Mittwoch, 16. Mai 2012

Bernini will der Beste sein – der „Hl. Sebastian“ aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza

Gianlorenzo Bernini: Hl. Sebastian (1617); Madrid,
Museo Thyssen-Bornemisza (für die Großansicht einfach anklicken)
Der
Hl. Sebastian, 1617 entstanden, ist eine der ersten Skulpturen des jungen Gianlorenzo Bernini (1598–1680), der 1606 mit seinem Vater nach Rom übergesiedelt war. Sein großes Vorbild dürfte damals ohne Zweifel Michelangelo (1475–1569) gewesen sein. Um sich Aufmerksamkeit und Aufträge zu sichern, nahm sich der jugendliche Bildhauer vor, sich mit dem großen Renaissance-Künstler zu messen – und ihn wenn möglich zu übertreffen. Sein Hl. Sebastian zeigt, wie intensiv Bernini sich mit Michelangelos Figuren auseinandergesetzt hat, vor allem mit dessen Pietà-Gruppen. 
Labiles Gleichgewicht: im nächsten Moment schon könnte der Körper des
Märtyrers von seinem Felsensitz herabgleiten
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Als Kaiser Diokletian vom christlichen Glauben seines römischen Hauptmanns Sebastian erfuhr, ließ er ihn an einen Baum fesseln und von numidischen Bogenschützen hinrichten – so die Legende. Sein von zahlreichen Pfeilen durchbohrter Körper blieb am Ort der Exekution zurück. Als die Christin Irene und ihre Gefährtinnen den Leichnam später bestatten wollten, fanden sie Sebastian noch lebend, brachten ihn in ihr Haus und pflegten seine Wunden, die innerhalb weniger Tage vollständig verheilten. 
Berninis Sebastian hat sein Martyrium bereits erlitten. Er sitzt auf einem schmalen Felsen und lehnt an dem dahinter aufragenden Baumstumpf. Sein Kopf ist in den Nacken zurückgesunken, der Mund leicht geöffnet, die Augenlider sind geschlossen. Der rechte Arm liegt über einem waagrecht abstehenden Aststumpf und wird wie zufällig durch eine Gewandschlinge dort angebunden. Er allein gibt dem Körper noch Halt, dem Kraft und Leben zu entweichen scheinen und der vom Felsen herabzugleiten droht. Der linke Arm hängt herab und liegt mit geöffneter Hand auf dem Oberschenkel; das rechte Bein ist kraftlos zurückgesunken, während das über den Felsen gelegte linke Bein den Körper noch stützt. „Der hängenden Vertikalen des rechten Unterarms und des parallel dazu auf der Plinthe aufstehenden linken Beines entsprechen der aufliegende linke Arm und der abrutschende rechte Oberschenkel“ (Schmitt 1997, S. 34). Deutlich erkennbar ist die kontrapostische Gestaltung des Märtyrer-Leibes: So entsprechen sich kontrastierend die hochgezogen vorstehende rechte Schulter und die herabhängende linke sowie die gedehnte rechte Körperflanke und die gestauchte linke Partie.
Sebastian hat das Bewusstsein verloren, „doch lassen das vorgestellte linke Bein, die kraftvolle Modellierung der Muskulatur im Bereich von Brustkorb und Bauch sowie die schwellenden Adern der Unterarme, auf Fußrücken und Schienbein ahnen, daß noch Leben in ihm wohnt“ (Schütze 2007, S. 211). Hinter Kopf- und Schulterpartie sprießen Blätter aus dem Stumpf des Lorbeerbaums – sie verweisen auf die nahende Rettung und die Überwindung des Todes.
Der antik anmutende Körper des Sebastian ist beinahe vollständig nackt und nur unter der rechten Achsel sowie an der linken Flanke von Pfeilen verletzt. Zwei weitere Pfeile liegen am Boden. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verdrängte das Bild des nackten, jugendlichen Sebastian endgültig die ältere Tradition, die ihn als reifen, bärtigen Mann dargestellt hatte. Die jugendliche Schönheit von Berninis Sebastian ist nicht nur Ausdruck der Schönheit seiner Seele, sondern zugleich sichtbarer Beweis seiner Christusähnlichkeit“ (Schütze 2007, S. 215). Der herabsinkende Körper und die sich über dem Knochengerüst verschiebenden Haut- und Muskelpartien, vor allem im Bereich von Hals, Brustkorb und Bauchdecke, sind anatomisch genau beobachtet. Die Gesichtszüge entsprechen einem klassischen Schönheitsideal, der Körper ist muskulös-athletisch, aber in seinen langgestreckten Proportionen deutlich schlanker und weniger kraftvoll als z. B. der Laokoon, der als Vorbild für Berninis Skulptur genannt wurde (siehe meinen Post Das ultimative antike Meisterwerk).
Zwischen Leben und Tod und beinahe vollständig nackt
Die Haare des Sebastian mit den bis in den Nacken fallenden und in der Mitte gescheitelten Locken sowie der Schnurrbart mit dem nicht sehr dichten Kinn- und Backenbart greifen unübersehbar auf Michelangelos römische Christusfiguren in St. Peter und Santa Maria sopra Minerva zurück. Würden die Pfeile fehlen, könnte Berninis Skulptur zweifellos auch als Passionschristus betrachtet werden. Vor allem die Auseinandersetzung mit Michelangelos Pietà von 1498/99 (siehe meinen Post Tief schlafend oder tot?ist überall spürbar, in der Feinheit der bildhauerischen Arbeit, in der Proportionierung und Modellierung des Körpers wie in der Durchbildung der Detailformen, des Kopfes und der Gliedmaßen, der Füße, der Hände oder des rechten Armes“ (Schütze 2007, S. 221). Die eindrucksvolle künstlerische Virtuosität des neunzehnjährigen Bernini zielte darauf ab, bei den damaligen BetrachterInnen jene compassione (Mitleid) hervorzurufen, die die Frauen empfanden, als sie den halbtoten Sebastian auffanden – „und erzwang damit implizit Bewunderung für sein eigenes Können“ (Scholten 2019, S. 175).
Michelangelos toter Christus von 1498/99 in St. Peter
Michelangelos auferstandener Christus in Santa Maria sopra Minerva (1519-1521)
Ungewöhnlich ist, dass der unterlebensgroße Hl. Sebastian als Sitzfigur konzipiert ist; in der Regel wurde der Märtyrer stehend wiedergegeben. Bernini knüpft mit der frontalen, ikonenhaften Präsentation des sitzenden Märtyrers an Pietà-Darstellungen an, die im ausgehenden 15. Jahrhundert vor allem Giovanni Bellini, Andrea Mantegna und Antonello da Messina entwickelt hatten.
Andrea Mantegna: Hl. Sebastian (um 1457/59); Wien, Kunsthistorisches Museum
Andrea Mantegna: Engelspietà (1489); Kopenhagen, Statens Museum for
Kunst (für die Großansicht einfach anklicken)
Antonello da Messina: Pietà (1475/76); Madrid, Museo del Prado
Ebenso lehnt sich sein Hl. Sebastian unverkennbar an die beiden anderen, unvollendeten Pietà-Gruppen Michelangelos an: die Pietà Palestrina und die Pietà BandiniBerninis Figur ist im Aufbau aus dem Vorbild beider Pietà-Skulpturen abzuleiten: Das kraftlos abgeknickte rechte Bein, über dem sich der muskulöse Rumpf nicht aus eigener Kraft halten kann, die Stütze unter der rechten Schulter, die dadurch bedingte diagonale Ausrichtung der Armansätze, der zur erhobenen Schulter gefallene Kopf – das ist eine deutlich vergleichbare Struktur dieser drei Bildwerke. Mit der Präsentation des toten Christus hat sich Michelangelo nach der Pietà in St. Peter auch in seinem ebenfalls unvollendeten Gemälde einer Grablegung beschäftigt, die sich heute in der Londoner National Gallery befindet. Neben dem „Wettbewerb“ mit Michelangelo dienen diese Anleihen Berninis vor allem dazu, die Christusähnlichkeit Sebastians zu betonen und dessen Martyrium der Passion Jesu anzugleichen.
Michelangelo: Pietà Bandini, unvollendet; Florenz, Museo dell’Opera del Duomo
Michelangelo: Pietà Palestrina, unvollendet; Florenz, Galleria dell’Academia
Michelangelo: Grablegung Christi (um 1500/01); London National Gallery
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Hans Kauffmann verweist auf den Barberinischen Faun als Anregung, zumal sich Bernini mit dem hellenistischen Original beschäftigt hat: Er erhielt den Auftrag, die antike Skulptur zu restaurieren (siehe meinen Post Die Macht des Dionysos). Die Lagerung des Kopfes auf der Schulter des hochgelegten und umwickelten Oberarms, die Asymmetrie der Thoraxhälften und die Hinterlegung des Rumpfes mit einem Fell oder Stoff, der Felsensitz, nicht zuletzt die geschlossenen Augen bei geöffneten Lippen legen den Gedanken an einen Einfluß nahe“ (Kauffmann 1970, S. 27). Die Quellenlage belegt allerdings, dass der Barberinische Faun erst in den Jahren zwischen 1624 und 1628 bei Ausschachtungsarbeiten an der Engelsburg in Rom gefunden wurde – als Bernini seinen Hl. Sebastian schuf, konnte er die antike Statue also noch gar nicht gesehen haben. Doch Kauffmann geht offensichtlich davon aus (mit Verweis auf einen Aufsatz von Kurt Cassirer), dass es bereits im 16. Jahrhundert eine Replik des Barberinischen Fauns gab, die seitdem verschollen oder zerstört ist.
Barberinischer Faun (um 220 v.Chr.); München, Glyptothek
Sabine Schulze wiederum hat als Vorbild für die Sitzfigur den Torso vom Belvedere ausgemacht, das Fragment einer mit leicht geneigtem und etwas gedrehtem Oberkörper sitzenden männlichen Figur (siehe meinen Post Ruhm und Rätsel). Ihrer Ansicht nach „verleiten die Ausrichtung der Oberschenkel, die eingezogene Weiche und die im Gegenzug gedrehten Schultern zu der Vermutung, dass der Figur des Sebastian zusätzlich ein Moment der Antikenrekonstruktion verbunden ist. Zumindest wäre es ein Beweis höchster Kunstfertigkeit, wenn Bernini der von Michelangelo entwickelten Leidensformel ein antikes Vorbild integrierte“ (Schulze 1993, S. 236).
Torso vom Belvedere, Skulptur des Apollonios von Athen, 1. Jh. v.Chr.; Rom, Vatikanische Museen
Eine Künstleranekdote behauptet, Michelangelo habe vor der Qualität des Torso vom Belvedere kapituliert und seine Ergänzung verweigert. Bernini verknüpft nun dieses Idealbild menschlicher Körpergestalt mit den von Michelangelo erarbeiteten Bildformeln für physisches Leid und Tod und überführt die antike Thematik in eine christliche. Seine Absicht ist offensichtlich: Er will sowohl Antike wie auch Michelangelo, überbieten und seine Überlegenheit belegen, indem er beide Bilderfindungen in seiner eigenen Konzeption verschmelzen lässt. 

Literaturhinweise
Cassirer; Kurt: Eine Replik des Barberinischen Fauns. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 7 (1912), S. 90-97;
Kauffmann, Hans: Giovanni Lorenzo Bernini. Die figürlichen Kompositionen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1970, S. 24-29; 
Schmitt, Berthold: Giovanni Lorenzo Bernini. Figur und Raum. Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 1997, S. 34-39;
Scholten, Frits: Gian Lorenzo Bernini, Hl. Sebastian. In: Gudrun Swoboda/Stefan Weppelmann, Caravaggio & Bernini. Entdeckung der Gefühle. Hannibal Publishing, Veurne 2019, S. 175;
Schulze, Sabine: Zwischen Innovation und Tradition. Berninis Apoll und Daphne. In: Städel-Jahrbuch 14 (1993), S. 231-250;
Schütze, Sebastian: Kardinal Maffeo Barberini, später Papst Urban VIII., und die Entstehung des römischen Hochbarock. Hirmer Verlag, München 2007, S. 209-224.

(zuletzt bearbeitet am 23. Juli 2024)

3 Kommentare:

  1. Hallo, wenn der Barberinische Faun um 1625 in Rom gefunden wurde - (vgl. "Die Macht des Dionysos"), dann kann kein Einflluss auf die Darstellung des Hl. Sebastian um 1617 bei Bernini erfolgt sein. Stimmen denn die Zeitangaben? Beste Grüße, Bianca

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    1. Sie haben völlig recht, da stimmt was nicht, danke für den Hinweis! Die Zeitangaben sind korrekt ... Ich überprüfe das Zitat von Hans Kauffmann nochmals, um herauszufinden, wo die Fehlerquelle liegt. Auf jeden Fall sind mir die widersprüchlichen Jahreszahlen nicht aufgefallen, Ihnen schon!

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    2. Die Quellenlage ist eindeutig: Der "Barberinische Faun" wurde zwischen 1624 und 1628 in Rom gefunden; Bernini konnte die antike Statue als noch gar nicht kennen, als er seinen "Hl. Sebastian" schuf. Kauffmann geht aber wohl davon aus, dass es bereits im 16. Jahrhundert eine Replik des "Barberinischen Fauns" gab, die seitdem verschollen oder zerstört ist. Ich habe den Text entsprechend geändert.

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