Pieter Bruegel d.Ä.: Kreuztragung (1564); Wien, Kunsthistorisches Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Vorne
links zwingen Henkersknechte den sich sträubenden Simon von Kyrene, das Kreuz
für Christus zu tragen. Seine Frau steht ihm energisch zur Seite; zu ihren Füßen hat sie einen großen Krug und ein an den Beinen gebundenes Lamm abgelegt, um eingreifen zu können. Allerdings haben vermutlich
zwei Plünderer, die in unterschiedliche Richtungen mit weißen Säcken
davonrennen, die Situation bereits schamlos ausgenutzt. Menschen treten zurück,
und ein Berittener macht den Weg frei, damit der Widerspenstige zu Jesus
geschleift werden kann. Für alle Umstehenden ist diese Streitszene interessanter als der
gestürzte Christus.
Durch das Spalier von Schaulustigen und Soldaten schafft es der Maler trotz
jahrmarktartigen Andrangs, die beiden Figurengruppen aufeinander zu beziehen.
Im Schnittpunkt der Diagonalen |
Ein Spektakel, das keiner verpassen will |
Der Himmel im oberen Viertel des Bildes ist am linken Bildrand noch licht und blau, etwa in der Mitte beginnen sich Wolken zu bilden. Zuerst sind sie noch weiß, auf der rechten Seite haben sich dann bedrohlich dunkle Wolken zusammengezogen. Sie deuten die Finsternis an, die nach den Evangelien um die Mittagsstunde einsetzen wird (so etwa Matthäus 27,45). Raben als Todesboten gleiten über den Himmel. Zusammen mit der beginnenden Dunkelheit, den Gewitterwolken und dem bald einsetzenden Sturm in der rechten oberen Bildhälfte künden sie von einem Unheil, dass sich in den insgesamt neunzehn Galgen in diesem Bereich konkretisiert.
Im Vordergrund eine „Beweinung Christi“ |
Die Gruppe der Trauernden ist „gotisiert“ dargestellt,
also in einer mittelalterlichen Figurensprache gemalt, als wäre sie der
religiösen Vorstellungswelt des 15. Jahrhunderts entnommen. Sie sind – quasi
als Bild im Bild – zitierte Vergangenheit und damit Anklage gegen die
Glaubensvergessenheit der gegenwärtigen Zeit, die von der in zeitgenössischer
Kleidung dargestellten Menschenmenge verkörpert wird. Maria, Johannes und die
anderen weinenden Frauen wissen offenbar als Einzige, was dort im Hintergrund
tatsächlich vor sich geht. Nirgendwo sonst in Bruegels Bild sind tiefgehende
Anteilnahme oder das Bewusstsein von der welt- und heilsgeschichtlichen
Bedeutung dieser Kreuztragung erkennbar. Und gerade diese Gegenüberstellung
macht deutlich, wie unangemessen die Fröhlichkeit derer ist, die lärmend zum
Richtkreis stürmen. Damit wird der weltliche Charakter des dargestellten
Menschenzuges sehr eindringlich betont.
Fast schon kafkaesk: die Mühle auf einem steilen Felsen |
Die Plattform, auf der die Windmühle steht, erinnert an ein überdimensionales Rad. „Das Motiv des Rades oder Kreises findet sich an verschiedenen Stellen im Bild und ist somit prägende Form der Komposition und Bedeutungsträger zugleich“ (Gerth 2010, S. 177). Weitere Kreise sind das bereits erwähnte Rad des Galgens am äußersten rechten Bildrand und das Rund der Schaulustigen um die Hinrichtungsstätte sowie die Anordnung der Reiter rechts neben dem Mühlenfelsen. Es ist aber vor allem die Kreisbewegung der gesamten Komposition, die Julia Gerth besonders ins Auge fällt: „Der Windmühlen-Fels markiert gleichsam der Nabe eines Rades das Zentrum dieses grundlegenden Bewegungsmusters. Denn denkt man die auffällige bogenförmige Schwenkbewegung des Menschenzuges von links nach rechts zu Ende, so schließt sie sich zu einem Kreis rund um die Windmühle“ (Gerth 2010, S. 177).
Das Treiben der Menschen ändert sich durch die Jahrhunderte nicht wesentlich, es wiederholt sich immerzu, scheint der Maler uns sagen zu wollen. Sie haben nur ihre Beschäftigungen, ihren Zeitvertreib, ihre Vergnügungen im Sinn, die heute wie morgen die gleichen sind. Wie damals, zu neutestamentlicher Zeit, erkennen die Menschen auch heute nicht, wie nah ihnen das Heil ist; sie beachten es nicht und haben nur Augen für das angekündigte Spektakel. Das eigentlich Bedeutsame nehmen die Menschen nicht wahr. Nur die compassio-Gruppe auf ihrem erhöhten Plateau ist diesem Kreislauf entzogen. „Sie befindet sich außerhalb des »Mühlrades«, das durch Landschaft und Bewegung gebildet wird und das jene Menschen, die für das heilsgeschichtlich Entscheidende blind sind, zermalmen wird“ (Gerth 2010, S. 178). Aber auch der Blick des Betrachters verharrt nicht auf dem gestürzten Erlöser. Denn er folgt beinahe unweigerlich dem Zug der Soldaten nach Golgatha, und von einer Szene zur nächsten fortschreitend, lässt er Christus ebenfalls allein. Bruegels Kreuztragung zeigt weniger die körperlichen Leiden Jesu, erkennbar etwa durch Blutstropfen am Dornenkranz und Geißelspuren, als vielmehr seine Einsamkeit inmitten des Menschengewühls, also die seelische Qual, von allen verlassen zu sein. Julia Gerth erkennt darin die Absicht des Malers, im Betrachter eine über die compassio hinausgehende Gefühlsqualität zu wecken, nämlich die compunctio: „Während compassio im herkömmlichen Sinne bedeutet, sich Christus zuzuwenden, um an seinem Leiden teilzuhaben und seinen Tod zu betrauern, bedeutet compunctio, Reue darüber zu empfinden, sich von Christus abgewendet, ihn alleine gelassen und ihm durch die eigenen Sünden Leid zugefügt zu haben“ (Gerth 2010, S. 181).
Auch die beiden Schächer sind mit dabei, anachronistisch von einem Mönch begleitet |
Literaturhinweise
Brückle, Wolfgang/Müller, Jürgen: Der innere Christus. Zur mnemonischen Tradition der Passionsandacht und einer mystischen Vergegnwärtigung des Gekreuzigten bei Pieter Bruegel d.Ä. In: Jörg Jochen Bern (Hrsg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Böhlau Verlag, Wien 2000, S. 605-638;
Gerth, Julia: Wirklichkeit und Wahrnehmung. Hans Memlings Turiner Passion und die Bildgruppe der Passionspanoramen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2010, S. 171-182;
Gerth, Julia: Wirklichkeit und Wahrnehmung. Hans Memlings Turiner Passion und die Bildgruppe der Passionspanoramen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2010, S. 171-182;
Müller, Jürgen: Das Paradox als Bildform.
Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d.Ä. Wilhelm Fink Verlag, München 199,
S. 136-142;
Vöhringer, Christian: Pieter Bruegel 1525/1530–1569.
Könemann Verlag, Köln 1999, S. 70-73.
(zuletzt bearbeitet am 6. März 2021)
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