Rembrandt: Ecce homo (1655, erster Zustand); Kaltnadel-Radierung (für die Großansicht einfach anklicken) |
In seiner Kaltnadel-Radierung von 1655 (35,4 x 43,3 cm) versetzt Rembrandt das Geschehen vor und in eine stattliche Architektur, deren Seitenflügel einen ungepflasterten Platz einschließen. In diesem Hof des Gerichtspalastes hat sich eine bunte, friesartige aufgereihte Menschenmenge versammelt – Alte, Junge, Männer, Frauen und Kinder, bewaffnete, fesch und ärmlich gekleidete Personen – , um an dem Schauspiel teilzunehmen, das sich auf der erhöhten Tribüne darbietet. Dort oben präsentiert ihnen Pilatus, ein würdiger älterer Turbanträger, mit gelassener Geste den gefesselten Jesus als Gefangenen. Dieser ist mit einem Lendenschurz bekleidet; ein Mantel hängt an seinem Rücken herab und bedeckt kaum eine Schulter. Schweigsam steht er da, in duldender Haltung, den Blick gesenkt.
Das unten versammelte Volk steht dicht gedrängt, und auch in den Fenstern des Palastes versuchen Zuschauer, einen Blick auf das Spektakel zu erhaschen. Alle Figuren sind animiert; die Menschen drehen und wenden sich, wobei ihre Gesten insgesamt gemäßigt erscheinen; es finden sich keine Fratzen, keiner scheint laut zu schreien. Die Menge wirkt eher neugerig als boshaft und verblendet. Auf der linken Seite deutet ein mondäner Mann mit Federhut mit ausgestrecktem Arm in Richtung des Gefangenen, ein alter hat gleichfalls die linke Hand erhoben, ein anderer den Hut gelüpft, als grüße er die oben auf dem Podest stehende Gruppe.
Rembrandt: Hundertguldenblatt (um 1647/48 fertiggestellt); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken) |
Rembrandt: Ecce homo (1635); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken) |
Auf der Grundlage dieser Komposition gestaltete Rembrandt in seiner 20 Jahre später entstandenen Kaltnadel-Radierung eine ganz neue, andere Interpretation der Passionsszene: Er beruhigt die dramatische Situation und verleiht dem gefesselten Christus statuarische Würde. Als Vorbild für Duldsamkeit fordert er unsere Bewunderung und Empathie. Gleichzeitig schafft Rembrandt eine Atmosphäre beklemmender Ausweglosigkeit, indem er den Betrachterblick auf die Palastfassade verengt und anders als Lucas van Leyden darauf verzichtet, den Himmel zu zeigen.
Lucas van Leyden: Ecce homo (1510); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Zwischen Pilatus und Christus erscheint eine ausgemergelte Gestalt mit grobschlächtigem Kopf in einem Büßerhemd. Bei dieser Figur in der Mittelachse des Bildes dürfte es sich um Barrabas handeln, den gefangenen Räuber, den das Volk statt Jesus auf freiem Fuß sehen will, und der gemäß der Evangelien freikommt, während Christus gekreuzigt werden wird (Lukas 23,13-25). Die drei Figuren kontrastieren mit der dunklen Toröffnung hinter ihnen und werden so – trotz des Gedränges unter dem Podest – deutlich als Hauptgruppe hervorgehoben. Links neben ihnen steht ein junger Mann mit gesenktem Blick, ein Diener, der in seiner rechten Hand einen Krug und in der linken eine flache Waschschüssel hält. Diese Gestalt weist voraus auf eine spätere Szene, die im Matthäus-Evangelium geschildert wird: „Da aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern das Getümmel immer größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen; seht ihr zu!“ (Matthäus 27,24; LUT).
Nur bei Matthäus wird auch die Frau des Pilatus erwähnt, von der einige Verse zuvor die Rede ist: „Und als er auf dem Richterstuhl saß, schickte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum um seinetwillen“ (Matthäus 27,19; LUT). Bei der prächtig gekleideten Dame oben links im Fenster, die scheinbar emotionslos zuschaut, dürfte es sich um die Frau des Pilatus handeln. Sie wird gerade von einem Boten verlassen, der dem Gemahl von ihrem unheilvollen Traum berichten soll.
Anders als in seiner Radierung von 1635 und im Unterschied zu Lucas van Leyden illustriert Rembrandt also nicht den „Ecce homo“-Ausspruch des Pilatus, dem der Schrei des Volkes nach der Kreuzigung Jesu folgte. Jesus ist ist in Rembrandt Grafik von 1655 noch nicht gegeißelt und dornengekrönt, sondern barhäuptig. Es wird noch um ihn verhandelt, noch ist nichts entschieden. Rembrandt zeigt den Heiland ohne besonderes Attribut, das ihn als Sohn Gottes auswiese – ohne Krone und ohne Nimbus. „Er ist hier als Inbegriff eines Menschen gezeigt, über den verfügt wird, und der alle zu Unrecht Angeklagten repräsentiert“ (Buck 2022, S. 243).
Raffael: Die Schule von Athen (1510/11, Ausschnitt); Vatikan, Stanza della Segnatura |
Rembrandt: Ecce homo (1655, vierter Zustand); Kaltnadel-Radierung (für die Großansicht einfach anklicken) |
Rembrandt: Ecce homo (1655, achter Zustand); Kaltnadel-Radierung (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der alte Mann rechts blieb bei der Überarbeitung allerdings erhalten und wurde nun auf einem kleinen Podest platziert. Durch die Reduktion des Personals in den späteren Zuständen der Radierung wird die Geschichte auf erzählerischer Ebene weniger stark ausgeschmückt. „Die unmittelbare Konfrontation des Betrachtenden mit dem zur Schau gestellten gefangenen Jesus wird dadurch intensiviert – ebenso die Entscheidung, ob nach der Ermordung des ausgestellten nackten Menschen geschrien werden sollte“ (Buck 2022, S. 250).
Im finalen achten Zustand kamen weitere grafische Akzentuierungen hinzu, die an den Motiven nichts Grundlegendes mehr änderten, auch wenn die Figur des bärtigen Alten nur noch schemenhaft zu erkennen ist. Möglicherweise ist mit der geheimnisvollen Gestalt Adam gemeint, so Stephanie Buck, und damit der Mensch an sich, der nach biblischem Verständnis durch den Sündenfall der Macht des Todes verfiel (Römer 5,12).
Albrecht Dürer: Christus in der Vorhölle (1510); Holzschnitt |
Die Tore in das Verlies öffnen die Tribünenwand, die in den früheren fünf Zuständen des Ecce homo durch die Figurengruppe verdeckt wurde. Doch sie war bereits in den frühen Zuständen durch ein verstecktes Portal geöffnet: Rechts der Mitte, neben dem großen Schlagschatten, ist ein Hutträger zu sehen, der durch eine mit klassischen Säulen bzw. Wandpfeilern gerahmte Tür herabsteigt. Links von ihm hat eine Mutter ihr Kind auf den Türsturz gestellt.
Rembrandt: Die drei Kreuze (1653, erster Zustand); Kaltnadel-Radierung (für die Großansicht einfach anklicken) |
Literaturhinweise
Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt. Ein Virtuose der Druckgraphik. SMB DuMont, Köln und Berlin 2006, S. 149-151;
Buck, Stephanie: Nachdenken über Rembrandts Ecce Homo. In:Bertram Kaschek u.a. (Hrsg.), Das subversive Bild. Festschrift für Jürgen Müller. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2022, S. 237-252;
Kroll, Josefine: Christus dem Volke vorgestellt (1655). In: In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 182;
Schröder, Klaus Albrecht/Bisanz-Prakken, Marian (Hrsg.): Rembrandt. Edition Minerva, Wolfratshausen 2004, S. 270-273;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
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