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Ganswürger, röm. Marmorkopie eines hellenistischen Bronzeoriginals;
München, Glyptothek (für die Großansicht einfach anklicken) |
Ein Kind von vielleicht drei Jahren mit
reichlich Babyspeck und eine ausgewachsene Gans im Clinch: Diese antike
Skulpturengruppe gehört zu den Sehenswürdigkeiten der Münchner Glyptothek und
wird Der Ganswürger genannt (Höhe 84
cm). Es handelt sich um eine römische Marmorkopie; das Original bestand aus
Bronze und kam ohne die unschöne Sechskantstütze aus, die das Gewicht des
Tierkörpers abfangen muss. Als Bildhauer dieses im Altertum berühmten Werkes nennt
uns Plinius d.Ä. in seiner Naturalis
historia Boethus von Kalchedon. Kaiser Nero ließ das Original aus
dem griechischen Osten nach Rom bringen und in seinem Palast aufstellen.
Der pausbäckige Knabe hat die Gans mit beiden
Armen am Hals gepackt und klemmt im Eifer des Gefechts zugleich den inneren
flatternden Flügel ein, sodass der große Vogel gefangen scheint. Doch die Gans
wehrt sich; beide stemmen sich mit gespreizten Beinen kraftvoll gegeneinander.
Wie ein geübter Ringer lehnt der mollige Junge den Oberkörper zurück, die Gans
hält mit ihren breit gegrätschten Füßen dagegen und stützt sich darüber hinaus mit
ihrem gefiederten Schwanz am Boden ab. Das Kind zerrt den Hals der Gans eng an
sich heran, kreischend und um Luft ringend müht sich das Tier, der Fessel zu
entkommen.
Die Gans ist wie der Junge sehr naturalistisch
wiedergegeben: Der Bildhauer hat genau unterschieden zwischen den spitzen, sich
sträubenden Halsfedern und den schuppenförmigen Deckfedern; die starren
Schwingen heben sich ab von der weichen Polsterung der Daunen an Brust und
Bauch. Die beiden Figuren berühren an fünf Punkten den Boden, von denen sie
pyramidal nach oben bis zum Schopf über der Stirn des Knaben aufwachsen. Die
Locken des noch etwas dünnen Kinderhaares sind über der Stirn aufgebunden,
damit sie nicht in die Augen hängen. Die Darstellung wirkt natürlich; der Knabe
nimmt keinerlei Notiz vom Betrachter, sondern ist ganz seinem Kämpfchen
hingegeben, den Blick mit scharf zur Brust gesenktem Kopf konzentriert auf die
arg bedrängte Gans gerichtet. Der Würgegriff, so scheint es, ist wohl nur eine
unbeabsichtigte Folge des kindlichen Spiels. Eigentlich möchte das Kind die
Gans nur an sich ziehen, sie festhalten und umarmend liebkosen. Dass es das
Tier dabei quält, scheint es nicht zu bemerken: Unschuldig lächelnd, reagiert der
Junge auf die Gegenwehr des Tieres mit einer umso rabiateren Umarmung. Dennoch ist
die Momentaufnahme nicht realitätsnah erfasst: „Eine Gans würde in dieser Situation,
dem Druck ausweichend, mit flatterndem Flügel zur Seite hüpfen, den Kopf drehen
und dem Knaben mit dem Schnabel ins Gesicht hacken“ (Wünsche 2005, S. 112). Das
aufgeregte Tier müsste mit seinen Instinkten dem Dreijährigen klar überlegen
sein.
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Die unschöne Stütze war im Original nicht vorhanden |
Die Gruppe wirkt wie eine Genreszene ohne
tiefere Botschaft: Ein Dreikäsehoch balgt sich mit einem Tier, das er zum
Spielgenossen erkoren hat. Doch uneingeschränkt „heiter“ kann man dieses
Ringkampf nicht nennen, denn die Not der Gans ist deutlich herausgearbeitet,
Spiel und Ernst sind gleichermaßen präsent. Und man wundert sich durchaus,
woher der Knabe den Mut nimmt, ein solches flügelschlagendes, wütende Zischtöne
von sich gebendes Tier zu packen und zu strangulieren. „Die Frage ist deshalb
angebracht, ob der Künstler nicht eine Art Wunderkind vorführen wollte“
(Andreae 1998, S. 208). In dem Knaben könnte ein zukünftiger, unerschrockener
Held stecken, der von Geburt an in ihm angelegt ist wie bei Herakles: Der
Mythos berichtet, dass der Sohn des Zeus schon als Kleinkind seine erstaunliche
Kraft bewies, als er die von Hera aus Eifersucht auf seine Mutter Alkmene gesandten
Schlangen mit bloßen Händen erwürgte. Direkte Hinweise für eine solche Deutung
bietet die Gruppe allerdings nicht.
Christian Kunze fällt es schwer, sich die
Rauferei mit einer Gans als Episode einer göttlichen oder mythischen
Kindheitslegende vorzustellen, da es sich bei dem Thema des ganswürgenden
Knaben in der hellenistischen Kunst keineswegs um ein ungewöhnliches oder gar einzigartiges
Motiv handele. Vielmehr sei die Szene „überzeugend als eine im Grunde
alltägliche Begebenheit formuliert und als lebendig gegenwärtiges Ereignis
inzeniert“ (Kunze 2002, S. 151). Kunze sieht hier ein Menschenkind dargestellt,
dessen Skulptur von seinen Eltern „als Dank- oder Fürbittevotiv dem Asklepios,
dem Wächter über Gesundheit und Wohlergehen auch der Heranwachsenden, geweiht
worden war“ (Kunze 2002, S. 149). Gerade die lebensnahe Darstellung der
Kinderstatue machen „Gesundheit und Wohlergehen“ des Knaben, für die der Gott
mit dieser Votivfigur um Schutz gebeten wird, unmittelbar anschaulich: Dem
Jungchen geht es prächtig.
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Der Farnesische Stier; Neapel, Museo Archeologico Nazionale
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Bernard Andreae hat noch erwogen, ob der Ganswürger nicht eine humorvoll gemeinte,
„drollige Antwort“ (Andreae 1998, S. 208) auf den Ernst des hochdramatischen,
ebenfalls pyramidal aufgebauten Farnesischen
Stiers darstellen könnte (siehe meinen Post „Drama, Drama, Drama“). Christian
Kunze rückt den überzeugend modellierten Knabenleib in die Nähe der ebenfalls
berühmten und in vielen Repliken überlieferten Kauernden Aphrodite (siehe meinen Post „Eine Göttin badet“), deren Speckfalten am Bauch von demselben
„Bemühen um eine verblüffend lebensechte, täuschend ›natürliche‹ Beschaffenheit
des Kunstwerkes“ zeugen (Kunze 2002, S. 146).
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Kauernde Aphrodite; Rom, Villa Massimo
(für die Großansicht einfach anklicken) |
Wahrscheinlich war der Ganswürger niedrig aufgestellt: Die Vorderseite der Gruppe ist,
ausgehend von dem nach vorne gestellten linken Bein des Knaben, insgesamt
schräg nach hinten geneigt. Auf diese Weise lassen sich schräg von oben die
entscheidenden Elemente im oberen Bereich der Figuren rund um die zurückgeneigte
Brust des Jungen am besten überblicken: die würgende Umarmung der Gans, die
Nähe der beiden Köpfe und der eingeklemmte, hochgestellte Flügel des Vogels.
Eine niedrige Platzierung der Skulptur hätte dem Betrachter auch die Illusion einer
realen Begegnung vermittelt, da ein Erwachsener eben zu einem spielenden Kind
herabzublicken gewohnt ist. „Es handelt sich um ein Werk, das dem Betrachter
als ein scheinbar natürlicher Bestandteil seiner Umgebung dargeboten wird, das
diesen durch seine lebendige Präsenz und durch seine sinnliche ›Nähe‹ unmittelbar
zu verblüffen sucht“ (Kunze 2002, S. 152).
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Die Ganswürger-Replik aus den vatikanischen Museen |
Bekannt sind elf Nachbildungen des Ganswürger-Originals (Kunze 2002, S. 142);
die wichtigsten befinden sich in München (Glyptothek), in Paris (Louvre), in
Genf (Musée d’Art et d’Histoire) und im Vatikan (Musei Vaticani), am besten
erhalten ist die in München. Die erhaltenen Kopien dienten, worauf ihre
Fundorte und das häufige Herrichten der Gans zum Wasserspeier hinweisen, in der
Regel wohl als Gartenschmuck von römischen Villen oder Häusern. Der
Kleinkind-Typus des Ganswürger mit
seinen realistischen Körperformen und Proportionen übte als Vorbild eine
weitreichende Wirkung auf die hellenistische und römische Kunst aus. Von ihr
weitergereicht, erlebte diese Kindergestalt als Putto in Renaissance und Barock
eine glanzvolle Wiedergeburt.
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Andrea Mantegna: Putto aus dem Fresko in der Camera degli Sposi in Mantua
(Palazzo Ducale, 1464-1475) |
Literaturhinweise
Andreae, Bernard: Schönheit des Realismus. Auftraggeber,
Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik. Verlag Philip von Zabern, Mainz
1998, S. 206-210;
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag,
München 2001, S. 158-160;
Kunze, Christian: Zum Greifen nah. Stilphänomene
in der hellenistischen Skulptur und ihre inhaltliche Interpretation. Biering
& Bringmann, München 2002, S. 142-153;
Rühfel, Hilde: Das Kind in der griechischen Kunst. Von der
minoisch-mykenischen Zeit bis zum Hellenismus. Verlag Philipp von Zabern, Mainz
1984, S. 254-258;
Wünsche, Raimund: Glyptothek
München. Meisterwerke griechischer und römischer Skulptur. Verlag C.H. Beck,
München 2005, S. 112.
(zuletzt bearbeitet am 26. Juli 2018)