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Raffael: Madonna d’Orléans; Chantilly, Musée Condé |
Am Katzentisch wurde über italienische Kunst
debattiert. Miss Lasqueti, die einige Jahre in Italien gelebt hatte, sprach. „Das
Merkwürdige an den Madonnen ist dieser besondere Gesichtsausdruck, den sie
haben, weil sie wissen, dass er als junger Mann sterben wird ... trotz aller
Engel, die das Jesuskind umflattern mit ihren blutroten Flämmchen auf dem Kopf.
Das Wissen, das die Madonna besitzt, zeigt ihr die fertige Karte, das Ende
seines Lebens. Es macht gar nichts, dass das Bauernmädchen, das dem Künstler
Modell sitzt, diesen wissenden Blick nicht haben kann. Vielleicht kann der
Maler ihn auch gar nicht malen. Es sind nur wir, die Betrachter, die dieses
Gesicht als eines deuten können, das die Zukunft kennt. Denn was mit ihrem Sohn
geschehen wird, wird die Geschichte liefern. Der Betrachter ist es, der dieses
Leid erkennt.“
Michael Ondaatje
(aus dem Buch „Katzentisch“,
Carl Hanser Verlag, München 2011, S. 223/224)
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