Peter Paul Rubens: Samson und Delila (1609); London, National Gallery (für die Großansicht einfach anklicken) |
Wir blicken in ein
nächtliches Schlafzimmer, das durch mehrere Lichtquellen erleuchtet wird.
Delila sitzt links im Vordergrund mit aufrechtem Oberkörper und lang
ausgestreckten Beinen auf einem niedrigen Bett. Sie trägt ein scharlachrotes
Kleid und einen safrangelben, von ihrem Lager herabhängenden Umhang, „so prächtig
und sinnlich wie das blonde Weib selbst“ (Simson 1996, S. 113). Delilas heruntergezogenes
weißes Hemd gibt Schultern und Oberkörper frei; ihre üppigen Brüste werden
zusätzlich durch ein über den Busen verlaufendes Stoffband betont. Vor der
jungen Frau liegt der schlafende Samson auf dem mit einem orientalischen
Teppich gepolsterten Bett. Nur mit einem Fellschurz um die Hüften bekleidet,
hat er seine Kopf auf die rechte Hand gebettet, die im Schoß seiner Geliebten
ruht. Sein linker Arm hängt entspannt über ihrem rechten Knie. Delila blickt
auf Samson herab und legt ihm sanft, fast zärtlich die linke Hand auf den
muskulösen Rücken, während ein hinter ihm stehender Mann vorsichtig zum ersten Schnitt
in seine Locken ansetzt, sorgsam bedacht, den Hünen nicht aufzuwecken. Rubens
hält sich dabei eng an die biblische Vorgabe: „Und sie ließ ihn einschlafen in
ihrem Schoß und rief einen, der ihm die sieben Locken seines Hauptes abschnitt“
(Richter 16,19; LUT). Delila betrachtet den Mann, der soeben noch ihr Liebhaber gewesen
ist, mit einem Blick, „aus dem Liebe und Sinnlichkeit noch nicht ganz entwichen
sind“ (Simson 1996, S. 113). Deutlich spürbar ist aber auch ihre Anspannung, ob
die „Schur“ vollzogen sein wird, bevor bevor Samson erwacht. Unter dem
Kandelaber am linken Bildrand ist die Lehne der Lagerstatt zu erkennen; sie
findet ihren Abschluss in einem Eselskopf, der darauf anspielen dürfte, wie
töricht sich Samson durch seine Liebesleidenschaft hat blenden lassen. Oder anders gesagt: Delilas
erotische Anziehungskraft wird Samson im wahrsten Sinn des Wortes blind machen.
Cormelis Bos: Leda und der Schwan (nach 1537); Stich nach einem verlorenen Gemälde Michelangelos |
Für die Haltung der
Delila hat Rubens auf Michelangelo und dessen berühmtem Gemälde Leda und der
Schwan zurückgegriffen. Das Bild ist nicht erhalten, aber durch zahlreiche
Kopien und Stiche überliefert. Auch Rubens hat in seiner Frühzeit eine Leda-Kopie angefertigt, die sich heute in Dresden befindet. Der Rücken des schlafenden Helden
wiederum erinnert an ein berühmtes antikes Vorbild, das Rubens in Rom mehrfach
gezeichnet hat: den Torso vom Belvedere.
Torso vom Belvedere, Zeichnung von Peter Paul Rubens |
Rubens fügt der
Dreiergruppe noch eine weitere Figur hinzu: Hinter Delila steht eine alte Frau
mit zerfurchtem Gesicht und beinahe zahnlosem Mund. Bekleidet mit einem
schlichten, bräunlich-grünen Gewand und weißer Haube, leuchtet sie dem Barbier
bei seiner Arbeit mit einer Kerze. Dabei schirmt sie die Flamme mit ihrer
rechten Hand ab, damit sie nicht durch Zugluft gelöscht wird. Die Alte gehört
zum Typus der Kupplerinnen, die in der niederländischen Kunst häufig
anzutreffen ist. In der biblischen Erzählung (Richter 16,4-22) ist nicht die
Rede davon, dass Delila eine Prostituierte gewesen sei, in den „Antiquitates
Judaicae“ (V,8) des Flavius Josephus dagegen wird daran kein Zweifel gelassen.
Auch die Venus-und-Cupido-Statuette in der Nische der Holzvertäfelung kann als Hinweis
auf das Gewerbe Delilas verstanden werden.
Delilas erotische Reize werden vergehen, sie enden in Runzeln und Zahnlosigkeit |
Caravaggio: Judith und Holofernes (1598/99), Rom, Galleria Nazionale d’Arte Antica |
Adam Elsheimer: Philemon und Baucis (1608); Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (für die Großansicht einfach anklicken) |
Es ist ein letzter Augenblick der Ruhe unter dem schweren,
gewundenen Stoff des purpurnen Baldachins, an dem wir teilnehmen. Die Spuren
sexueller Erregung sind noch deutlich sichtbar, abzulesen an der fließenden
feuerroten Seide von Delilas Gewand, der weißen Bluse in Unordnung, „als habe
Samson sie in gieriger Ungeduld weggerissen, um sich an ihren üppigen Brüsten
zu laben“ (Schama 2000, S. 142). Samson schläft den Schlaf des Befriedigten, die
Lippen geöffnet, die Nasenflügel leicht gebläht, die linke Hand entspannt nach
innen abgeknickt. Doch die Soldaten im Hintergrund lassen keinen Zweifel: Es
wird nicht mehr lange dauern, bis ein Sturm der Gewalt über ihn hereinbricht.
Peter Paul Rubens: Anbetung der Könige (1609); Madrid, Prado (für die Großansicht einfach anklicken) |
Gerrit van Honthorst: Simson und Delila (um 1616); Cleveland, The Cleveland Museum of Art |
Max Liebermann: Simson und Delia (1902); Frankfurt, Städel Museum |
Max Liebermann: Simson und Delila (1909); Gelsenkirchen, Kunstmuseum |
Literaturhinweise
Francone, Marcello
(Hrsg.): Samson und Delilah – ein Rubensgemälde kehrt zurück. Skira editore,
Milano 2007.
Buddensieg, Tilmann: Simson und Dalila von Peter Paul Rubens. In: Lucius Grisebach/Konrad Renger (Hrsg.), Festschrift für Otto von Simson zum 65.
Geburtstag. Propyläen Verlag, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1977, S. 328-345;
Jaffe, David: Rubens
back and front. The case of the National Gallery Samson and Deliah. In: Apollo 152 (2000), S. 21-25;
Kuhn-Wengenmayer, Annemarie: Rubens: Samson und Delilah von 1609 und zwei zugehörige
Werke. In: Norbert Dubowy (Hrsg.), Festschrift Rudolf Bockoldt zum 60.
Geburtstag. Pfaffenhofen 1990, S. 81-100;
Ressos, Xenia: Samson und Delila in der Kunst von
Mittelalter und Früher Neuzeit. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014, S.
180-184;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag,
Berlin 2000, S. 141-142.
von Simson, Otto: Peter
Paul Rubens (1577–1640). Humanist, Maler und Diplomat. Verlag Philipp von
Zabern, Mainz 1996, S. 112-114;LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 21. Juli 2023)
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