Sonntag, 29. September 2013

Eine Inkunabel der Emanzipation – Paula Modersohn-Beckers „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“


Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag (1906); Bremen,
Kunstsammlungen Böttcherstraße (für die Großansicht einfach anklicken)
Paula Modersohn-Becker (1876–1907) hat mit dem Pinselstiel oder einem Bleistift in die feuchte Farbe gekratzt, wann dieses Selbstporträt von ihr fertiggestellt wurde: „Dies malte ich mit 30 Jahren an meinem 6. Hochzeitstage P.B.“. Es ist somit auf den 15. Mai 1906 zu datieren. Als Paula Modersohn-Becker dieses Bild malte, lebte sie in Paris und glaubte, ihren Ehemann Otto Modersohn endgültig verlassen zu haben, um sich nun ganz der Kunst zu widmen. Ihre Initialen stehen daher – wie einst – für ihren Mädchennamen.
Am Montparnasse hatte sich sie bei ihrem vierten Parisaufenthalt ein Atelier gemietet. Sie wollte, so ihr fester Vorsatz, bis zu ihrem „dreißigsten Jahr“ eine „gute Malerin“ werden, und dafür war sie bereit, die Brücken der Konvention und der materiellen Sicherheit hinter sich abzubrechen.
1876 in Dresden geboren und aufgewachsen in der norddeutschen Hansestadt Bremen, begann Paula Becker dort auf Wunsch des Vaters 1893 eine zweijährige Lehrerinnenausbildung, um gegebenenfalls auf eigenen Füßen stehen zu können. Parallel dazu erhielt sie Zeichen- und Malunterricht. Zu Hause saßen ihr Familienmitglieder oder Besucher Modell; am geduldigsten harrte jedoch ihr eigenes Spiegelbild aus: Ihr erstes überliefertes Selbstbildnis stammt aus dem Frühjahr 1893. Mit dem Realismus der frühen Zeichnungen beeindruckte die Siebzehnjährige ihre Eltern, die die Ernsthaftigkeit von Paulas Bemühungen erkannten. Nachdem die junge Frau 1895 in einer Ausstellung der Kunsthalle Bremen erstmals Werke aus der Worpsweder Künstlerkolonie gesehen hatte, reifte ihr Entschluss, Malerin zu werden. Ab 1896 besuchte sie deswegen die Zeichen- und Malschule des „Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin“: Es handelte sich um eine der wenigen professionellen Ausbildungsstätten für Künstlerinnen in Deutschland. Denn zu jener Zeit wurde Frauen der Zutritt zu den Kunstakademien noch verwehrt, da ihnen das Aktzeichnen untersagt war.
In Berlin lebte Paula Becker auf, arbeitete wie besessen, besuchte Museen und die Ausstellungen der aufstrebenden Galerien. In Berlin hatte sie auch Gelegenheit, Werke der französischen Impressionisten zu sehen. Ein Familienausflug brachte sie im Sommer 1897 erstmals in das nahe Bremen gelegene Worpswede. Spontan beschloss sie, hier ihre Ferien zu verbringen. Die Begegnung mit den Malern der Künstlerkolonie – Fritz Mackensen, Hans am Ende, Otto Modersohn, Fritz Overbeck und Heinrich Vogeler – weckte bei ihr Begeisterung für die flirrenden Farben der Freilichtmalerei.
Nach ihrer zweijährigen Ausbildung in Berlin und der anschließenden Zeit in Worpswede reiste Paula Modersohn-Becker in der Neujahrsnacht 1900 zum ersten Mal zu einem längeren Aufenthalt nach Paris. Für Künstler aus ganz Europa war die französische Hauptstadt seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Nabel der Welt geworden. „Hatte in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch eine Reise in die Länder des klassischen Altertums, Italien oder Griechenland, zu den Höhepunkten eines Künstlerlebens gezählt, so waren Arkadien und das Land der Griechen seit den Tagen des Impressionismus von Montmartre und Montparnasse abgelöst worden“ (Stamm 2010, S. 11). Für Künstlerinnen galt dies umso mehr, als sich in ganz Europa herumgesprochen hatte, dass die privaten Kunstakademien hervorragende Ausbildungsmöglichkeiten boten, von denen in Deutschland noch lange nicht die Rede sein konnte.
Drei Jahre später, im Februar 1903, kurz nach ihrem 27. Geburtstag, traf Paula Modersohn-Becker ein zweites Mal in Paris ein, nun als gereifte Malerin und Ehefrau: 1901 hatte sie den bereits erfolgreichen und elf Jahre älteren Worpsweder Maler Otto Modersohn geheiratet.
Mumienporträts aus Fayum
Wieder besichtigte sie fast täglich den Louvre. In jenen Tagen muss sie dort auf die Mumienporträts aus der römischen Zeit Ägyptens gestoßen sein, die sie sehr beeindruckten und künstlerisch nachhaltig beeinflussten. Es handelt sich dabei um Porträts von Ägypterinnen und Ägyptern aus dem 1. bis 4. Jahrhundert nach Christus, die im Wesentlichen auf das Gesicht begrenzt sind. Diese Porträts von Lebenden wurden für deren Bestattung angefertigt: Man wickelte die Holztafeln in der Regel in die Mumienumhüllung ein, manchmal wurden die Bildnisse auch direkt auf die Umhüllung gemalt.
Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis mit Kette (1903); Bremen,
Kunsthalle
Zu Paula Modersohn-Beckers frühesten von dieser Begegnung mit antiken Mumienporträts inspirierten Gemälden gehört das Selbstbildnis mit Kette. Bildausschnitt und Format sind wie bei den Mumienbildnissen auf das frontal gezeigte Gesicht der Künstlerin beschränkt, das von einem Sockel aus Hals, Kragen der weißen Bluse und schmalem Ausschnitt des Brust- und Schulteransatzes getragen wird. Der Blick ist ins Unbestimmte gerichtet, der Hintergrund bleibt ohne Tiefendimension.
1905 reiste Paula Modersohn-Becker ein drittes Mal nach Paris, erneut mit dem Einverständnis ihres Mannes. „Für Paula Modersohn-Becker waren Paris und die hier mögliche Auseinandersetzung mit den künstlerischen Avantgarden zu einem integralen Bestandteil ihrer künstlerischen Entwicklung geworden, auf den sie nicht mehr verzichten wollte“ (Stamm 2010, S. 19). Folgerichtig brach sie daher am 23. Februar 1906 abermals von Wopswede nach Paris auf. Hatte sie die erste Reise nach Paris im Jahr 1900 noch als junge Studierende angetreten und für die Aufenthalte der Jahre 1903 und 1905 als verheiratete Frau die Unterstützung ihres Mannes gefunden, so stand diese Reise unter gänzlich anderen Vorzeichen: Enttäuscht und desillusioniert von der Kinderlosigkeit ihrer Ehe und gelangweilt von der eintönigen Beschaulichkeit der dörflichen Künstlerkolonie, entschloss sie sich im Februar 1906, ihren Mann und Worpswede für immer zu verlassen. In Paris wollte sie sich nun allein niederlassen, um sich ganz ihrer Kunst zu widmen.
In diesem Frühjahr entstand ein revolutionäres Bild – das eingangs erwähnte lebensgroße Selbstporträt. Es handelt sich um ein „Kniestück“ (die dargestellte Person wird bis zu den Knien gezeigt); Paula Modersohn-Becker steht in leichter Rechtsdrehung vor uns, während sie forsch und doch fragend den Blick auf den Betrachter richtet. Körpersprache und Farbauftrag erinnern noch an die jüngste Worpsweder Vergangenheit, allerdings werden dunkel leuchtende Töne jetzt durch helle, der impressionistischen Palette angenäherte Farben ersetzt; „sie nehmen, wenn man von den geröteten Händen absieht, etwas von jener ländlichen Schwere, die ihre Aktdarstellungen sonst bestimmte“ (Berger 2015, S. 137).  
Unter dem gewölbten Bauch hat Paula Modersohn-Becker ein weißes Tuch um die Hüften geschlungen. Der Oberkörper ist nackt, um den Hals trägt sie eine Bernsteinkette. Der Hintergrund des Bildes zeigt keinen Raum, sondern strahlt in einer zitronigen Farbigkeit, die von grünen Tupfen aufgelockert wird. Die Hände umrahmen den Unterbauch. Oft ist diese Haltung als Verweis auf Paula Modersohn-Beckers persönliche Verwundung gedeutet worden: Frau und, selbst am sechsten Hochzeitstag, noch immer nicht Mutter zu sein. Doch „eher verweisen die Hände metaphorisch auf die doppelte, elementare Schaffenskraft von Frau und Künstlerin“ (Stamm 2006): Sie allein ist imstande, zu gebären und im künstlerischen Sinne schöpferisch zu sein.
Albrecht Dürer: Selbstporträt als Kranker (um 1512/13); Bremen, Kunsthalle
Die kunsthistorische Besonderheit dieses Porträts besteht darin, dass es sich hier wohl um den ersten Selbstakt einer Frau handeln dürfte. Albrecht Dürer hatte sich in einem Selbstbildnis um 1512/13 als Kranken gezeichnet, der mit dem Finger auf die schmerzende Stelle an der linken Seite zeigt. Dieses Blatt, das sich bis 1943 in der Bremer Kunsthalle befand, hat Paula Modersohn-Becker sicherlich gekannt.
Victor Emil Janssen: Selbstbildnis vor der Staffelei (1829); Hamburg, Kunsthalle
Auch der Hamburger Maler Victor Emil Janssen porträtierte sich selbst um 1829 als Halbakt. Auf seinem Selbstbildnis vor der Staffelei, vor blaßgrün leuchtendem Hintergrund, fixiert er wie später Paula Modersohn-Becker den Betrachter; wie sie hat er den Oberkörper entkleidet, als Tuch hängt ihm das Hemd locker von den Hüften. Paula Modersohn-Becker konnte das Bild 1906 auf der „Ausstellung Deutscher Kunst aus der Zeit von 1775-1875“ in Berlin sehen.
Dass sich jedoch eine Frau lebensgroß selbst als Akt präsentiert, war bis 1906 undenkbar. Die nackte Frau war bis dahin Modell, ein Studienobjekt männlicher Maler, oft genug als erotische Augenweide für die ebenfalls männlichen Betrachter gedacht. Paula Modersohn-Becker hat diese Regel durchbrochen. In einer Situation am Scheideweg zwischen Kunst und Familie, Paris und Worpswede, an der Zeitenwende zwischen dem 19. Jahrhundert und den Avantgarden der Moderne malt sie sich selbstbewusst als neue Frau: als Künstlerin.
Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis als Halbakt mit Bernsteinkette II (1906); Basel,
Kunstmuseum
Paula Modersohn-Becker hat im Sommer 1906 in Paris noch weitere Selbstakte geschaffen. Zu den bekanntesten Varianten gehört der Halbakt mit Bernsteinkette II im Kunstmuseum Basel. Wahrscheinlich hat zu Lebzeiten der Malerin kein anderer als sie selbst ihre Selbstbildnisse gesehen. Die Rezeption dieser Gemälde setzte erst nach dem Tod Paula Modersohn-Beckers am 20. November 1907 ein, als ihr Nachlass gesichtet wurde. Die Künstlerin hat ein beeindruckendes Werk hinterlassen: Ab 1893 entstanden in gerade einmal 15 Jahren rund 750 Gemälde, dazu Hunderte von Zeichnungen, bevor sie mit 31 Jahren starb, wenige Tage nach der Geburt ihrer Tochter, ihres ersten und einzigen Kindes.

Literaturhinweise
Berger, Renate: Ins Zentrum der Moderne. Paula Modersohn-Beckers und die Rezeption von Künstlerinnen. In: Kristin Marek/Martin Schulz (Hrsg.), Kanon Kunstgeschichte III. Einführung in Werke, Methoden und Epochen. Moderne. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015, S. 134-151; 
Bergmann, Verena/Laukötter, Frank (Hrsg.): Sie. Selbst. Nackt. Paula Modersohn-Becker und andere Künstlerinnen im Selbstakt. Verlag Hatje Cantz, Ostfidlern 2013, S. 36-39;
Hansmann, Doris: Akt und nackt: Der ästhetische Aufbruch um 1900 mit Blick auf die Selbstakte von Paula Modersohn-Becker. VDG, Weimar 2000;
Poeschel, Sabine: Starke Männer – schöne Frauen. Die Geschichte des Aktes. WBG, Darmstadt 2014, S. 145-147;
Stamm, Rainer: Nahmst dich heraus aus deinen Kleidern. In: F.A.Z. vom 12. Mai 2006;
Stamm, Rainer: Paula Modersohn-Becker. Leben und Werk im Spiegel ihrer Selbstporträts. In: Rainer Stamm/Hans-Peter Wipplinger (Hrsg.), Paula Modersohn-Becker. Pionierin der Moderne. Hirmer Verlag, München 2010, S. 9-24.

(zuletzt bearbeitet am 19. Oktober 2023)