Michelangelo: Die Erschaffung von Sonne und Mond (1508-1512); Rom, Sixtinische Kapelle (für die Großansicht einfach anklicken) |
Michelangelos Wandmalereien in der
Sixtinischen Kapelle gehören unbestritten zu den großartigsten Werken der
abendländischen Kunst. In den Scheitelbildern des Deckengewölbes hat er von
1508 und 1512 neun Ereignisse aus dem 1. Buch Mose dargestellt: von der
Schöpfung der Welt über den Sündenfall bis zur Sintflut und der Schande Noahs.
In loser Folge werde ich mich den einzelnen Bildfeldern zuwenden und sie näher
vorstellen.
Die zweite Genesis-Szene zeigt die
Erschaffung von Sonne und Mond durch den Allmächtigen (1. Mose 1,14-18). Sie
unterscheidet sich von der ersten („Scheidung von Licht und Finsternis“) schon
rein äußerlich durch das große Format: Es handelt sich um eines der vier monumentalen
Deckenbilder, deren Abmessungen die fünf kleineren um ein Vielfaches
übertreffen. Auf diesem ersten großen Bildfeld ist Gottvater gleich zweimal dargestellt:
Er kommt von rechts herangestürmt, um sich nach links in die Tiefe des Raums zu
entfernen. Dabei wird, der Logik des Bewegungsvorgangs entsprechend, seine
Rückseite sichtbar. In der rechten Bildhälfte weist der entgegenkommende Schöpfergott
mit gebieterischen Gesten der ausgestreckten Arme den größten Himmelskörpern
ihren Platz im Kosmos an: mit der rechten Hand der Sonne vor ihm, mit der
linken dem Mond in seinem Rücken. In der linken Bildhälfte entfernt sich der
Schöpfer und erschafft dabei die Pflanzen der Erde, die seine ausgestreckte
Hand ins Leben ruft.
Michelangelo: die Scheitelbilder der Sixtinischen Decke (für die lohnenswerte Großansicht einfach anklicken) |
Offensichtlich handelt es sich hier um
zwei aufeinanderfolgende Momente einer einzigen Bewegung des Allmächtigen, wie
das jeweils purpurfarbene Gewand und
die langen weißgrauen Haare erkennen lassen. Allerdings ist der sich
entfernende Schöpfer nicht mehr von Engelputten begleitet. Gottvater wendet
sich fast liegend und wie vorwärts hechtend anderen Weiten des Raumes zu, wobei
sein pralles Gesäß zu sehen ist und geradezu hell aufleuchtet. Die Rückseite
des Allmächtigen auf diese Weise ins Bild zu setzen, noch dazu in der
wichtigsten Kapelle der Christenheit – das ist durchaus ebenso beispiellos wie
unerhört.
Diese Darstellung widerspricht so sehr
jeglichem „Decorum“, das bezweifelt wurde, ob es sich tatsächlich um Gottvater
handelt. So hat ein Theologe zu erklären versucht, dass die sich entfernende
Gestalt nur Luzifer sein könne, der von Gott vertrieben werde. „Wenn der
Allmächtige es aber hier tatsächlich mit seinem luziferischen Gegenspieler zu
tun hätte, dann wäre kein anderer Ausgang der Begegnung denkbar als der Sturz
des Bösen in die Tiefe. Auf keinen Fall dürfte die Begegnung auch nur im
Geringsten den Anschein erwecken, als würden Gott und Luzifer im Himmel Fangen
spielen“ (Herzner 2015, S. 62).
Im Antlitz von großer Anstrengung
gezeichnet, die selbst den Allmächtigen das Schöpfungswerk kostet, naht Gott
von rechts heran; in der Art, wie er mit seiner rechten, vorandrängenden Hüfte
eine kräftige Bewegung ausführt, wird deutlich, dass er nicht etwa sanft,
gleichsam passiv herbeischwebt, sondern aus eigener, energisch eingesetzter Kraft
durch den sich gerade bildenden Kosmos treibt. Auf diese Weise verdeutlicht
Michelangelo, mit welcher Intensität und Anspannung der Schöpfer sein Werk
vollbringt. Wir sehen Gott also als energiegeladenen himmlischen Akteur – was
allerdings schlicht und ergreifend dem biblischen Schöpfungsbericht
widerspricht.
Denn die Schöpfung ist nach den
Aussagen der Bibel eine Manifestation des göttlichen Geistes und nicht das
Resultat einer gewaltigen göttlichen Kraftanstrengung. Am Beginn der Schöpfung
heißt es: „Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe;
und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser“ (1. Mose 1,2; LUT). Alle dann folgenden
Schöpfungstaten werden auf die gleiche Weise beschrieben: „Und Gott sprach: Es
werde Licht! Und es ward Licht“ (1. Mose 1,3; LUT, siehe auch die Verse 6, 9, 14,
20, 24, 26 und 29). Das stimmt völlig überein mit dem Auftakt des
Johannes-Evangeliums: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und
Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch
dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist“
(Johannes 1,1-3; LUT). Der sixtinische Schöpfergott jedoch spricht nicht – vielmehr
werden bei Michelangelo „die Schöpfungstaten von Energien bewirkt, die der
Schöpfer unter vollem körperlichen Einsatz mit seinen Flugaktionen im eben erst
entstehenden Raum freisetzt“ (Herzner 2015, S. 59).
Literaturhinweise
Herzner, Volker: Die Sixtinische Decke. Warum Michelangelo malen durfte, was er wollte.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015;LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 26. Juni 2020)
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