Montag, 5. Dezember 2022

Victim of Love – „Samson und Delila“ von Peter Paul Rubens


Peter Paul Rubens: Samson und Delila (1609); London, National Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken)
Als Peter Paul Rubens (1577–1640) im Dezember 1608 von seinem neunjährigen Italienaufenthalt nach Antwerpen zurückkehrte, war ihm sein Ruf als begnadeter Maler bereits in seine Heimat vorausgeeilt. Der damals amtierende Außenbürgermeister Nicolaas Rockox wurde sein erster wichtiger Mäzen. Rockox vermittelte Rubens verschiedene Aufträge; so entstand u.a. für die Ausstattung der „Statenkamer“, dem größten Saal im Antwerpener Rathaus, eine prachtvolle Anbetung der Könige (heute im Prado, Madrid). Vermutlich noch im selben Jahr bestellte er ein großformatiges Werk bei Rubens, das für den Platz über dem Kamin im großen Salon seines eleganten Patrizierhauses vorgesehen war. Nur wenige Monate später erhielt er das in üppigen Farben gemalte Bild Samson und Delila, das sich heute in der Londoner National Gallery befindet.
Wir blicken in ein nächtliches Schlafzimmer, das durch mehrere Lichtquellen erleuchtet wird. Delila sitzt links im Vordergrund mit aufrechtem Oberkörper und lang ausgestreckten Beinen auf einem niedrigen Bett. Sie trägt ein scharlachrotes Kleid und einen safrangelben, von ihrem Lager herabhängenden Umhang, „so prächtig und sinnlich wie das blonde Weib selbst“ (Simson 1996, S. 113). Delilas heruntergezogenes weißes Hemd gibt Schultern und Oberkörper frei; ihre üppigen Brüste werden zusätzlich durch ein über den Busen verlaufendes Stoffband betont. Vor der jungen Frau liegt der schlafende Samson auf dem mit einem orientalischen Teppich gepolsterten Bett. Nur mit einem Fellschurz um die Hüften bekleidet, hat er seine Kopf auf die rechte Hand gebettet, die im Schoß seiner Geliebten ruht. Sein linker Arm hängt entspannt über ihrem rechten Knie. Delila blickt auf Samson herab und legt ihm sanft, fast zärtlich die linke Hand auf den muskulösen Rücken, während ein hinter ihm stehender Mann vorsichtig zum ersten Schnitt in seine Locken ansetzt, sorgsam bedacht, den Hünen nicht aufzuwecken. Rubens hält sich dabei eng an die biblische Vorgabe: „Und sie ließ ihn einschlafen in ihrem Schoß und rief einen, der ihm die sieben Locken seines Hauptes abschnitt“ (Richter 16,19; LUT). Delila betrachtet den Mann, der soeben noch ihr Liebhaber gewesen ist, mit einem Blick, „aus dem Liebe und Sinnlichkeit noch nicht ganz entwichen sind“ (Simson 1996, S. 113). Deutlich spürbar ist aber auch ihre Anspannung, ob die „Schur“ vollzogen sein wird, bevor bevor Samson erwacht. Unter dem Kandelaber am linken Bildrand ist die Lehne der Lagerstatt zu erkennen; sie findet ihren Abschluss in einem Eselskopf, der darauf anspielen dürfte, wie töricht sich Samson durch seine Liebesleidenschaft hat blenden lassen. Oder anders gesagt: Delilas erotische Anziehungskraft wird Samson im wahrsten Sinn des Wortes blind machen.

Cormelis Bos: Leda und der Schwan (nach 1537); Stich nach einem verlorenen Gemälde Michelangelos
Für die Haltung der Delila hat Rubens auf Michelangelo und dessen berühmtem Gemälde Leda und der Schwan zurückgegriffen. Das Bild ist nicht erhalten, aber durch zahlreiche Kopien und Stiche überliefert. Auch Rubens hat in seiner Frühzeit eine Leda-Kopie angefertigt, die sich heute in Dresden befindet. Der Rücken des schlafenden Helden wiederum erinnert an ein berühmtes antikes Vorbild, das Rubens in Rom mehrfach gezeichnet hat: den Torso vom Belvedere
Torso vom Belvedere, Zeichnung von Peter Paul Rubens
Rubens fügt der Dreiergruppe noch eine weitere Figur hinzu: Hinter Delila steht eine alte Frau mit zerfurchtem Gesicht und beinahe zahnlosem Mund. Bekleidet mit einem schlichten, bräunlich-grünen Gewand und weißer Haube, leuchtet sie dem Barbier bei seiner Arbeit mit einer Kerze. Dabei schirmt sie die Flamme mit ihrer rechten Hand ab, damit sie nicht durch Zugluft gelöscht wird. Die Alte gehört zum Typus der Kupplerinnen, die in der niederländischen Kunst häufig anzutreffen ist. In der biblischen Erzählung (Richter 16,4-22) ist nicht die Rede davon, dass Delila eine Prostituierte gewesen sei, in den „Antiquitates Judaicae“ (V,8) des Flavius Josephus dagegen wird daran kein Zweifel gelassen. Auch die Venus-und-Cupido-Statuette in der Nische der Holzvertäfelung kann als Hinweis auf das Gewerbe Delilas verstanden werden.
Delilas erotische Reize werden vergehen, sie enden in Runzeln und Zahnlosigkeit
Das Gesicht der jungen Schönheit neben das der runzligen Alten zu setzen, entspricht der damaligen Kunstheorie, in der solche Kontraste als reizvoll empfohlen wurden. Dieses Gestaltungsprinzip, contrapposto genannt, begegnet uns häufig bei Caravaggio, z. B. in seinem Gemälde Judith und Holofernes. Indem Rubens den beiden Frauen trotz des Altersunterschieds mit der geraden Nase, der Form ihrer Augen und dem hervorspringenden Kinn auffällig ähnliche Gesichtszüge verleiht, führt er dem Betrachter das gleiche Antlitz in Jugend und Alter vor Augen. Zum einen erhalten wir auf diese Weise einen Hinweis auf die Vergangenheit der Alten, zum anderen wird so auf Delilas Zukunft angespielt. Darüber hinaus ist die Gegenüberstellung der beiden Köpfe, durch die unmittelbare Nähe und die Ähnlichkeiten besonders frappierend, „zugleich Ausdruck des Vanitasgedankens“ (Ressos 2014, S. 182).
Caravaggio: Judith und Holofernes (1598/99), Rom, Galleria Nazionale dArte Antica
Rechts im Hintergrund lauert eine Gruppe Soldaten vor der geöffneten Tür, einer von ihnen trägt eine Fackel in der Hand, ein anderer, wohl der Anführer, wirft seinen Männern einen erzürnten Blick zu, um sie zu warnen, nur ja keinen Laut von sich zu geben. Zwischen Tür und Wandnische sehen wir noch ein kleines Regal, auf dem sich Glaskaraffen befinden; davor ist ein Dreifuß mit Schale platziert, in der eine reich verzierte Kupferkanne steht. Mit der unregelmäßigen nächtlichen Beleuchtung durch mehrere Lichtquellen berücksichtigt Rubens die tatsächliche Hängung seines Gemäldes über einem Kamin: „So wie die realen Personen abends in diesem Raum durch das Kaminfeuer und somit von unten beleuchtet gewesen sind, zeigt der Künstler auch zahlreiche Bildelemente wie die Kupplerin, die Venusstatue im Hintergrund oder die Soldaten in der Tür des Bildes in flackerndem Schein niedriger Lichtquellen“ (Ressos 2014, S. 183). Beim Einsatz des Lichts ist immer wieder auf den Einfluss von Adam Elsheimer (1578–1610) hingewiesen worden, mit dem Rubens in der gemeinsamen römischen Zeit befreundet war. 
Adam Elsheimer: Philemon und Baucis (1608); Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
(für die Großansicht einfach anklicken)
Es ist ein letzter Augenblick der Ruhe unter dem schweren, gewundenen Stoff des purpurnen Baldachins, an dem wir teilnehmen. Die Spuren sexueller Erregung sind noch deutlich sichtbar, abzulesen an der fließenden feuerroten Seide von Delilas Gewand, der weißen Bluse in Unordnung, „als habe Samson sie in gieriger Ungeduld weggerissen, um sich an ihren üppigen Brüsten zu laben“ (Schama 2000, S. 142). Samson schläft den Schlaf des Befriedigten, die Lippen geöffnet, die Nasenflügel leicht gebläht, die linke Hand entspannt nach innen abgeknickt. Doch die Soldaten im Hintergrund lassen keinen Zweifel: Es wird nicht mehr lange dauern, bis ein Sturm der Gewalt über ihn hereinbricht.
Peter Paul Rubens: Anbetung der Könige (1609); Madrid, Prado (für die Großansicht einfach anklicken)
Die gleich nach seiner Ankunft in Antwerpen geschaffenen Bilder Samson und Delila, die Anbetung der Könige und eine Verkündigung im Kunsthistorischen Museum Wien bezeichnen den Beginn einer neuen Epoche – sie müssen Rubens’ Zeitgenossen überwältigt haben. Mit Rubens beginnt der nordische Barock. Otto von Simson hat die Bedeutung des flämischen Malers wie folgt zusammengefasst: „Er ist der erste, der wahrhaft monumentale Gestalten, wie er sie besonders in Michelangelos Sixtinischer Kapelle kennengelernt hatte, in ihrer Aussagekraft begriffen und verwendet hat; und er hat die zugleich geheimnisvolle und dramatische Wirkung des Lichts, die er bei Caravaggio und Adam Elsheimer bewundert hatte, als Erbe seiner römischen Zeit nach Norden getragen“ (von Simson 1996, S. 130).
Gerrit van Honthorst: Simson und Delila (um 1616);
Cleveland, The Cleveland Museum of Art
Einer der holländischen Caravaggisten, Gerrit van Honthorst (1592–1656), hat die Rubenssche Szenerie in der für ihn typischen Lichtregie nochmals aufgegriffen: In seinem um 1616 entstandenen Gemälde werden die Figuren caravaggesk herangezoomt und die Bildmotive auf diese Weise drastisch reduziert; außerdem setzt Honthorst nur noch eine Kerze als Beleuchtungsquelle ein und taucht das Geschehen damit in ein warmes, gelblich abgetöntes, harmonisierendes Licht.
Max Liebermann: Simson und Delia (1902); Frankfurt, Städel Museum
Max Liebermann: Simson und Delila (1909); Gelsenkirchen, Kunstmuseum
Als regelrechten Geschlechterkampf präsentiert Max Liebermann
(1847–1935) dann um 1900 die alttestamentliche Historie: Auf seinem Gemälde im Frankfurter Städel reckt Delila mit triumphierender Geste ihren Verbündeten Simsons Locken entgegen. Sie ist als femme fatale inszeniert, als erotisch verlockendes Weib, das den Mann ins Verderben stürzt – eine Frauenfigur, die in der damaligen Jahrhundertwende vielfach dargestellt wurde. Wenige Jahre danach griff der Berliner Maler das Thema erneut auf; das Bild ist heute im Kunstmuseum Gelsenkirchen ausgestellt.

Literaturhinweise
Francone, Marcello (Hrsg.): Samson und Delilah – ein Rubensgemälde kehrt zurück. Skira editore, Milano 2007.
Buddensieg, Tilmann: Simson und Dalila von Peter Paul Rubens. In: Lucius Grisebach/Konrad Renger (Hrsg.), Festschrift für Otto von Simson zum 65. Geburtstag. Propyläen Verlag, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1977, S. 328-345;
Jaffe, David: Rubens back and front. The case of the National Gallery Samson and Deliah. In: Apollo 152 (2000), S. 21-25;
Kuhn-Wengenmayer, Annemarie: Rubens: Samson und Delilah von 1609 und zwei zugehörige Werke. In: Norbert Dubowy (Hrsg.), Festschrift Rudolf Bockoldt zum 60. Geburtstag. Pfaffenhofen 1990, S. 81-100;
Ressos, Xenia: Samson und Delila in der Kunst von Mittelalter und Früher Neuzeit. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S. 180-184;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 141-142.
von Simson, Otto: Peter Paul Rubens (1577–1640). Humanist, Maler und Diplomat. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1996, S. 112-114;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 21. Juli 2023)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen