Hermann Scherer: Die Schlafenden (1924); Köln, Museum Ludwig |
Die Schlafenden ist eine
von zwanzig Skulpturen, die der Schweizer Maler und Bildhauer Hermann Scherer
während seiner kurzen Lebenszeit (1893–1927) geschaffen hat. Fast alle sind
heute noch vorhanden: durchweg Menschenfiguren, meist Paare in
gefühlsbetonter Beziehung – eine Mutter mit Kind, Liebende oder Freunde, viele
in überraschend ursprünglichen Körperhaltungen dargestellt.
Erdhaftes Braun, glückliches Gelb |
Seit 1917 lebte der deutsche Maler,
Grafiker und Bildhauer Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) in der Schweiz. 1923
war der Expressionist in der Basler Kunsthalle zum ersten Mal in einer Schweizer
Ausstellung mit seinen Werken vertreten. Auf die junge lokale
Künstlergeneration wirkte Kirchner wie eine Offenbarung – vor allem auf den aus
dem Südbadischen stammenden Hermann Scherer, der sich in Basel sein Geld mit
der Ausführung von Bauplastiken verdiente. Kirchner und Scherer fanden Gefallen
aneinander; Kirchner lud ihn in sein Atelierhaus nach Frauenkirch (bei Davos) ein,
Scherer besuchte ihn mehrmals für längere Zeit, begann dort zu zeichnen,
Holzschnitte und erste Holzplastiken anzufertigen. Der junge Mann entfaltete
eine erstaunliche Schaffenskraft: In etwas mehr als einem Jahr entstanden
sechzehn Skulpturen. Sein Erstlingswerk in Holz war das voluminöse Liebespaar (112 cm hoch).
Auch Kirchner gestaltete nun als Bildhauer vermehrt Paare aller Art, wobei er Scherer und dessen Basler Malerfreund Albert Müller als Modelle für seine 1924 entstandene lebensgroße Skulptur Die Freunde auserkor. Kirchner übernahm hier eine Geste von Scherers erstem Liebespaar und übertrug sie auf die beiden Männer: Die linke Figur (Müller) hebt den rechten Arm wie im Gespärch vor die Brust des Freundes, während er die Linke um seine Schulter legt. Die rechte Figur (Scherer) bleibt reglos stehen, die Arme und Hände steif an den Anzug gelegt, und blickt mit großen Augen ins Weite. Die ausdrucksvollen Köpfe der Feunde sind überproportional groß, die Körper in ihren grün und blau bemalten Anzügen dagegen schmal.
Zusammen mit Albert Müller und Paul Camenisch gründete Scherer Ende 1924 nach dem Vorbild der Dresdener „Brücke“ die Gruppe „Rot-Blau“. Im April 1925 konnte die Vereinigung (in die als vierter und letzter Künstler noch Werner Neuhaus aufgenommen wurde) in der Kunsthalle Basel erstmals ihre Werke präsentieren. Dabei hinterließen vor allem Scherers Holzkulpturen beim Publikum einen starken Eindruck.
Hermann Scherer: Liebespaar (1924); Köln, Museum Ludwig |
Ernst Ludwig Kirchner: Die Freunde (1924); Basel, Kunstmuseum |
Zusammen mit Albert Müller und Paul Camenisch gründete Scherer Ende 1924 nach dem Vorbild der Dresdener „Brücke“ die Gruppe „Rot-Blau“. Im April 1925 konnte die Vereinigung (in die als vierter und letzter Künstler noch Werner Neuhaus aufgenommen wurde) in der Kunsthalle Basel erstmals ihre Werke präsentieren. Dabei hinterließen vor allem Scherers Holzkulpturen beim Publikum einen starken Eindruck.
Hermann Scherer: Mutter (1924); Aarau, Aargauer Kunsthaus |
Das bekam der Gemeinschaft
offensichtlich nicht gut. Noch vor Ausstellungsende gab Müller seinen Austritt aus
der Gruppe bekannt – er sah sich benachteiligt, weil Scherer in der Kunsthalle
mit einer größeren Zahl an Werken vertreten war. In der Folge zerbrach die
zehnjährige Freundschaft zwischen Müller und Scherer. Auch Kirchner beklagte
sich über seinen Basler Schüler: Scherer kopiere ihn sklavisch. Der deutsche
Künstler fürchtete offensichtlich, dass das Werk der „Rot-Blau“-Gruppe bekannt
wird, ohne dass man ihn als inspirierende Quelle würdigt. „Rot-Blau“ bestand
jedoch nur wenige Jahre – nicht nur Müller starb im Dezember 1926 unerwartet
früh mit 29 Jahren durch Typhus, sondern wenige Monate darauf auch Scherer am 13.
Mai 1927 an einer Infektion.
Oskar Kokoschka: Die Windsbraut (1913); Basel, Kunstmuseum |
Scherers Die Schlafenden ist mit dem expressionistischen Gemälde Die Windsbraut von Oskar Kokoschka
verglichen worden (1914 entstanden), in dem sich die Frau (mit den
Gesichtszügen von Alma Mahler) im Schlaf vertrauensvoll an den Mann schmiegt,
der wiederum hellwach zu sein scheint.
Dass sich die Beziehung zwischen Mann und Frau aber auch zum Drama der Geschlechter entwickeln kann, hat Hermann Scherer ebenfalls dargestellt, z. B. in seiner zweiten großen Holzskulptur Mann und Weib: Vergeblich sucht hier eine niedersinkende Frau in den Armen des Mannes Schutz. Ihre Hände gleiten langsam von seinen Schultern, mit angstvoll aufgerissenen Augen blickt sie ins Ungewisse, während er in dumpfer Trostlosigkeit über sie hinwegstarrt. Indem Scherer das Paar hintereinander stellt, betont er die Vereinzelung der beiden Figuren: Sie sind einander nicht zugewandt, die äußere Nähe kann über ihre innere Ferne und das Alleinsein eines jeden nicht hinwegtäuschen.
Hermann Scherer: Mann und Weib (1924); Chur, Bündner Kunstmuseum |
Hermann Scherer: Die Schlafenden (1924); Holzschnitt |
Literaturhinweise
Henze, Wolfgang: Die Plastik Ernst Ludwig Kirchners. Monographie mit Werkverzeichnis. Verlag Henze & Ketterer; Wichtrach/Basel 2002, S. 227-246;
Schwander, Martin: Hermann Scherer. Die Holzskulpturen 1924–1926. Wiese Verlag,
Basel/Stuttgart 1988, S. 80-85;
Schwandner, Martin:
«Ich komme da auf ganz neue Sachen durch das direkte Heraushauen aus dem Holzstamm.» Zu den Holzskulpturen von Hermann Scherer. In: Beat Stutzer (Hrsg.), Hermann Scherer. Skulpturen, Gemälde, Holzschnitte. Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 1999, S. 9-29
von Maur, Karin: Ernst Ludwig Kirchner. Der Maler als Bildhauer. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2003, S. 74-80.
(zuletzt bearbeitet am 3. Mai 2022)
von Maur, Karin: Ernst Ludwig Kirchner. Der Maler als Bildhauer. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2003, S. 74-80.
(zuletzt bearbeitet am 3. Mai 2022)
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