Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag (1906); Bremen, Kunstsammlungen Böttcherstraße (für die Großansicht einfach anklicken) |
Paula Modersohn-Becker (1876–1907) hat mit dem Pinselstiel
oder einem Bleistift in die feuchte Farbe gekratzt, wann dieses Selbstporträt
von ihr fertiggestellt wurde: „Dies malte ich mit 30 Jahren an meinem 6.
Hochzeitstage P.B.“. Es ist somit auf den 15. Mai 1906 zu datieren. Als Paula
Modersohn-Becker dieses Bild malte, lebte sie in Paris und glaubte, ihren
Ehemann Otto Modersohn endgültig verlassen zu haben, um sich nun ganz der Kunst
zu widmen. Ihre Initialen stehen daher – wie einst – für ihren Mädchennamen.
Am Montparnasse hatte sich sie bei ihrem vierten
Parisaufenthalt ein Atelier gemietet. Sie wollte, so ihr fester Vorsatz, bis zu
ihrem „dreißigsten Jahr“ eine „gute Malerin“ werden, und dafür war sie bereit,
die Brücken der Konvention und der materiellen Sicherheit hinter sich
abzubrechen.
1876 in Dresden geboren und aufgewachsen in der
norddeutschen Hansestadt Bremen, begann Paula Becker dort auf Wunsch des Vaters
1893 eine zweijährige Lehrerinnenausbildung, um gegebenenfalls auf eigenen
Füßen stehen zu können. Parallel dazu erhielt sie Zeichen- und Malunterricht.
Zu Hause saßen ihr Familienmitglieder oder Besucher Modell; am geduldigsten harrte
jedoch ihr eigenes Spiegelbild aus: Ihr erstes überliefertes Selbstbildnis
stammt aus dem Frühjahr 1893. Mit dem Realismus der frühen Zeichnungen
beeindruckte die Siebzehnjährige ihre Eltern, die die Ernsthaftigkeit von
Paulas Bemühungen erkannten. Nachdem die junge Frau 1895 in einer Ausstellung
der Kunsthalle Bremen erstmals Werke aus der Worpsweder Künstlerkolonie gesehen
hatte, reifte ihr Entschluss, Malerin zu werden. Ab 1896 besuchte sie deswegen
die Zeichen- und Malschule des „Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen
zu Berlin“: Es handelte sich um eine der wenigen professionellen
Ausbildungsstätten für Künstlerinnen in Deutschland. Denn zu jener Zeit wurde
Frauen der Zutritt zu den Kunstakademien noch verwehrt, da ihnen das Aktzeichnen
untersagt war.
In Berlin lebte Paula Becker auf, arbeitete wie
besessen, besuchte Museen und die Ausstellungen der aufstrebenden Galerien. In
Berlin hatte sie auch Gelegenheit, Werke der französischen Impressionisten zu
sehen. Ein Familienausflug brachte sie im Sommer 1897 erstmals in das nahe
Bremen gelegene Worpswede. Spontan beschloss sie, hier ihre Ferien zu
verbringen. Die Begegnung mit den Malern der Künstlerkolonie – Fritz Mackensen,
Hans am Ende, Otto Modersohn, Fritz Overbeck und Heinrich Vogeler – weckte bei
ihr Begeisterung für die flirrenden Farben der Freilichtmalerei.
Nach ihrer zweijährigen Ausbildung in Berlin und
der anschließenden Zeit in Worpswede reiste Paula Modersohn-Becker in der
Neujahrsnacht 1900 zum ersten Mal zu einem längeren Aufenthalt nach Paris. Für
Künstler aus ganz Europa war die französische Hauptstadt seit dem letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts zum Nabel der Welt geworden. „Hatte in der ersten
Hälfte des Jahrhunderts noch eine Reise in die Länder des klassischen Altertums,
Italien oder Griechenland, zu den Höhepunkten eines Künstlerlebens gezählt, so
waren Arkadien und das Land der Griechen seit den Tagen des Impressionismus von
Montmartre und Montparnasse abgelöst worden“ (Stamm 2010, S. 11). Für
Künstlerinnen galt dies umso mehr, als sich in ganz Europa herumgesprochen
hatte, dass die privaten Kunstakademien hervorragende Ausbildungsmöglichkeiten
boten, von denen in Deutschland noch lange nicht die Rede sein konnte.
Drei Jahre später, im Februar 1903, kurz nach
ihrem 27. Geburtstag, traf Paula Modersohn-Becker ein zweites Mal in Paris ein,
nun als gereifte Malerin und Ehefrau: 1901 hatte sie den bereits erfolgreichen
und elf Jahre älteren Worpsweder Maler Otto Modersohn geheiratet.
Mumienporträts aus Fayum |
Wieder besichtigte sie fast täglich den Louvre.
In jenen Tagen muss sie dort auf die Mumienporträts aus der römischen Zeit
Ägyptens gestoßen sein, die sie sehr beeindruckten und künstlerisch nachhaltig
beeinflussten. Es handelt sich dabei um Porträts von Ägypterinnen und Ägyptern aus dem 1. bis 4. Jahrhundert nach Christus, die im Wesentlichen auf das Gesicht
begrenzt sind. Diese Porträts von Lebenden wurden für deren Bestattung
angefertigt: Man wickelte die Holztafeln in der Regel in die Mumienumhüllung
ein, manchmal wurden die Bildnisse auch direkt auf die Umhüllung gemalt.
Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis mit Kette (1903); Bremen, Kunsthalle |
Zu Paula Modersohn-Beckers frühesten von dieser Begegnung mit
antiken Mumienporträts inspirierten Gemälden gehört das Selbstbildnis mit
Kette. Bildausschnitt und Format sind wie bei den Mumienbildnissen auf das
frontal gezeigte Gesicht der Künstlerin beschränkt, das von einem Sockel aus
Hals, Kragen der weißen Bluse und schmalem Ausschnitt des Brust- und
Schulteransatzes getragen wird. Der Blick ist ins Unbestimmte gerichtet, der
Hintergrund bleibt ohne Tiefendimension.
1905 reiste Paula Modersohn-Becker ein drittes
Mal nach Paris, erneut mit dem Einverständnis ihres Mannes. „Für Paula
Modersohn-Becker waren Paris und die hier mögliche Auseinandersetzung mit den
künstlerischen Avantgarden zu einem integralen Bestandteil ihrer künstlerischen
Entwicklung geworden, auf den sie nicht mehr verzichten wollte“ (Stamm 2010, S.
19). Folgerichtig brach sie daher am 23. Februar 1906 abermals von Wopswede nach
Paris auf. Hatte sie die erste Reise nach Paris im Jahr 1900 noch als junge
Studierende angetreten und für die Aufenthalte der Jahre 1903 und 1905 als
verheiratete Frau die Unterstützung ihres Mannes gefunden, so stand diese Reise
unter gänzlich anderen Vorzeichen: Enttäuscht und desillusioniert von der
Kinderlosigkeit ihrer Ehe und gelangweilt von der eintönigen Beschaulichkeit
der dörflichen Künstlerkolonie, entschloss sie sich im Februar 1906, ihren Mann
und Worpswede für immer zu verlassen. In Paris wollte sie sich nun allein
niederlassen, um sich ganz ihrer Kunst zu widmen.
In diesem Frühjahr entstand ein revolutionäres
Bild – das eingangs erwähnte lebensgroße Selbstporträt. Es handelt sich um ein „Kniestück“ (die dargestellte Person wird bis zu den Knien gezeigt); Paula Modersohn-Becker steht in leichter Rechtsdrehung vor uns, während sie forsch und doch fragend
den Blick auf den Betrachter richtet. Körpersprache und Farbauftrag erinnern noch an die jüngste Worpsweder Vergangenheit, allerdings werden dunkel leuchtende Töne jetzt durch helle, der impressionistischen Palette angenäherte Farben ersetzt; „sie nehmen, wenn man von den geröteten Händen absieht, etwas von jener ländlichen Schwere, die ihre Aktdarstellungen sonst bestimmte“ (Berger 2015, S. 137).
Unter dem gewölbten Bauch hat Paula Modersohn-Becker ein weißes Tuch um die Hüften geschlungen. Der Oberkörper ist nackt, um den Hals trägt sie eine Bernsteinkette. Der Hintergrund des Bildes zeigt keinen Raum, sondern strahlt in einer zitronigen Farbigkeit, die von grünen Tupfen aufgelockert wird. Die Hände umrahmen den Unterbauch. Oft ist diese Haltung als Verweis auf Paula Modersohn-Beckers persönliche Verwundung gedeutet worden: Frau und, selbst am sechsten Hochzeitstag, noch immer nicht Mutter zu sein. Doch „eher verweisen die Hände metaphorisch auf die doppelte, elementare Schaffenskraft von Frau und Künstlerin“ (Stamm 2006): Sie allein ist imstande, zu gebären und im künstlerischen Sinne schöpferisch zu sein.
Unter dem gewölbten Bauch hat Paula Modersohn-Becker ein weißes Tuch um die Hüften geschlungen. Der Oberkörper ist nackt, um den Hals trägt sie eine Bernsteinkette. Der Hintergrund des Bildes zeigt keinen Raum, sondern strahlt in einer zitronigen Farbigkeit, die von grünen Tupfen aufgelockert wird. Die Hände umrahmen den Unterbauch. Oft ist diese Haltung als Verweis auf Paula Modersohn-Beckers persönliche Verwundung gedeutet worden: Frau und, selbst am sechsten Hochzeitstag, noch immer nicht Mutter zu sein. Doch „eher verweisen die Hände metaphorisch auf die doppelte, elementare Schaffenskraft von Frau und Künstlerin“ (Stamm 2006): Sie allein ist imstande, zu gebären und im künstlerischen Sinne schöpferisch zu sein.
Albrecht Dürer: Selbstporträt als Kranker (um 1512/13); Bremen, Kunsthalle |
Die kunsthistorische Besonderheit dieses Porträts
besteht darin, dass es sich hier wohl um den ersten Selbstakt einer Frau
handeln dürfte. Albrecht Dürer hatte sich in einem Selbstbildnis um 1512/13 als
Kranken gezeichnet, der mit dem Finger auf die schmerzende Stelle an der linken
Seite zeigt. Dieses Blatt, das sich bis 1943 in der Bremer Kunsthalle befand,
hat Paula Modersohn-Becker sicherlich gekannt.
Victor Emil Janssen: Selbstbildnis vor der Staffelei (1829); Hamburg, Kunsthalle |
Auch der Hamburger Maler Victor Emil Janssen
porträtierte sich selbst um 1829 als Halbakt. Auf seinem Selbstbildnis vor der
Staffelei, vor blaßgrün leuchtendem Hintergrund, fixiert er wie später Paula
Modersohn-Becker den Betrachter; wie sie hat er den Oberkörper entkleidet, als
Tuch hängt ihm das Hemd locker von den Hüften. Paula Modersohn-Becker konnte
das Bild 1906 auf der „Ausstellung Deutscher Kunst aus der Zeit von 1775-1875“
in Berlin sehen.
Dass sich jedoch eine Frau lebensgroß selbst als
Akt präsentiert, war bis 1906 undenkbar. Die nackte Frau war bis dahin Modell,
ein Studienobjekt männlicher Maler, oft genug als erotische Augenweide für die
ebenfalls männlichen Betrachter gedacht. Paula Modersohn-Becker hat diese Regel
durchbrochen. In einer Situation am Scheideweg zwischen Kunst und Familie,
Paris und Worpswede, an der Zeitenwende zwischen dem 19. Jahrhundert und den
Avantgarden der Moderne malt sie sich selbstbewusst als neue Frau: als
Künstlerin.
Paula Modersohn-Becker: Selbstbildnis als Halbakt mit Bernsteinkette II (1906); Basel, Kunstmuseum |
Paula Modersohn-Becker hat im Sommer 1906 in Paris
noch weitere Selbstakte geschaffen. Zu den bekanntesten Varianten gehört der Halbakt mit Bernsteinkette II im Kunstmuseum Basel. Wahrscheinlich hat zu
Lebzeiten der Malerin kein anderer als sie selbst ihre Selbstbildnisse gesehen. Die
Rezeption dieser Gemälde setzte erst nach dem Tod Paula Modersohn-Beckers am 20. November 1907 ein, als ihr Nachlass gesichtet wurde. Die Künstlerin hat ein beeindruckendes Werk hinterlassen: Ab 1893 entstanden in gerade einmal 15 Jahren rund 750 Gemälde, dazu Hunderte von Zeichnungen, bevor sie mit 31 Jahren starb, wenige Tage nach der Geburt ihrer Tochter, ihres ersten und einzigen Kindes.
Literaturhinweise
Berger, Renate: Ins Zentrum der Moderne. Paula Modersohn-Beckers und die Rezeption von Künstlerinnen. In:
Kristin Marek/Martin Schulz
(Hrsg.), Kanon Kunstgeschichte III. Einführung in Werke, Methoden und Epochen.
Moderne. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015, S. 134-151;
Bergmann, Verena/Laukötter, Frank (Hrsg.): Sie. Selbst. Nackt. Paula Modersohn-Becker und andere Künstlerinnen im Selbstakt. Verlag Hatje Cantz, Ostfidlern 2013, S. 36-39;
Hansmann, Doris: Akt und nackt: Der ästhetische Aufbruch um 1900 mit Blick auf die Selbstakte von Paula Modersohn-Becker. VDG, Weimar 2000;
Poeschel, Sabine: Starke Männer – schöne Frauen. Die Geschichte des Aktes. WBG, Darmstadt 2014, S. 145-147;
Bergmann, Verena/Laukötter, Frank (Hrsg.): Sie. Selbst. Nackt. Paula Modersohn-Becker und andere Künstlerinnen im Selbstakt. Verlag Hatje Cantz, Ostfidlern 2013, S. 36-39;
Hansmann, Doris: Akt und nackt: Der ästhetische Aufbruch um 1900 mit Blick auf die Selbstakte von Paula Modersohn-Becker. VDG, Weimar 2000;
Poeschel, Sabine: Starke Männer – schöne Frauen. Die Geschichte des Aktes. WBG, Darmstadt 2014, S. 145-147;
Stamm, Rainer: Nahmst dich heraus aus deinen
Kleidern. In: F.A.Z. vom 12. Mai 2006;
Stamm, Rainer: Paula Modersohn-Becker. Leben und
Werk im Spiegel ihrer Selbstporträts. In: Rainer Stamm/Hans-Peter Wipplinger
(Hrsg.), Paula Modersohn-Becker. Pionierin der Moderne. Hirmer Verlag, München
2010, S. 9-24.
(zuletzt bearbeitet am 19. Oktober 2023)
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