Donnerstag, 17. Mai 2012

Die Leiden des schönen Sebastian – Rubens’ Märtyrerbild aus der Berliner Gemäldegalerie

Peter Paul Rubens: Hl. Sebastian (1618), Berlin, Gemäldegalerie
Der römische Offizier Sebastian gehört zu den bekanntesten christlichen Märtyrern und meistverehrten katholischen Heiligen. Kaiser Diokletian ließ ihn wegen seines christlichen Glaubens an einen Baum binden und durch numidische Bogenschützen hinrichten – was der Soldat jedoch, so die Legende, durch ein Wunder Gottes überlebte. Irene, eine junge Witwe, wollte den Toten bestatten, fand ihn aber lebend vor und pflegte ihn gesund. Als Sebastian den Kaiser öffentlich der Christenverfolgung beschuldigte, ließ dieser ihn schließlich zu Tode peitschen und in die Cloaca Maxima werfen, den größten Abwasserkanal Roms. 
Das 1618 entstandene Gemälde des flämischen Barockmalers Peter Paul Rubens (1577–1640) zeigt das Pfeilmartyrium Sebastians. Nur mit einem Lendenschurz bekleidet, wird er als lebensgroße (200 x 128 cm) und nahezu die volle Höhe des Bildfeldes einnehmende Aktfigur gezeigt. Die muskulöse Gestalt ist an einen Baum gefesselt, von dessem Stamm und dunklen Blattwerk sich der helle Körper deutlich abhebt. Der in der rechten Bildhälfte sichtbare Horizont liegt so tief, dass der Betrachter zu dem hoch aufragenden Märtyrer aufschaut.
Rubens hat in diesem Bild Erfahrungen seines Italien-Aufenthaltes verarbeitet. Im Mai 1600 war er in den Süden aufgebrochen und hatte dort schon bald von sich reden gemacht. Wenige Monate nach seiner Ankunft in Italien trat er bereits als Maler in den Dienst Vincenzo I. Gonzagas, des Herzogs von Mantua. Von den zahlreichen künstlerischen Arbeiten, die Rubens damals ausführte, ist wenig erhalten geblieben. Doch Rubens war offensichtlich in dieser Zeit nicht nur als Maler für den Herzog tätig, sondern auch als Kunstagent, der Gemälde begutachtete und erwarb. In dieser Funktion reiste er im August 1601 nach Rom, um Kunstwerke zu kaufen und in den vatikanischen Sammlungen Gemälde zu kopieren. Rubens nutzte diesen Aufenthalt für ein intensives Studium der antiken und zeitgenössischen Kunst. Er zeichnete nach antiken Werken, aber auch nach Bildern und Skulpturen der Hochrenaissance, von Raffael und Michelangelo. Besonders intensiv hat sich Rubens in dieser Zeit mit der Laokoon-Gruppe beschäftigt, der er zahlreiche Zeichnungen widmete. 
Laokoon-Gruppe, Rom, Vatikanische Museen
Als er nach Rom kam, war diese 1506 entdeckte Skulpturengruppe das bei weitem berühmteste Zeugnis antiker Bildhauerkunst und seither künstlerisches Leitbild. Vor allem die eindringliche Schilderung körperlichen Leidens galt als vorbildlich. Stärker als alle Künstler vor ihm war Rubens bemüht, die affektstarken Figuren in bewegende Bilder umzusetzen. Vor allem zeichnete Rubens „die Statuen schon vor Ort mit Blick auf die inhärenten Möglichkeiten einer Verwendung der gewonnenen Motive in verschiedenen Zusammenhängen“ (Büttner 2007, S. 20).
Eine von Rubens’ Zeichnungen der Laokoon-Gruppe
Das Bild des Laokoon ruft Rubens’ Sebastian denn auch nicht nur durch seine Körperlichkeit wach, sondern vor allem durch das Leidensmotiv des sich aus leichter Hüftdrehung empordrängenden Oberkörpers.
Sterbender Alexander; Florenz, Uffizien
Eine Zeichnung Rubens’ nach dem Sterbenden Alexander
Die Gesichtszüge des Heiligen erinnern deutlich an den Sterbenden Alexander, einen hellenistischen Marmorkopf, den Rubens ebenfalls gezeichnet hat. Die Büste wurde Künstlern als „exemplum doloris“ empfohlen, als Vorbild für die Gestaltung von extremem Schmerz und Kummer. 
Michelangelo: Sterbender Sklave, unvollendet; Paris, Louvre
Und Rubens hatte offensichtlich auch Michelangelos prigione nicht vergessen – eine unvollendete Skulptur, die vielfach Sterbender Sklave genannt wird, ebenfalls den Einfluss der Laokoon-Gruppe zeigt und sich heute im Louvre befindet. (Michelangelo war 1506 einer der Ersten, die das antike Meisterwerk bewundern konnten.)
Andrea Mantegna: Hl. Sebastian (1459/60); Wien, Kunsthistorisches Museum
Der Kontrapost von Rubens’ Sebastian (die Balance von tragendem Stand- und entlastendem Spielbein) verweist wiederum auf den kleinfigurigen Wiener Sebastian von Andrea Mantegna (1459/60; 68 x 30 cm), und Otto von Simson scheint „die heroische Auffassung der Gestalt vor der abendlichen Landschaft kaum denkbar ohne Tizians großes Vorbild in der Eremitage“ (Simson 1996, S. 220). Die Details der Landschaft sind bei Tizian allerdings kaum ausgearbeitet; und im Gegensatz zu Rubens wählt Tizian die Statue des Apoll vom Belvedere als Vorbild für seinen Sebastian (siehe meinen Post Der Apoll vom Belvedere“), während andererseits die Gesichtszüge an den älteren der Laokoon-Söhne erinnern, vor allem durch den nach hinten gebogenen Kopf, die Augenbrauen, die die Nasenwurzel berühren, und den halbgeöffneten Mund.
Tizian: Hl. Sebastian (um 1570); Eremitage, St. Petersburg
Die überaus zahlreichen Sebastian-Darstellungen in der abendländischen Kunst verdanken sich vor allem der kontinuierlichen Präsenz der Pest in Europa seit der großen Epidemie von 1348. Denn Sebastian wurde wie Rochus, Cosmas und Damian als Pestheiliger verehrt und angerufen, weil die Pfeile seines Martyriums als Symbole für diese Seuche galten. Oft wird der Heilige auf diesen Gemälden mit einem besonders schönen, erotisch anziehenden Körper präsentiert. Das kann heutige Betrachter regelrecht irritieren: Sollte es sich wirklich um einen Heiligen handeln? Doch Sebastians Sinnlichkeit beweist geradezu, dass er wirklich lebt. Vor allem ist er durch die Makellosigkeit seines Leibes ein Gegenbild zu dem von der Pest befallenen Körper. Sebastian, der das Pfeilmartyrium durch ein Wunder Gottes überlebt hat, wird „zu einem Versprechen, dass die Gläubigen, selbst wenn sie am schwarzen Tod sterben müssen, einen zeitlosen, überirdischen, makellosen Körper bekommen“ (Bohde 2004, S. 92). 


Literaturhinweise
Bohde, Daniela: Ein Heiliger der Sodomiten? Das erotische Bild des Hl. Sebastian im Cinquecento. In: Mechthild Fend/Marianne Koos (Hrsg.), Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit. Böhlau Verlag, Köln 2004, S. 79-98;
Büttner, Nils: Rubens. Verlag C.H. Beck, München 2007;
Marshall, Louise: Manipulating the Sacred: Image and Plague in Renaissance Italy. In: Renaissance Quarterly 47 (1994), S. 485-532;
Prochno, Renate: Die einseitige Konkurrenz: Antonis van Dyck und Peter Paul Rubens. In: Renate Prochno, Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen. Akademie Verlag, Berlin 2006, S. 127-154;
Simson, Otto von: Peter Paul Rubens (1577–1640). Humanist, Maler und Diplomat. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1996. 

(zuletzt bearbeitet am 30. November 2020)

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