Ernst Ludwig Kirchner: Tanzende Frau (1911); Amsterdam, Stedelijk Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Großen Einfluss auf die Skulpturen der
Expressionisten hatte vor allem die außereuropäische Kunst Afrikas und Ozeaniens.
Vor allem Kirchner war ein Stammgast in den Naturkundemuseen von Dresden und
Berlin, was zahlreiche Zeichnungen nach entsprechenden Exponaten belegen. Und
Kirchner ist es auch, der neben Ernst Barlach und Wilhelm Lehmbruch als der
bedeutendste Bildhauer des Expressionismus gelten kann. Er hat sich zeitlebens
intensiv mit Plastik beschäftigt; von über 140 nachweisbaren Skulpturen (mit
kunsthandwerklichen Arbeiten) sind allerdings rund die Hälfte verschollen oder
zerstört, größtenteils jedoch in Fotos, Gemälden oder
Druckgrafiken
überliefert.
In Kirchners plastischem Werk steht ganz der
Mensch im Mittelpunkt; auch wenn er Gebrauchsgegenstände oder Möbel schnitt, nahmen
sie stets anthropomorphe Formen an. Abgesehen von kleineren Arbeiten, ist Kirchners Skulptur in Holz gearbeitet. Sie entsteht nach einigen Skizzen rasch und unmittelbar. Eine von Kirchners Skulpturen will ich hier
vorstellen, ich bin ihr vor kurzem in Amsterdam begegnet: Es ist die Tanzende Frau aus dem Stedelijk Museum, 1911
von Kirchner robust und direkt aus dem Holzblock herausgeschlagen (Höhe 90 cm).
Die Frontalansicht zeigt die Drehung des Oberkörpers noch deutlicher |
Aus einer leicht in den Knien gebeugten Tanzstellung
dreht die nackte Figur Oberkörper und Kopf weit nach links hinüber. Dabei hat
sie den linken Arm angewinkelt und hält ihre flache Hand hinter das Ohr –
offensichtlich eine Geste des Horchens. Der andere Arm ist in einer
Gegenbewegung ebenfalls angewinkelt und in Brusthöhe an die rechte Seite
angelegt. Den Körper hat Kirchner gleichmäßig goldgelb bemalt, nur Haar, Gesicht,
Brustwarzen, Schambereich und Fußnägel sind mit dunkler Farbe hervorgehoben;
die Oberfläche ist nicht geglättet und zeigt deutlich die Bearbeitungsspuren am
Holz.
Eine von Kirchners Ajanta-Zeichnungen (1911) |
Ernst Ludwig Kirchner: Badende am See (912); Dallas/Texas, Dallas Museum of Art |
In den schwellenden Formen der Tanzenden Frau und ihren wiegenden
Beinen wirkt das erotische Schönheitsideal indischer Tempelmalerei nach –
Kirchner hatte im gleichen Jahr 1911 Abbildungen aus einem englischen Bildband
kopiert, die Fresken aus den buddhistischen Höhlentempeln in Ajanta zeigten. „Durch Zufall fand ich Griffiths Indische Wandmalereien in Dresden in der Bibliothek. Diese Werke machten mich hilflos vor Entzücken. Diese unerhörte Einmaligkeit der Darstellung glaubte ich nie erreichen zu können, alle meine Versuche kamen mir hohl und unruhig vor. Ich zeichnete vieles an den Bildern ab, um nur einen eigenen Stil zu gewinnen und fing an, große Bilder zu malen, 150 x 200 cm“ (Strzoda 2008, S. 172). Es handelte sich um das 1896 von John Griffith publizierte, reich illustrierte Buch The paintings in the Buddhist Cave-Temples of Ajanta, Khandesh, India. Griffith veröffentlichte darin seine Kopien nach den Wandbildern der mittelalterlichen Klosteranlage von Ajanta, die noch heute als wichtigster Fundort altindischer Malerei gilt.
Auch wenn diese Anregung nicht von Originalen, sondern nur von kolorierten Lichtdrucken ausgelöst wurde, war Kirchner offensichtlich tief beeindruckt. Ein weiterer Beleg hierfür ist das großformatige Gemälde Badende am See von 1912, das auf einer Zeichnung mit kopierten Figuren aus den Ajanta-Fresken beruht. Nach Polynesien und Afrika war Indien damit die dritte exotische Entdeckung, die Kirchner in seiner »Brücke«-Zeit künstlerisch verarbeitete. In ihrer Grundhaltung und den gerundeten Körperteilen ist die Tanzende Frau den Ajanta-Figuren ganz nahe; deren Eleganz wird von Kirchner aber zugunsten kantiger und gedrungener Formen afrikanischer Kunst aufgegeben.
Auch wenn diese Anregung nicht von Originalen, sondern nur von kolorierten Lichtdrucken ausgelöst wurde, war Kirchner offensichtlich tief beeindruckt. Ein weiterer Beleg hierfür ist das großformatige Gemälde Badende am See von 1912, das auf einer Zeichnung mit kopierten Figuren aus den Ajanta-Fresken beruht. Nach Polynesien und Afrika war Indien damit die dritte exotische Entdeckung, die Kirchner in seiner »Brücke«-Zeit künstlerisch verarbeitete. In ihrer Grundhaltung und den gerundeten Körperteilen ist die Tanzende Frau den Ajanta-Figuren ganz nahe; deren Eleganz wird von Kirchner aber zugunsten kantiger und gedrungener Formen afrikanischer Kunst aufgegeben.
Ernst Ludwig Kirchner: Varieté (1912/13); Frankfurt, Städel Museum |
Ernst Ludwig Kirchner: Tänzerin Gerda (1912); Privatsammlung |
Kirchners Interesse für den Tanz lässt sich seit
1909 kontinuierlich in seinem Werk nachweisen. Von seinen Einzelplastiken
widmen sich nicht weniger als elf diesem Thema. Inspiration hierfür erhielt Kirchner aus der Welt des Zirkus und
des Varietés. Dabei belässt er in seinen Bildern den Tanz zumeist im Kontext
des Varietés und fängt die von Lebensrausch durchdrungene unbürgerliche
Atmosphäre ein. In seinen Skulpturen jedoch ist der Tanz von elementarer
Sinnlichkeit geprägt, und die Figuren zeigen ein von gesellschaftlichen Zwängen
unverformtes Körpergefühl.
Literaturhinweise
Barron, Stephanie (Hrsg.): Skulptur des Expressionismus. Prestel-Verlag, München 1984, S. 107-122;
Genge, Gabriele: Zurück zu den Wurzeln? Die Holzskulpturen der Brücke. In: Christoph Wagner/Ralph Melcher (Hrsg.), Die »Brücke« und der Exotismus. Bilder des Anderen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2011, S. 44-56;
Strzoda, Hanna: Der Einfluss
fremder Kulturen. In: Magdalena M.
Moeller (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner in Berlin. Hirmer
Verlag, München 2008, S. 170-180;Genge, Gabriele: Zurück zu den Wurzeln? Die Holzskulpturen der Brücke. In: Christoph Wagner/Ralph Melcher (Hrsg.), Die »Brücke« und der Exotismus. Bilder des Anderen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2011, S. 44-56;
Schulze, Sabine (Hrsg.): nackt!. Frauenansichten. Malerabsichten. Aufbruch zur Moderne. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2003, S. 182;
von Maur, Karin: Ernst Ludwig Kirchner – Der Maler als Bildhauer. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2003.
(zuletzt bearbeitet am 2. September 2019)
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