Mittwoch, 25. Juli 2018

Verlassen in der Felsenwüste – Andrea Mantegnas „Christus in Gethsemane“


Andrea Mantegna: Christus in Gethsemane (1459), London, National Gallery (für die Großansicht einfach anklicken)
Der italienische Renaissance-Künstler Andrea Mantegna (1431–1506) hat für sein Gemälde Christus in Gethsemane (um 1459 entstanden) eine Szenerie gewählt, der jegliche Garten-Anmutung fehlt: Dargestellt ist eine nahezu vegetationslose, unwirtliche Felsenwüste, die als trostloser Ort der Verlassenheit und Todesangst Jesu entspricht. Das Matthäus-Evangelium findet deutliche Worte für die Verzweiflung, die den Sohn Gottes am Beginn seiner Passion erfasst: „Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet mit mir! Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“ (Matthäus 26,37–39; LUT).
Christus kniet auf einem durch Erosion rundgeschliffenen Felspodest, zu dem eine natürliche Steintreppe hinaufführt. Die seitlich vertikal, frontal dagegen waagerecht gelagerten Gesteinsbrocken vor ihm bilden einen regelrechten Altar. Vor dem Felspodest liegen in tiefem Schlaf die drei Begleiter Jesu, einer von ihnen halb schräg in Verkürzung dargestellt – ein Motiv, das Mantegna vermutlich von Paolo Uccello (1397–1475) übernommen hat. Ein serpentinenartig gewundener Weg führt vom Vorder- bis zu den Hügeln im Hintergrund – er dient dazu, landschaftliche Raumtiefe zu erzeugen. Im Mittelgrund erkennt man Judas, der eine Gruppe römischer Söldner mit Lanzen und Schilden anführt: Die Gefangennahme Jesu steht kurz bevor (Matthäus 26,47-56). Über dieser Gruppe erscheint das mauerumgürtete, zinnenbekränzte Jerusalem vor steil aufragenden Felsen, zusammengesetzt aus Architekturelementen norditalienscher Städte.
Paolo Uccello: Die Schlacht von San Romano (linke Tafel, um 1438/40); London, National Gallery
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Der verdüsterte Himmel ist als Ankündigung kommender Ereignisse zu verstehen: „A chilling mood of despair and grief is imposed by the dark green-blue of the evening sky, the cold golden light of the sinking sun and the streak of whitish light on the dark blue mountains in the western horizon on the upper right“ (Lightbown 1988, S. 61). Auf einer Wolkenbank erscheinen Christus fünf Engelsputten, die seine Leidenswerkzeuge mit sich führen: das Kreuz, die Lanze des Longinus, den Stab mit dem Essigschwamm, die Geißelsäule und die Dornenkrone. Sie verdeutlichen dem Sohn Gottes die Stationen seiner Passion, und auch der gläubige Betrachter soll sich durch diese „Arma Christi“ den Leidensweg Jesu in seiner persönlichen Andacht vor Augen führen. „Bildimmanent wird somit der von den Laien geforderte Meditationsvorgang von Christus, dem sie im Sinne der mystischen ,Imitatio Christi‘ nachfolgen sollen, selbst demonstriert“ (Schneider 2002, S. 49).
Symbolische Bilddetails verweisen ebenfalls auf die Passion Jesu, wie etwa der kahle Baum rechts, auf dem ein Geier sitzt: „The bird’s reputation for snuffing out its prey was already well established in trecento Italy“ (Lightbown 1986, S. 61). Daneben bildet ein entwurzelter und abgesägter Baum eine Art Steg über den schmalen Fluss, der sich auf der rechten Seite durch die Landschaft schlängelt. Dieser Baumstumpf könnte auf Worte Johannes des Täufers anspielen: „Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum: Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen“ (Matthäus 3,10; LUT). Damit wäre angedeutet, dass Christus nach Kreuzestod, Auferstehung und Himmelfahrt als himmlischer Herrscher die Menschen richten wird. Im Fluss selbst waten weißfedrige Reiher; Renate Prochno sieht in ihrer Farbe ein Zeichen für Reinheit, das gemeinsam mit dem Wasser für die Taufe stehe, die den Menschen die Reinigung von ihren Sünden bringe. Norbert Schneider erkennt in den Vögeln wiederum Störche mit ganz anders gelagerter symbolischer Bedeutung, denn nach der Lehre des spätantiken „Physiologos“ verweisen sie auf Christus: „Die Tatsache, dass sie in die Ferne fliegen und später wieder zurückkehren, wurde in diesem Tierbuch mit der Himmelfahrt Christi und seiner Wiederkehr in Verbindung gebracht“ (Schneider 2002, S. 50). In meinen Augen fehlt den Tieren jedoch das unverwechselbar Storchhafte – weder ein roter Schnabel noch das zum Teil schwarze Gefieder sind dargestellt …
Giovanni Bellini: Christus in Gethsemane (um 1460/65); London, National Gallery
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Zwischen 1460 und 1465 hat Giovanni Bellini (1430–1516), Mantegnas gleichaltriger Schwager, dessen Gethsemane-Szene in einem eigenen Bild variiert. Es befindet sich heute ebenfalls in der Londoner National Gallery. Im Gegensatz zu Mantegnas Gemälde ist der Landschaftscharakter hier abgemildert; die Landschaftsformen erscheinen sanfter, weicher, gerundeter – dies lässt sich besonders an dem Felsenaltar beobachten, auf dem Christus kniend betet. Die Landschaft weist auch mehr Zivilisationsspuren auf, die Mantegna bewusst vermieden hat. So erkennt man im Mittelgrund eine Brücke, und rechts wird der Garten Gethsemane von einem Holzzaun gesäumt. 
Auch bei Bellini ist Christus mit seinen Jüngern in eine steinig-karge Umgebung versetzt, doch ist dies nur eine Insel inmitten einer grünen, fruchtbaren Ebene. Bellini betont andererseits die Einsamkeit Jesu stärker, indem er die Jünger räumlich weiter von ihm abrückt. An Stelle der fünf Putten, die auf Mantegnas Bild leibhaftig und in unmittelbarer Nähe erscheinen, zeigt sich bei Bellini nur ein Engel, und zwar als transparente Lichtgestalt. Sie wird vom Betrachter weit eher als Vision Jesu wahrgenommen. Der Himmelsbote hält entsprechend der oben genannten Bibelstelle einen Kelch als Zeichen der bevorstehenden bitteren Leiden Christi hoch. Während Mantegna jedoch einen dunklen Himmel zeigt, der auf die Passion Christi vorausweist, ist die Landschaft bei Mantegna in warmes Morgenlicht getaucht, in der sich, so Prochno, die frohe Botschaft der Erlösung als Sinn der Passion erahnen lässt.
Eine technische Innovation beider Gethsemane-Szenen ist das Muschelgold für die Falten am Gewand Christi und für die Heiligenscheine. Die Praxis, das wohl in Muschelschalen vertriebene Pudergold wie gewöhnliche Pigmente zu verarbeiten, war in der Buchmalerei üblich, bei Staffeleimalern dieser Zeit jedoch eher ungebräuchlich. Während Mantegna in seiner gesamten Laufbahn an dieser Technik festhielt, taucht sie in Bellinis Arbeiten nur vereinzelt auf.  

Literaturhinweise
Campbell, Caroline u.a. (Hrsg): Mantegna & Bellini. Meister der Renaissance. Hirmer Verlag. München 2018, S. 135-137;
Lightbown, Richard: Mantegna. Phaidon/Christie’s Limited, Oxford 1986, S. 61-62;
Prochno, Renate: Die friedliche Konkurrenz um Innovationen. Giovanni Bellini und Andrea Mantegna. In: Renate Prochno, Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen. Akademie Verlag, Berlin 2006, S. 77-96;
Schneider, Norbert: Venezianische Malerei der Frührenaissance. Von Jacobello del Fiore bis Carpaccio. Primus Verlag, Darmstadt 2002, S. 49-51;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 14. Januar 2021) 

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