Dienstag, 13. Oktober 2015

Überdruss im Überfluss: Moretto da Brescias Bildnis des Fortunato Martinengo Cesaresco


Moretto da Brescia: Bildnis des Fortunato Martinengo Cesaresco (um 1540), London,
National Gallery (für die Großansicht einfach anklicken)
Sich auf zwei rosaseidene Kissen stützend, sitzt ein bärtiger junger Mann in Melancholie-Pose vor einem Vorhang aus rotem und goldenem Brokat; rechts hinter ihm lässt sich eine Marmorwand erkennen. Sein Stuhl mit den geschwungenen Armlehnen ist nah an den diagonal stehenden Tisch herangerückt, auf dem verschiedene Gegenstände liegen: Neben den beiden Kissen finden sich am vorderen Tischrand ein Paar abgelegter Lederhandschuhe, mehrere antike Münzen mit dazu passenden Aufbewahrungsetuis (aus Elfenbein, Horn oder Holz) und eine Bronzelampe in Form eines sandalierten Fußes.
Dunkle, bläuliche Grüntöne bestimmen die erlesene Bekleidung des Porträtierten: ein goldbesticktes Obergewand mit einer langen Reihe goldener, rosettenförmiger Zierknöpfe und aus Seidensatin gesteppten Ärmeln sowie vom unteren Bildrand angeschnittene Beinkleider. Darüber trägt er einen knielangen, mit Luchspelz gefütterten Mantel aus schwarzem Samt, der mit kurzen gebauschten Ärmeln versehen ist und dessen ausladender Kragen bis über die Schultern fällt. Darunter blitzt der metallene Griff eines Degens auf. Eine weiche schwarze Samtkappe mit breiter Krempe und Federschmuck vervollständigt die elegante Erscheinung. Ein goldenes Täfelchen mit griechischen Majuskeln schmückt die Hutkrempe; zu übersetzen wäre der Text etwa mit „Ach, ich sehne mich so sehr“ oder „Ach, ich begehre so vieles“.
Der Dargestellte, Fortunato Martinengo Cesaresco, dürfte Mitte bis Ende zwanzig sein. Sein Kopf, der schräg in der Hand des aufgestützten rechten Armes ruht, ist ins Dreiviertelprofil gedreht. Fortunato blickt zwar nahezu frontal aus dem Bildraum, doch scheint er seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Sein leicht nach oben gerichteter Blick wirkt abwesend und geht am Betrachter vorbei. „Das rechte Auge ist wesentlich stärker nach innen gerichtet als das linke, so dass sich die Blickachsen noch vor dem Betrachter kreuzen müssten. Da das linke Auge aber erheblich höher blickt, treffen sich die Achsen in keinem Punkt, so dass auch keine Fixierung erreicht wird. Für den Betrachter ist das Ergebnis irritierend: Meint man gerade, den Blick des Dargestellten aufgefangen zu haben, so blickt das jeweils andere Auge doch an einem vorbei“ (Brühl 2011, S. 80/81).
Morettos Porträt (um 1540 entstanden) prunkt mit luxuriösen Stoffen – Brokat, Pelz, Feder, Samt und Seide –, doch gleichzeitig steht die Materialopulenz wohl auch in direkter Verbindung mit dem Eindruck von Überdruss, den der junge Mann ausstrahlt. Die edle Raumausstattung und das kostbare Kostüm lassen wenig Zweifel daran, dass wir es mit einem jungen Adligen zu tun haben. Die große Wirklichkeitsnähe der dargestellten Gegenstände und Textilien erinnert in ihrer Detailtreue an nordalpine Maler, etwa den zeitgleich tätigen Hans Holbein d.J. (siehe meinen Post Protegés und Protektoren“). Die antiken Münzen und die Inschrift in altgriechischer Sprache sind typische Bestandteile eines Gelehrtenporträts. Moretto schließt hier eng an entsprechende Bildnisse Lorenzo Lottos (1480–1557) an, wie z. B. sein berühmtes Porträt des Andrea Odoni von 1527. Gleichzeitig greift er bei der Haltung des Dargestellten auf einen Bildnis-Typus zurück, den Giorgione (1478–1510) Anfang des 16. Jahrhunderts mit seinem Doppelporträt (1502 entstanden) geprägt hatte.
Hans Holbein d.J.: Bildnis des William Warham (1527); Paris Musée du Louvre
Lorenzo Lotto: Porträt des Andrea Odoni (1527); London, Hampton Court Palace
Giorgione: Doppelporträt (1502); Rom, Palazzo Venezia
Auf Morettos Bildnis präsentiert sich jemand, der vieles im Überfluss besitzt – Status, Reichtum und humanistische Bildung –, aber das allein vermag ihn nicht zu erfüllen, seine Sehnsucht nicht zu stillen. Was nicht heißen muss, dass er seine Besitztümer und Gaben geringachtet oder gar bereitwillig darauf verzichten würde. Aber der melancholische Gestus ist eindeutig: Es geht in diesem Porträt nicht wie so oft im Renaissancebildnis um stolzes Selbstgefühl und Standesbewusstsein, hier offenbart ein junger Mann die eigene Innerlichkeit und die Tiefe seines Gefühlslebens. Seit Aristoteles die Frage gestellt hatte, warum alle herausragenden Menschen, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, Melancholiker seien, galt die Melancholie als Temperament der Denker und „Kreativen“. Dieser positive Aspekt des „schwarzgalligen“ Temperaments wurde zu Beginn der Frühen Neuzeit vor allem im florentinischen Neuplatonismus wieder betont: Kontemplatives Leben, Passivität, Grübelei und Schwermut galten als Unterboden für geistige Höhenflüge und Schöpferkraft.

Literaturhinweise
Bayer, Andrea (Hrsg.): Painters of Reality. The Legacy of Leonardo and Caravaggio in Lombardy. Yale University Press, New Haven and London 2004, S. 124;
Brühl, Anna: Moretto da Brescia: Bildnisse. Studien zu Form, Wirkung und Funktion des Porträts in der italienischen Renaissance. Didymos-Verlag, Korb 2011

(zuletzt bearbeitet am 29. Oktober 2018) 

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