Fuß unterwegs, während Omnibusse, Droschken und offene Kutschen über die Straßen dahineilen.

Edouard Manet: Musik im Tuileriengarten (1862); London, National Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken)

Inspiration fürs seine Darstellungen könnte Monet durch seinen Malerkollegen Edouard Manet (1832–1883) gewonnen haben, z. B. aus dessen Bild Musik im Tuileriengarten (1862), das 1867 auf einer Einzelausstellung während der Pariser Weltausstellung zu sehen war. 1869 sandte Monet seine drei Paris-Ansichten zum jährlichen „Salon“ – sie wurden abgewiesen, woraufhin der Maler sie im Schaufenster eines Farbenhändlers in der Rue Lafayette der Öffentlichkeit präsentierte.

Claude Monet: Boulevard des Capucines (1873); Moskau, Puschkin-Museum

Erst 1873 schuf Monet erneut zwei größere Pariser Ansichten – nun aber im deutlich impressionistischen Malduktus. Monet richtete sich in den ehemaligen Räumlichkeiten des berühmten Fotografen Nadar (1820–1910) ein: Von 1860 bis 1872 befand sich dessen Atelier in den beiden obersten Geschossen eines Hauses am Boulevard des Capucines, einer kurz zuvor unter Baron Haussmann modernisierten Prachtstraße. Nachdem er dort ausgezogen war, vermietete Nadar die Räume an andere Nutzer. Das untere der beiden Stockwerke lag etwa so hoch wie die Kolonnaden, in denen Monet im Louvre gearbeitet hatte; in Nadars ehemaligem Atelier stellte der Maler seine Staffelei in der oberen Etage auf und hielt zwei Ansichten mit Blick nach Norden und Osten in Richtung der Place de l’Opera fest. Ebenso wie 1867 verwendete Monet zwei exakt gleich große Leinwände – ein Querformat, das heute im Moskauer Puschkin-Museum hängt, sowie ein Hochformat, das sich in Kansas City befindet.

Claude Monet: Boulevard des Capucines (1873);
Kansas City, Nelson-Atkins-Museum

In diesen eng verwandten Gemälden nahm Monet nicht die Weite des Himmels in den Blick, sondern die Häuserzeile auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Auf dem Querformat sind die Häuser in gelb schimmerndes Licht getaucht, während der Vordergrund im Schatten liegt; auf dem Hochformat ist das Licht hingegen gedämpft, sodass fast nirgends Schatten zu sehen sind und die Formen der Gebäude, Fuhrwerke und Passanten zu erkennen sind. Ebenso wie in Monets Gemälden von 1867 stimmen die Umrisse der Gebäude überein. Der Stil des Künstlers hatte sich seither allerdings so stark verändert, dass solche Einzelheiten auf der Bildfläche buchstäblich verschwimmen.

 

Literaturhinweise

Schuster, Klaus-Peter u.a. (Hrsg.): Manet bis van Gogh. Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne. Prestel-Verlag, München/New York 1996, S. 90-92;

Shackelford, George T.M.: Maler des modernen Lebens. Monets Stadtansichten In: Angelica Daneo u.a. (Hrsg.), Monet. Orte. Prestel Verlag, München 2021, S. 50-59;

Weiß, Susanne: Claude Monet. Ein distanzierter Blick auf Stadt und Land. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1997, S. 31-46.


Sonntag, 14. September 2025

Rembrandt verbessert seinen Lehrmeister – „Bileam und die Eselin“ und „Die Taufe des Kämmerers“

Pieter Lastman: Bileam und die Eselin (1622); Jerusalem, The Israel Museum Collection
Weil die Niederlande im 17. Jahrhundert in Handel, Wissenschaft und Kunst eine außergewöhnliche Blüte erlebten, wird diese Epoche ihrer Geschichte als das „Goldene Zeitalter“ bezeichnet. In diesem Zeitabschnitt entstand eine schier unüberschaubare Zahl von Bildern mit alttestamentlichen Motiven, die – anders als im Mittelalter und in der Renaissance – von den Malern meist auf Vorrat für den Kunstmarkt geschaffen wurden. Als Begründer der holländischen Historienmalerei gelten die sogenannten „Prärembrandtisten“. Ihr wichtigster Vertreter war Pieter Lastman (1583–1633), der viele alttestamentliche Themen zum ersten Mal in der niederländischen Malerei darstellte. 

Besondere Bedeutung hat Lastman aber auch als Lehrmeister Rembrandts (1606–1669) erlangt. Rembrandt verbrachte 1624/25 einige Monate in dessen Amsterdamer Atelier. Da seine eigentliche Lehrzeit zu diesem Zeitpunkt bereits beendet war und er wenig später (1625/26) eine eigene Werkstatt in Leiden eröffnete, „kann man davon ausgehen, dass er, gegen ein Aufgeld an den berühmten Künstler Lastman, nur mehr eine Art Schliff erfahren wollte, auch um seinen zunächst nur schrittweise erfolgten Einsteg in den Markt mit der Historienmalerei chancenreicher zu verfolgen. Diese Gattung war zu jener Zeit noch wesentlich vielversprechender als etwa die Porträtmalerei (Sitt 2006, S. 72). Rembrandt studierte die Werke seines Lehrers eingehend, kopierte deren Kompositionen und Bildinhalte – und entwickelte sie weiter. Wie Rembrandt dabei vorging, soll das Beispiel von Bileam und der Eselin verdeutlichen, einer Geschichte aus 4. Mose 22,21-35.
Der Moabiterkönig Balak lässt den Propheten Bileam zu sich rufen – er soll die Israeliten verfluchen, die durch sein Gebiet ziehen. Auf seinem Weg zum König tritt Bileam ein Engel mit einem Schwert entgegen. Bileams Eselin bleibt daraufhin stehen, der Prophet jedoch, der den Engel nicht sieht, schlägt das Tier, damit es sich weiterbewegt. Lastmans Breitformat-Gemälde von 1622 (40,3 x 60,6 cm) zeigt den Moment, in dem der Engel Bileam zum dritten Mal den Weg versperrt, die Eselin auf die Knie fällt und zu reden beginnt: „Was hab ich dir getan, dass du mich nun dreimal geschlagen hast? (4. Mose 22, 28). 
Der Engel schwebt rechts im Vordergrund auf einer Wolke heran. Durch die Lichtführung wird deutlich unterschieden zwischen Hauptpersonen und Begleitfiguren: Im verschatteten Mittelgrund sind zwei Knechte dargestellt, während im wiederum helleren Hintergrund die Moabiterfürsten erscheinen, die Bileam holen sollten.
Rembrandt: Bileam und die Eselin (1626); Paris, Musée Cognac-Jay
Rembrandts Version der Szene von 1626 (65 x 47 cm) lehnt sich offenkundig an Lastman an – und weist doch entscheidende Veränderungen auf. Rembrandt reduziert das Ambiente und konzentriert die Darstellung ganz auf die Hauptfiguren, indem er die Moabiterfürsten nahe heranrückt. Vor allem aber tauscht er das Quer- gegen das Hochformat. Das gibt Rembrandt die Möglichkeit, den Schwert schwingenden Engel in die Lüfte zu erheben und ihn hinter Bileam anzuordnen. Seine eindrucksvollen Flügel wirken wie die eines Raubvogels. Durch die optische Verbindung von angezogenem Zügel, erhobenem Stock und drohender Gebärde mit dem Schwert gewinnt Rembrandts Bild eine weit größere Dynamik und Dramatik als Lastmans Gemälde. Auch die Eselin wird in dem veränderten Szenario mit mehr Gewicht versehen: Indem Rembrandt den Kopf des Tieres vor dem hellen Engelsgewand platziert,
„erhält der Aufschrei der Eselin ein monumentales Pathos“ (Pächt 2005, S. 33).
Und dann sind da noch Bileams Augen. Anders als Lastman hat Rembrandt die Augen des Propheten nämlich als dunkle Höhlen gemalt – nur nur um dessen rasende Wut auf die störrische Eselin anzuzeigen, sondern um so seine „geistige Blindheit“ auch optisch hervortreten zu lassen. Denn dies ist schließlich der Augenblick, bevor Gott Bileams Augen öffnet, sodass er den Engel des Herrn auf seinem Wege stehen sah mit einem bloßen Schwert in seiner Hand, und er neigte sich und fiel nieder auf sein Angesicht“ (4. Mose 22,31).
Das großblättrige Pflanzenarrangement auf Rembrandts Gemälde in der rechten vorderen Bildecke ist übrigens ebenfalls ein Lastman-Zitat – es findet sich u.a. auf dessen Gemälde Die Verstoßung der Hagar von 1612 (Hamburger Kunsthalle).
Pieter Lastman: Die Verstoßung der Hagar (1612); Hamburg, Kunsthalle
Jürgen Müller hat herausgearbeitet, dass Rembrandt für die Gestalt des Bileam auf die berühmte antike Skulptur des Laokoon (siehe meinen Post
Das ultimative antike Meisterwerk“) zurückgreift und dabei auch einen Sinnzusammenhang herstellt: Wie schon der Priester Laokoon von einer göttlichen Macht bestraft wurde, so ergeht es auch Bileam“ (Müller 2007, S. 130).
Laokoon-Gruppe (aufgefunden 1506); Rom, Vatikanische Museen
Pieter Lastman: Die Täufe des Kämmerers (1608); Berlin, Gemäldegalerie
Rembrandt hat noch eine weitere biblische Historie von Lastman einer Revision unterworfen, und zwar Die Taufe des Kämmerers, die eine Begebenheit aus der Apostelgeschichte schildert (8,26-40). Lastman hat insgesamt vier unterschiedliche Versionen dieses Themas angefertigt. Rembrandts Fassung ist wie sein Bileam 1626 entstanden. Aus Lastmans Pariser Gemälde entlehnt sie die Platzierung der Hauptgruppe, bestehend aus dem Apostel Philippus, dem knienden Kämmerer und dem hinter ihm stehenden Bedienten mit Buch. Die Haltung des Kämmerers wiederum übernahm Rembrandt aus Lastmans Münchner Bild und die des stehenden Dieners mit dem aufgeschlagenen Buch aus der Version in Karlsruhe. Aus dem Bild in Karlsruhe stammen noch weitere Motive, so etwa der bespannte Wagen mit den großen Rädern im Hintergrund oder den Kutscher mit der Peitsche. Eine Infrarotaufnahme zeigt zudem, dass Rembrandt von dort zunächst auch die Baumgruppe hinter der Kutsche, die er später zu einer Palme umarbeitete, und den Sonnenschirm übernommen hatte. Ein Hund, wie er auf allen Fassungen Lastmans zu finden ist, taucht auch bei Rembrandt trinkend links im Vordergrund auf.

Pieter Lastman: Die Taufe des Kämmerers (um 1612); Paris, Collection Frits Lugt
Rembrandt: Die Taufe des Kämmerers (1626); Utrecht, Catharijneconvent
Pieter Lastman: Die Taufe des Kämmerers (1620); München, Alte Pinakothek
Pieter Lastman: Die Taufe des Kämmerers (1623); Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
Wie schon bei seinem Bileam entscheidet Rembrandt sich auch bei dieser
Umarbeitung für eine dynamische, leicht spiralförmige Komposition, statt die Figuren wie Lastman friesartig anzuordnen. Erneut konzentriert sich Rembrandt viel stärker als Lastman auf das eigentliche Geschehen. Dazu rückt er die zentrale Gruppe nach vorne, drängt die Landschaft buchstäblich in den Hintergrund, beschränkt die Zahl der Nebenfiguren und platziert die Personen um die vertikale Mittelachse, die durch den Kämmerer betont wird.
Im Zuge der Reformation, die von den sieben Sakramenten der römisch-katholischen Kirche nur noch die Taufe und das Abendmahl anerkannte, gewann die biblische Erzählung von der Taufe des Kämmerers stark an Bedeutung. Anders als in der katholischen Kirche, die die Taufe als Voraussetzung für das zukünftige Heil betrachtete, galt sie bei den Protestanten lediglich als Bestätigung der göttlichen Heilszusage; der Schweizer Reformator Johannes Calvin (1509–1564) betonte in seinem Kommentar zur Apostelgeschichte, dass vor dem Akt der Taufe der Glaube stehen müsse. Der Glaube wiederum erwächst, wie es im Römerbrief des Paulus heißt (10,17), aus der Verkündigung von Gottes Wort und dem Hören auf dessen Botschaft – genau dies ist auch in der Bekehrungsgeschichte des Kämmerers der Fall. Rembrandt schließt sich dieser Sicht an, wenn er das Buch deutlich hervorhebt und das unmittelbare Aufeinanderfolgen von Lesung und Taufe suggeriert.
Rembrandt: Die Taufe des Kämmerers (1641); Radierung
In einer Radierung von 1641 nimmt Rembrandt das Thema der Kämmerer-Taufe nochmals auf. Er kehrt dabei mit seiner querformatig angelegten Komposition wieder zu dem Vorbild Lastmans zurück. Die wartende Kutsche und die Taufe des Äthiopiers sind spiegelbildlich zu seinem Gemälde von 1626 eingefügt; aus Lastmans Karlsruher Bild übernimmt Rembrandt den Sonnenschirm. Der prominent platzierte Reiter lenkt mit seinem Blick den des Betrachters direkt auf die Taufhandlung. 

 
Literaturhinweise

Giltaij, Jeroen: Rembrandt Rembrandt. Ausstellungskatalog Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main 2003. Edition Minerva, Wolfratshausen 2003, S. 30-33;

Müller, Jürgen: „Een antieckse Laechon“. Ein Beitrag zu Rembrandts ironischer Antikenrezeption. In: Horst Bredekamp u.a. (Hrsg.), Dissimulazione onesta oder Die ehrliche Verstellung. Von der Weisheit der versteckten Beunruhigung in Wort, Bild und Tat. Philo Fine Arts, Hamburg 2007, S. 105-130

Pächt, Otto: Rembrandt. Prestel-Verlag, München 2005, S. 33-34;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 236-238;
Sitt, Martina (Hrsg.): Pieter Lastman – In Rembrandts Schatten? Hirmer Verlag, München 2006, S. 56-59 und 64;
Wetering, Ernst van de/Schnackenburg, Bernhard (Hrsg.): Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge. Edition Minerva, Wolfratshausen 2001. 

(zuletzt bearbeitet am 14. September 2025)

Bernini will der Beste sein – der „Hl. Sebastian“ aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza

Gianlorenzo Bernini: Hl. Sebastian (1617); Madrid,
Museo Thyssen-Bornemisza (für die Großansicht einfach anklicken)
Der
Hl. Sebastian, 1617 entstanden, ist eine der ersten Skulpturen des jungen Gianlorenzo Bernini (1598–1680), der 1606 mit seinem Vater nach Rom übergesiedelt war. Sein großes Vorbild dürfte damals ohne Zweifel Michelangelo (1475–1569) gewesen sein. Um sich Aufmerksamkeit und Aufträge zu sichern, nahm sich der jugendliche Bildhauer vor, sich mit dem großen Renaissance-Künstler zu messen – und ihn wenn möglich zu übertreffen. Sein Hl. Sebastian zeigt, wie intensiv Bernini sich mit Michelangelos Figuren auseinandergesetzt hat, vor allem mit dessen Pietà-Gruppen. 
Labiles Gleichgewicht: im nächsten Moment schon könnte der Körper des
Märtyrers von seinem Felsensitz herabgleiten
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Als Kaiser Diokletian vom christlichen Glauben seines römischen Hauptmanns Sebastian erfuhr, ließ er ihn an einen Baum fesseln und von numidischen Bogenschützen hinrichten – so die Legende. Sein von zahlreichen Pfeilen durchbohrter Körper blieb am Ort der Exekution zurück. Als die Christin Irene und ihre Gefährtinnen den Leichnam später bestatten wollten, fanden sie Sebastian noch lebend, brachten ihn in ihr Haus und pflegten seine Wunden, die innerhalb weniger Tage vollständig verheilten. 
Berninis Sebastian hat sein Martyrium bereits erlitten. Er sitzt auf einem schmalen Felsen und lehnt an dem dahinter aufragenden Baumstumpf. Sein Kopf ist in den Nacken zurückgesunken, der Mund leicht geöffnet, die Augenlider sind geschlossen. Der rechte Arm liegt über einem waagrecht abstehenden Aststumpf und wird wie zufällig durch eine Gewandschlinge dort angebunden. Er allein gibt dem Körper noch Halt, dem Kraft und Leben zu entweichen scheinen und der vom Felsen herabzugleiten droht. Der linke Arm hängt herab und liegt mit geöffneter Hand auf dem Oberschenkel; das rechte Bein ist kraftlos zurückgesunken, während das über den Felsen gelegte linke Bein den Körper noch stützt. „Der hängenden Vertikalen des rechten Unterarms und des parallel dazu auf der Plinthe aufstehenden linken Beines entsprechen der aufliegende linke Arm und der abrutschende rechte Oberschenkel“ (Schmitt 1997, S. 34). Deutlich erkennbar ist die kontrapostische Gestaltung des Märtyrer-Leibes: So entsprechen sich kontrastierend die hochgezogen vorstehende rechte Schulter und die herabhängende linke sowie die gedehnte rechte Körperflanke und die gestauchte linke Partie.
Sebastian hat das Bewusstsein verloren, „doch lassen das vorgestellte linke Bein, die kraftvolle Modellierung der Muskulatur im Bereich von Brustkorb und Bauch sowie die schwellenden Adern der Unterarme, auf Fußrücken und Schienbein ahnen, daß noch Leben in ihm wohnt“ (Schütze 2007, S. 211). Hinter Kopf- und Schulterpartie sprießen Blätter aus dem Stumpf des Lorbeerbaums – sie verweisen auf die nahende Rettung und die Überwindung des Todes.
Der antik anmutende Körper des Sebastian ist beinahe vollständig nackt und nur unter der rechten Achsel sowie an der linken Flanke von Pfeilen verletzt. Zwei weitere Pfeile liegen am Boden. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verdrängte das Bild des nackten, jugendlichen Sebastian endgültig die ältere Tradition, die ihn als reifen, bärtigen Mann dargestellt hatte. Die jugendliche Schönheit von Berninis Sebastian ist nicht nur Ausdruck der Schönheit seiner Seele, sondern zugleich sichtbarer Beweis seiner Christusähnlichkeit“ (Schütze 2007, S. 215). Der herabsinkende Körper und die sich über dem Knochengerüst verschiebenden Haut- und Muskelpartien, vor allem im Bereich von Hals, Brustkorb und Bauchdecke, sind anatomisch genau beobachtet. Die Gesichtszüge entsprechen einem klassischen Schönheitsideal, der Körper ist muskulös-athletisch, aber in seinen langgestreckten Proportionen deutlich schlanker und weniger kraftvoll als z. B. der Laokoon, der als Vorbild für Berninis Skulptur genannt wurde (siehe meinen Post Das ultimative antike Meisterwerk).
Zwischen Leben und Tod und beinahe vollständig nackt
Die Haare des Sebastian mit den bis in den Nacken fallenden und in der Mitte gescheitelten Locken sowie der Schnurrbart mit dem nicht sehr dichten Kinn- und Backenbart greifen unübersehbar auf Michelangelos römische Christusfiguren in St. Peter und Santa Maria sopra Minerva zurück. Würden die Pfeile fehlen, könnte Berninis Skulptur zweifellos auch als Passionschristus betrachtet werden. Vor allem die Auseinandersetzung mit Michelangelos Pietà von 1498/99 (siehe meinen Post Tief schlafend oder tot?ist überall spürbar, in der Feinheit der bildhauerischen Arbeit, in der Proportionierung und Modellierung des Körpers wie in der Durchbildung der Detailformen, des Kopfes und der Gliedmaßen, der Füße, der Hände oder des rechten Armes“ (Schütze 2007, S. 221). Die eindrucksvolle künstlerische Virtuosität des neunzehnjährigen Bernini zielte darauf ab, bei den damaligen BetrachterInnen jene compassione (Mitleid) hervorzurufen, die die Frauen empfanden, als sie den halbtoten Sebastian auffanden – „und erzwang damit implizit Bewunderung für sein eigenes Können“ (Scholten 2019, S. 175).
Michelangelos toter Christus von 1498/99 in St. Peter
Michelangelos auferstandener Christus in Santa Maria sopra Minerva (1519-1521)
Ungewöhnlich ist, dass der unterlebensgroße Hl. Sebastian als Sitzfigur konzipiert ist; in der Regel wurde der Märtyrer stehend wiedergegeben. Bernini knüpft mit der frontalen, ikonenhaften Präsentation des sitzenden Märtyrers an Pietà-Darstellungen an, die im ausgehenden 15. Jahrhundert vor allem Giovanni Bellini, Andrea Mantegna und Antonello da Messina entwickelt hatten.
Andrea Mantegna: Hl. Sebastian (um 1457/59); Wien, Kunsthistorisches Museum
Andrea Mantegna: Engelspietà (1489); Kopenhagen, Statens Museum for
Kunst (für die Großansicht einfach anklicken)
Antonello da Messina: Pietà (1475/76); Madrid, Museo del Prado
Ebenso lehnt sich sein Hl. Sebastian unverkennbar an die beiden anderen, unvollendeten Pietà-Gruppen Michelangelos an: die Pietà Palestrina und die Pietà BandiniBerninis Figur ist im Aufbau aus dem Vorbild beider Pietà-Skulpturen abzuleiten: Das kraftlos abgeknickte rechte Bein, über dem sich der muskulöse Rumpf nicht aus eigener Kraft halten kann, die Stütze unter der rechten Schulter, die dadurch bedingte diagonale Ausrichtung der Armansätze, der zur erhobenen Schulter gefallene Kopf – das ist eine deutlich vergleichbare Struktur dieser drei Bildwerke. Mit der Präsentation des toten Christus hat sich Michelangelo nach der Pietà in St. Peter auch in seinem ebenfalls unvollendeten Gemälde einer Grablegung beschäftigt, die sich heute in der Londoner National Gallery befindet. Neben dem „Wettbewerb“ mit Michelangelo dienen diese Anleihen Berninis vor allem dazu, die Christusähnlichkeit Sebastians zu betonen und dessen Martyrium der Passion Jesu anzugleichen.
Michelangelo: Pietà Bandini, unvollendet; Florenz, Museo dell’Opera del Duomo
Michelangelo: Pietà Palestrina, unvollendet; Florenz, Galleria dell’Academia
Michelangelo: Grablegung Christi (um 1500/01); London National Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken)
Hans Kauffmann verweist auf den Barberinischen Faun als Anregung, zumal sich Bernini mit dem hellenistischen Original beschäftigt hat: Er erhielt den Auftrag, die antike Skulptur zu restaurieren (siehe meinen Post Die Macht des Dionysos). Die Lagerung des Kopfes auf der Schulter des hochgelegten und umwickelten Oberarms, die Asymmetrie der Thoraxhälften und die Hinterlegung des Rumpfes mit einem Fell oder Stoff, der Felsensitz, nicht zuletzt die geschlossenen Augen bei geöffneten Lippen legen den Gedanken an einen Einfluß nahe“ (Kauffmann 1970, S. 27). Die Quellenlage belegt allerdings, dass der Barberinische Faun erst in den Jahren zwischen 1624 und 1628 bei Ausschachtungsarbeiten an der Engelsburg in Rom gefunden wurde – als Bernini seinen Hl. Sebastian schuf, konnte er die antike Statue also noch gar nicht gesehen haben. Doch Kauffmann geht offensichtlich davon aus (mit Verweis auf einen Aufsatz von Kurt Cassirer), dass es bereits im 16. Jahrhundert eine Replik des Barberinischen Fauns gab, die seitdem verschollen oder zerstört ist.
Barberinischer Faun (um 220 v.Chr.); München, Glyptothek
Sabine Schulze wiederum hat als Vorbild für die Sitzfigur den Torso vom Belvedere ausgemacht, das Fragment einer mit leicht geneigtem und etwas gedrehtem Oberkörper sitzenden männlichen Figur (siehe meinen Post Ruhm und Rätsel). Ihrer Ansicht nach „verleiten die Ausrichtung der Oberschenkel, die eingezogene Weiche und die im Gegenzug gedrehten Schultern zu der Vermutung, dass der Figur des Sebastian zusätzlich ein Moment der Antikenrekonstruktion verbunden ist. Zumindest wäre es ein Beweis höchster Kunstfertigkeit, wenn Bernini der von Michelangelo entwickelten Leidensformel ein antikes Vorbild integrierte“ (Schulze 1993, S. 236).
Torso vom Belvedere, Skulptur des Apollonios von Athen, 1. Jh. v.Chr.; Rom, Vatikanische Museen
Eine Künstleranekdote behauptet, Michelangelo habe vor der Qualität des Torso vom Belvedere kapituliert und seine Ergänzung verweigert. Bernini verknüpft nun dieses Idealbild menschlicher Körpergestalt mit den von Michelangelo erarbeiteten Bildformeln für physisches Leid und Tod und überführt die antike Thematik in eine christliche. Seine Absicht ist offensichtlich: Er will sowohl Antike wie auch Michelangelo, überbieten und seine Überlegenheit belegen, indem er beide Bilderfindungen in seiner eigenen Konzeption verschmelzen lässt. 

Literaturhinweise
Cassirer; Kurt: Eine Replik des Barberinischen Fauns. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 7 (1912), S. 90-97;
Kauffmann, Hans: Giovanni Lorenzo Bernini. Die figürlichen Kompositionen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1970, S. 24-29; 
Schmitt, Berthold: Giovanni Lorenzo Bernini. Figur und Raum. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 1997, S. 34-39;
Scholten, Frits: Gian Lorenzo Bernini, Hl. Sebastian. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio & Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 175;
Schulze, Sabine: Zwischen Innovation und Tradition. Berninis Apoll und Daphne. In: Städel-Jahrbuch 14 (1993), S. 231-250;
Schütze, Sebastian: Kardinal Maffeo Barberini, später Papst Urban VIII., und die Entstehung des römischen Hochbarock. Hirmer Verlag, München 2007, S. 209-224.

(zuletzt bearbeitet am 12. September 2025)