Dienstag, 29. Mai 2012

Raffaels schöne Bäckerstochter: La Fornarina

Raffael: La Fornarina (um 1518/20); Rom, Galleria Nazionale dArte Antica
Raffaels La Fornarina, 
in seinen letzten Lebensjahren entstanden (um 1518/1520), ist zweifelsohne sein bekanntestes Porträt. Nach links gewandt, sitzt eine halbnackte Frau in Dreiviertelansicht vor einem dichten Gebüsch aus Myrten, Lorbeer und – kaum noch zu erkennen – Quitten. Ihr dunkles Haar ist turbanartig mit einem gestreiften und plissierten Seidentuch umwickelt, von dem eine Perle herabhängt; die rechte Hand zieht einen durchsichtigen Schleier über den Bauch bis zu den Brüsten hoch, der sie allerdings kaum verhüllt. Der linke Arm liegt auf ihrem Schenkel und dem roten Untergewand. Die junge Frau mit dem porzellanhaften Inkarnat scheint dem Blick des Betrachters auszuweichen; ihre großen Augen, die von den geschwungenen, schwarzen Brauen betont werden, sind nach rechts gerichtet. Sie wirkt dabei jedoch keineswegs schüchtern, das angedeutete Lächeln verweist eher darauf, dass sie sich ihrer Schönheit und erotischen Anziehungskraft sehr wohl bewusst ist. Der dunkle Hintergrund unterstreicht das Weiß ihrer Schultern und Brüste, die ein wenig heller sind als das sonnengebräunte Gesicht – für Antonio Forcellino ein Beleg dafür , dass es sich um ein naturgetreues Porträt handelt.
Die Kapitolinische Venus mit Venus-pudica-Pose
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Die Haltung der Arme und Hände entspricht der Pose einer antiken „Venus pudica“. Wie bei diesem Bildtypus hält La Fornarina die rechte Hand schamhaft vor die Brust, die andere bedeckt den Schoß. Allerdings wirken diese Gesten bei Raffael beinahe lasziv und machen den Betrachter eher auf die Reize der Schönen aufmerksam, als sie vor ihm zu verbergen. Gleichzeitig weist der Zeigefinger ihrer rechten Hand unauffällig und dennoch eindeutig auf einen blau emaillierten Goldreif um ihren Oberarm, der die Aufschrift „RAPHAEL URBINAS“ trägt („Raffael aus Urbino“) – die Signatur betont die Urheberschaft wie auch die Zuneigung (oder den Besitzanspruch) des Künstlers. Kein anderes Porträt Raffaels ist signiert – sein Name auf dem Schmuckstück scheint daher eine besondere Beziehung des Künstlers zu der Dargestellten zu signalisieren.
Eine Brust, die mehr präsentiert als bedeckt wird
Wegen der durchaus pikanten Platzierung neben der nackten linken Brust und dem Herzen hat man später vermutet, es handele sich bei der jungen Frau um Raffaels (angebliche) Geliebte, die Tochter eines römischen Bäckers (genau das bedeutet „La Fornarina“ nämlich). Sie war ab 1514 sein bevorzugtes Modell in allen Darstellungen von weiblichen Heiligen oder antiken Gottheiten. Möglicherweise spielt der Armreif auch auf das alttestamentliche Hohelied an, wo es heißt: „Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm“ (8,6). La Fornarina erscheint als Name des Gemäldes erstmals auf einem Stich der 1770er Jahre, der nach Raffaels Bildnis angefertigt wurde. Ursprünglich war das Porträt mit zwei zuklappbaren Flügeln versehen, sodass es unerwünschten Blicken entzogen werden konnte.
Sabine Poeschel ist allerdings der Ansicht, dass es sich gar nicht um ein Porträt handelt, sondern um die Darstellung eines spezifischen Frauentyps – nämlich den der sinnlichen, erotisch anziehenden Frau. Dieser Typus – „eine durchaus irdische Erscheinung von provozierender Nähe“ (Poeschel 2002, S. 291) – sei von Raffael selbst variiert und auch von Künstlern wie Giulio Romano, Sebastiano del Piombo u.a. in einer Reihe von Gemälden aufgegriffen worden. Es sind dies Bilder von Frauen, die offenkundig erotische Züge haben, im Gegensatz zur enthaltsamen „guten Schönen“, die Keuschheit als höchste weibliche Tugend respektiert. Die körperliche Attraktivität, die La Fornarina zeigt, durfte bei der guten Schönen noch nicht einmal angesprochen werden. 
Für Ulrich Pfisterer hingegen setzt Raffael mit seinem Bildnis „Modell, (vermeintliche) Geliebte und Muse der Malerei in eins und markiert so einen entscheidenden Schritt hin zu dieser später omnipräsenten Vorstellung von der Geliebten als erotischer Inspirationsquelle des Künstlers“ (Pfisterer 2012, S. 64). Aus seiner Sicht verhüllt die junge Frau weder ihre Brust im Pudica-Gestus noch legt sie die Hand auf das Herz, wie ebenfalls vermutet worden ist. Sie präsentiere ihre Brust vielmehr und drücke offenbar sogar leicht deren Spitze – ein für den zeitgenössischen Betrachter eindeutiges Motiv, das ihm von der „Madonna lactans“, der stillenden Gottesmutter, bekannt gewesen sei. 
Sebastiano Mainardi: Madonna lactans (um 1480); Wien, Kunsthistorisches Museum
Pfisterer hat in seinem Buch Kunst-Geburten (2014) belegt, wie häufig in Renaissance-Texten Nähr- und Inspirationsmetaphern durch Brust und Milch zu finden sind. Er schlägt deswegen vor, den Griff der Fornarina an ihre linke Brust als „Inspirationsgestus“ (Pfisterer 2012, S. 69) zu verstehen, die halbnackte Frau als  inspirierende Musen-Geliebte des Malers. Pfisterer verweist in diesem Zusammenhang auch auf eine Musen-Darstellung aus der Werkstatt Botticellis, die das Nähr-Motiv explizit vorführt – die Muse als Quell der Inspiration. „Entscheidend für Raffael war, von sich selbst das Bild eines Kunst- und Musen-Liebhabers und die Existenz einer eigenen Muse nach dem Modell der Dichter-Musen zu propagieren“ (Pfisterer 2012, S. 74).
Botticelli-Werkstatt: Muse (um 1480/85); Privatsammlung
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Raffael hat sich intensiv mit der Porträtkunst Leonardo da Vincis beschäftigt, der von 1513 bis 1516 ebenfalls in Rom lebte (siehe meinen PostGeld heiratet Adel“). Das lässt sich auch an der Fornarina ablesen, deren Lächeln von der Mona Lisa angeregt sein dürfte. Noch deutlicher werden diese Bezüge aus den Röntgenaufnahmen der Fornarina: Sie sollte ursprünglich vor eine offene Landschaft mit einem mittigen Busch platziert werden – eine Lösung, die Raffael von Leonardos Bildnis der Ginevra de’ Benci übernommen haben könnte.
Leonardo da Vinci: Ginevra de’ Benci (um 1475); Washington D.C.; National Gallery of Art
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Raffael und die Fornarina wurden von nachfolgenden Künstlern immer wieder als Bildthema aufgegriffen – um die inspirierende Kraft einer erotischen Beziehung von Maler und Modell zu verdeutlichen. Besonders Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780–1867) variierte den Stoff mehrfach, und Pablo Picasso (1881–1973) schuf 23 Radierungen mit Darstellungen des Paares. Ingres‘ Raffael und die Fornarina von 1814 zeigt den Maler und die Geliebte im Atelier. Die Sitzung für das berühmte Aktporträt ist unterbrochen; die Fornarina hat sich auf Raffaels Bein gesetzt und blickt den Betrachter über die rechte Schulter hinweg an. Ihr Dreiviertelporträt gleicht nicht so sehr dem unfertigen Abbild auf der Leinwand als eher der ebenfalls berühmten Madonna della Sedia von Raffael, die rechts an der Rückwand des Ateliers lehnt und demnach ebenfalls nach diesem Modell gemalt ist. Raffael war Ingres‘ künstlerischer Fixstern, an dessen Formensprache er sich lebenslang anlehnte. Der Fornarina selbst hat dann insbesondere der italienische Maler Amedeo Modigliani (1884–1920) 1918 mit einer seiner zahlreichen Aktdarstellungen seine Reverenz erwiesen.
Jean-Auguste-Dominique Ingres: Raffael und die Fornarina (1814);
Cambridge/Mass., Fogg Art Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Picasso: Raffael und die Fornarina XVII (1968); Radierung
Picasso: Raffael und die Fornarina XXIII (1968); Radierung
Amedeo Modigliani: Junge Frau im Hemd (1918); Wien, Albertina

Literaturhinweise
Brown, David Alan/Oberhuber, Konrad: Monna Vanna and Fornarina: Leonardo and Raphale in Rome. In: Sergio Bertelli/Gloria Ramakus (Hrsg.), History of Art, History of Music. Essays presented to Myron P. Gilmore. La Nuova Italia Editrice, Florenz 1978, S. 25-86;
Forcellino, Antonio: Raffael. Biographie. Siedler Verlag, München 2008, S. 229-232;
Pfisterer, Ulrich: Raffaels Muse – Erotische Inspiration in der Renaissance. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 38 (2012), S. 63-83;
Poeschel, Sabine: Raffael und die Fornarina. Ein Bild wird Biographie. In: Udo Grote (Hrsg.), Westfalen und Italien. Festschrift für Karl Noehles. 
Michael Imhof Verlag, Petersberg 2002, S. 285– 294;
Talvacchia, Bette: Raffael. Phaidon Verlag, Berlin 2007, S. 122/126.


Antonello, sehr angetan
(zuletzt bearbeitet am 10. November 2024)

6 Kommentare:

  1. Vielen Dank für die sehr interessanten und gut bebilderten Texte. Ein wahrer Augenschmaus. Interessante Bezüge werden hergestellt.

    Welche Gemälde könnte man denn als Beispiel für die enthaltsame „gute Schöne“ ansehen? Das würde mich sehr interessieren.

    Viele Grüße

    Daphne

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  2. Ihr Lob freut mich, das hört man gerne! Als Beispiele für die "guten Schönen" könnte man zwei Hochzeitsbilder anführen, und zwar Leonardo da Vincis Porträt der Ginevra de' Benci (zwischen 1475 und 1478 entstanden; Abbildungen gibt es im Internet zuhauf) und Raffaels Bildnis der Maddalena Doni von 1506/07. Zum letztgenannten Gemälde gibt es auch Blogbeitrag von mir: http://syndrome-de-stendhal.blogspot.de/2013/06/die-donis-lassen-sich-malen.html
    Herzliche Grüße
    Antonello

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  3. Vielen Dank für Ihre Antwort.

    Maddalena Doni vermeidet züchtig den direkten Blick. Aber das tut La Fornarina auch.
    Ginevra de' Benci schaut den Betrachter zwar an, aber doch mit so einem verschleierten Blick, dass man sich nicht ganz sicher sein kann. Interessanter Weise zeigen die Gesichter der "guten Schönen" keine Gefühle!

    Mir fällt in diesem Zusammenhang ein, wie Rembrandt und Rubens ihre jungen Frauen dargestellt haben. Dort wird sehr wohl eine Beziehung zwischen Maler und Modell spürbar. Ich denke da zum Beispiel an "Das Pelzchen".

    Viele Grüße

    Daphne

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    1. Stimmt, bei „La Fornarina“ fehlt der herausfordernde bzw. einladende Blick hin zum Betrachter – allerdings sind ihre Nacktheit und Gestik sehr eindeutig und wahrlich kein Ausweis von Tugend und Keuschheit. Wohin wenden sich ihre Augen? Zu Raffael, der gerade ihr Porträt malt?

      „Das Pelzchen“ erwähnen Sie ganz zu Recht; durch das Gemälde vibriert förmlich das Begehren des Maler-Ehemannes. Es ist ein eminent erotisches Bild, denn ähnlich wie bei Raffael werden z. B. die Brüste durch den rechten Arm nicht verdeckt, sondern regelrecht zur Schau gestellt. Und mit dem Titel „Het Pelsken“, den Rubens selber gewählt hat, ist nicht nur eine „kleine Frau im Pelz“ gemeint, sondern genauso das „kleine Pelzchen“ der Frau als erotischer Mittelpunkt des Gemäldes. Hier geht es ganz und gar um Verführung: Rubens Ehefrau präsentiert sich ihrem „Voyeur“ mit all ihren körperlichen Reizen, und hier haben wir dann auch wieder den lockenden, offenen Blick der Porträtierten.
      Es ist ein durch und durch privates Bild von Rubens, nur für sich gemalt bzw. für sich und seine junge Ehefrau, der er es dann auch testamentarisch vererbt hat, damit es nicht in die Erbmasse eingeht. Eine derart erotisierte Darstellung gibt es meines Wissens bei Rembrandt nur in der Grafik (und dort dann auch wesentlich derber), aber nicht in der Ölmalerei.

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  4. Auf den Darstellungen von Rembrandts Frau oder seinen Frauen wird eine emotionale Beziehung spürbar. Sie repräsentieren nicht nur einen gesellschaftlichen Status wie Maddalena Doni, die als "gute Schöne" keine Gefühle zeigen darf. Deshalb erwähnte ich diese Gemälde.

    Rubens Ehefrau guckt auch nicht herausfordernd direkt, sondern durchaus zurückhaltend. Aber um ihren Mund spielt ein Zug, der erahnen lässt, dass sie Freude und Lust empfinden kann.

    Viele Grüße

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  5. Ja, man kann den Unterschied zwischen diesen Bildern auch an der Frage nach dem Betrachter festmachen: Wo wurden sie aufgehängt? Wer konnte/sollte sie sehen? Je weniger Öffentlichkeit angestrebt war, desto "natürlicher" und erotischer konnte die Frau gezeigt werden.

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