Lucas Cranach d.Ä.: Büßender Hieronymus (1502); Wien, Kunsthistorisches Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der Gelehrte und Theologe Hieronymus (347–420) gehört
zusammen mit Ambrosius, Augustinus und Gregor dem Großen zu den sogenannten vier großen Kirchenvätern der Spätantike.
Dank seiner umfassenden Bildung genoss er das besondere Vertrauen von Papst
Damasus I., in dessen Auftrag er die Vulgata schuf, die lateinische Übersetzung der Bibel. Wegen seiner Tätigkeit für den Papst wurde Hieronymus fast durchweg
als Kardinal abgebildet, obwohl er diesen Rang tatsächlich nie bekleidete. Die
scharlachrote Amtstracht kennzeichnet ihn üblicherweise selbst in jenen
Darstellungen, auf denen er in der Einöde Buße für jene Sünden tut, die er
während seiner Jugendjahre in Rom begangen hatte.
Auf dem Gemälde von Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553),
1502 in Wien entstanden, hat Hieronymus den Kardinalsornat abgelegt, um sich
mit entblößtem Oberkörper vor einem Kruzifix kniend zu geißeln, gerahmt vom Rot seines Huts und Mantels. Von solch drastischen Bußübungen ist in den überlieferten Briefen des Kirchenvaters tatsächlich die Rede. Mit der Linken hebt der in Dreiviertelansicht gezeigte Hieronymus seinen langen, grauen Bart an, um
sich selbst im nächsten Moment mit dem Stein, den er in seiner rechten Hand
hält, vor die nackte Brust zu schlagen. Dabei ist die Dynamik und Expressivität
seiner weit ausholenden Geste ebenso bemerkenswert wie die anatomisch genaue
Darstellung des muskulösen Oberkörpers. Die Körperhaltung, der ausgestreckte
rechte Arm, der angehobene Kopf und der angewinkelte linke Arm geben eine
Bilddiagonale vor, die der Blickrichtung des Hieronymus folgt und direkt zum
Gekreuzigten führt. Das Kruzifix steht leicht erhöht auf einem Felsen und ragt
wie das Kreuz auf Cranachs Schleißheimer
Kreuzigung (siehe meinen Post „Zerschlagene Leiber, aufgewühlte Seelen“) diagonal in die Tiefe des Bildraums. Es entsteht der Eindruck
eines Dialogs zwischen dem Kirchenvater und Christus: „Als Adressat seiner
Gebete erscheint die Christusfigur dem Hieronymus nicht als hölzerne Skulptur,
sondern als visionäre Verlebendigung, was Cranach durch die Verwendung von
Inkarnat betont“ (Bonnet/Schmidt-Kopp 2010, S. 136). Die ekstatische Buße erscheint als Voraussetzung für diese Verlebendigung des Gekreuzigten.
Um die Verbindung der beiden Figuren noch deutlicher zu unterstreichen, nutzt Cranach vor allem das überlange, herabwehende Lendentuch Christi: Es korrespondiert mit dem hellgrau-blauen Untergewand, das Hieronymus auf den Hüften sitzt und von einem wulstigen Knoten gehalten wird. Dieser Knoten ist auf dieselbe Weise geschlungen und sitzt auch an der gleichen Körperstelle wie der Knoten am Lendentuch des Gekreuzigten – ein Verweis darauf, dass Hieronymus auch um die imitatio Christi ringt, die rechte Nachfolge Jesu. Für den Betrachter geht es in dieser Konstellation nicht darum, selbst eine Beziehung zum Gekreuzigten aufzunehmen, er soll sich vielmehr an der inbrünstigen Kreuzesverehrung und Bußhaltung des Eremiten orientieren: Nur so wird sich das Mysterium des Glaubens, das Cranach ihm vor Augen führt, auch für ihn ereignen.
Um die Verbindung der beiden Figuren noch deutlicher zu unterstreichen, nutzt Cranach vor allem das überlange, herabwehende Lendentuch Christi: Es korrespondiert mit dem hellgrau-blauen Untergewand, das Hieronymus auf den Hüften sitzt und von einem wulstigen Knoten gehalten wird. Dieser Knoten ist auf dieselbe Weise geschlungen und sitzt auch an der gleichen Körperstelle wie der Knoten am Lendentuch des Gekreuzigten – ein Verweis darauf, dass Hieronymus auch um die imitatio Christi ringt, die rechte Nachfolge Jesu. Für den Betrachter geht es in dieser Konstellation nicht darum, selbst eine Beziehung zum Gekreuzigten aufzunehmen, er soll sich vielmehr an der inbrünstigen Kreuzesverehrung und Bußhaltung des Eremiten orientieren: Nur so wird sich das Mysterium des Glaubens, das Cranach ihm vor Augen führt, auch für ihn ereignen.
Lucas Cranach d.Ä.: Klage unter dem Kreuz („Schleißheimer Kreuzigung“, 1503); München, Alte Pinakothek (für die Großansicht einfach anklicken) |
Üblicherweise wurde die Wüste von
Chalcis in Syrien, in die sich der bußfertige Hieronymus vier Jahre lang zurückgezogen hatte (von 374 bis 379), als Einöde
außerhalb der Zivilisation dargestellt. Cranach verlegt das Geschehen in
wildbewachsene Gefilde mitteleuropäischer Prägung und rückt die urwüchsige Vegetation
nah an den Kirchenvater heran: Hieronymus befindet sich nicht vor, sondern in der
Landschaft. Die wulstigen Äste des Baums am linken Bildrand greifen dabei das
Bewegungsmotiv des halbnackten Mannes ebenso auf wie die Neigung des Busch- und
Baumwerks, die das Kruzifix hinterfangen. Das Gebäude mit einer Kapelle rechts im Hintergrund soll vermutlich das später von Hieronymus gegründete Kloster in Bethlehem andeuten.
Albrecht Dürer: Hieronymus in der Wüste (1497); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Vor Hieronymus hat sich der Löwe
niedergelassen, dem der Kirchenvater der Legende nach einen Dorn aus der Pfote
zog und der ihm daraufhin als Begleittier folgte. Sein Aussehen verweist auf
Cranachs wichtigste Quelle bei der Konzeption seines Bildes: Albrecht Dürers
Kupferstich gleichen Themas, entstanden um 1497 (siehe meinen Post „Löwe mit Greis“).
Der Löwe von Cranach und von Dürer bilden ein direktes Pendant. Auch den
asketisch-muskulösen Oberkörper des Hieronymus hat Cranach von Dürer entlehnt.
Doch so eindrücklich Dürers Schilderung der Einöde in Form von kantigen, nur
spärlich bewachsenen Felsen auch ist, „erst Cranach erreicht die atmosphärische
Dichte und die endgültige Verschmelzung von Bildpersonal und Naturraum“
(Bonnet/Schmidt-Kopp 2010, S. 13). Dürer zeigt uns einen stillen Asketen – ganz
anders dagegen der Büßer von Cranach, dessen heftige innere Erregung in seiner
ausdrucksvollen Gestik sichtbar wird.
Lucas Cranach d.Ä.: Bildnisse des Dr. Johannes Cuspinian und seiner Frau Anna Putsch (1502/03); Winterthur, Sammlung Oskar Reinhart (für die Großansicht einfach anklicken) |
Lucas Cranach d.Ä.: Büßender Hieronymus (1509), Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der Büßende scheint mit der Landschaft eins geworden, sie wäre aber auch ohne ihn bildwürdig. Ihr im Vergleich zu Dürers Kupferstich gesteigerter Stellenwert zeigt sich auch im maßstäblichen Verhältnis des Menschen zur Natur. Die hoch aufragende, mächtige Eiche, echoartig wiederholt in der schmaleren Föhre weiter hinten, überragt den Eremiten um das Doppelte, geht noch über den Bildrand und wird zum eigentlichen Blickfang des Blattes. Hinter ihr erstreckt sich die Landschaft in die Tiefe; im Mittelgrund ist eine plätschernde Quelle und eine teilweise vom Baum verdeckte Kapelle, im Hintergrund eine Siedlung mit Kirche zu erkennen. Mit Landschaften wie dieser wird Cranach zum einflussreichen Mitbegründer der sogenannten „Donauschule“, als deren prominentester Vertreter Albrecht Altdorfer (1480–1538) gilt.
Albrecht Altdorfer: Büßender Hieronymus (1507); Berlin, Gemäldegalerie |
Literaturhinweise
Brinkmann, Bodo (Hrsg.): Cranach der Ältere. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2007, S. 118;
Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010, S. 136;
Heiser, Sabine: Das Frühwerk Lucas Cranachs des Älteren. Wien um 1500 – Dresden um 1900. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 2002, S. 73-77;
Reuße, Felix: Albrecht Dürer und die europäische Druckgraphik. Die Schätze des Sammlers Ernst Riecker. Wienand Verlag, Köln 2002, S. 30;
Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010, S. 136;
Heiser, Sabine: Das Frühwerk Lucas Cranachs des Älteren. Wien um 1500 – Dresden um 1900. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 2002, S. 73-77;
Reuße, Felix: Albrecht Dürer und die europäische Druckgraphik. Die Schätze des Sammlers Ernst Riecker. Wienand Verlag, Köln 2002, S. 30;
Roller, Stefan/Sander, Jochen (Hrsg.), Fantastische Welten. Albrecht Altdorfer und das
Expressive in der Kunst um 1500. Hirmer Verlag, München 2014, S. 52;
Stadlober, Margit: Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 164-173.
(zuletzt bearbeitet am 29. November 2021)