Mittwoch, 7. November 2018

Gerettet, nicht geopfert – Der Gute Hirte in der frühchristlichen Kunst


Der Gute Hirte (4. Jh.), Rom, Vatikanische Museen
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Zu den zentralen Themen altchristlicher Kunst gehört das Motiv des Guten Hirten, das auf ein Gleichnis im Johannes-Evangelium zurückgeht: Christus wird hier als der Retter gesehen, der sich um das Heil seiner Schafe, d. h. der Gläubigen, sorgt – anders als der „Mietling“, der auf die ihm anvertrauten Schafe nicht achtet und sie der Gefahr aussetzt, von den Wölfen angefallen zu werden (Johannes 10,1-16). Der ein Schaf tragende oder von Schafen flankierte Gute Hirte wird vor allem in der frühchristlichen römischen Katakombenmalerei immer wieder dargestellt; er findet sich aber auch an spätantiken Sarkophagen und in Form von Statuen. Es handelt sich um eines der wichtigsten figürlichen Sinnbilder, die auf Christus hinweisen und als Bekenntnis zu ihm zu verstehen sind (Hebräer 13,20).
In Verbindung mit weidenden Schafen ist die Darstellung des Guten Hirten eine eindeutige Paradiesverheißung. In Begräbnisstätten und auf Grabdenkmälern soll dieses Motiv den Betrachter daran erinnern, dass Christus als der Gute Hirte die Verstorbenen, die an ihn glauben, sicher in sein Reich geleitet. Sie gehören zu den „geretteten Schafen“ (Lukas 15,3-7), für die er sein Leben gegeben hat (Johannes 10,11) und denen er Erlösung und ewiges Leben bringt. Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür ist ein Mosaik im Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna (5. Jh.). Auch in frühchristlichen Taufräumen sind Bilder des Guten Hirten anzutreffen: Er soll die Neugetauften mit seiner Herde vereinen, sie vor Wölfen bewahren und an seiner Quelle tränken.
Moshe Barasch verweist auf die Verfolgungssituation, in der sich die Christen in vorkonstantinischer Zeit befunden haben: Viele von ihnen konnten sich sicherlich mit dem schwachen, bedrohten Lamm identifizieren: Der Gute Hirte als Sinnbild Christi meint dann vor allem den in Angst und Gefahr schützenden, bergenden Gott. Entsprechend trat das Motiv des Guten Hirten im 4. Jahrhundert mehr und mehr in den Hintergrund, als die christliche Kirche nach der Mailander Vereinbarung von 313 im Römischen Reich zunehmend an Einfluss gewann und schließlich 380 zur Staatsreligion erhoben wurde.
Der Gute Hirte (5. Jh.); Ravenna, Mausoleum der Galla Placidia (für die Großansicht einfach anklicken)
In den frühen Darstellungen des Guten Hirten werden bereits vorhandene antik-pagane Bildformen mit biblisch-christlichen Inhalten besetzt. So sind Hirtenszenen aus der römischen Malerei als künstlerische Inspirationsquellen anzusehen, insbesondere das Motiv des Gottes Hermes als Hirte, der einen Widder auf den Schultern trägt. Ganz ähnlich und im gleichen Begräbniskontext symbolisiert dieser „Hermes Kriophoros“ auf heidnischen Sarkophagen mit mythologischen Szenen das selige Leben im Jenseits (2. und 3. Jh.). Solche Anleihen aus der damaligen griechisch-römischen Bildwelt sollten die Akzeptanz des neuen Glaubens erleichtern. Wenn das Christentum altvertraute Bilder und Symbole aufgriff, wurden auf diese Weise traditionelle, ihres Gehaltes oft entleerte Formen mit neuem Glaubensinhalt gefüllt.
Als Beispiel für solche Übernahmen soll hier nochmals etwas eingehender die Statuette des Guten Hirten aus den Vatikanischen Museen in Rom besprochen werden. In dem weichen Antlitz, der üppigen Lockenpracht und dem lässigen Kontrapost kann man Nachklänge an die Porträtstatuen des schönen Jünglings Antinoos erkennen, dem der römische Kaiser Hadrian als seinem Liebling und Begleiter nach dessen Tod mehrere Tempel und Altäre errichten ließ. Dieses antike Schönheitsideal findet sich auch deshalb beim Guten Hirten, weil das Attribut bonus (= gut) in der griechischen Septuaginta mit kalós (= schön) wiedergegeben wird.
Antinoos-Relief (um 130-138 n.Chr.);
Rom, Palazzo Massimo alle Terme
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Andrea del Verrocchio: David (um 1475); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
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Der Gute Hirte aus den Vatikanischen Museen wendet den Kopf nach links und blickt sehnsuchtsvoll in die Ferne. Er hat das Lamm geschultert und hält es schützend an seinen Füßen fest. Von diesem Typus des Guten Hirten – kurze gegürtete Tunika, Sandalen mit bis unter die Knie geschnürten Fußlappen sowie über der Hüfte hängende Tasche – haben sich aus dieser Zeit zahlreiche Varianten erhalten. Abgewandelt wird er später im Quattrocento in der Figur des jungen David, der den Riesen Goliath besiegt, wieder aufgegriffen, etwa bei Andrea del Verrocchio (1435–1488; siehe meinen Post „Stolz und spöttisch). Das Motiv des geschulterten Jungtieres knüpft ebenfalls an einen antiken Statuentyp an, der bereits in der archaischen Epoche ausgebildet war, und zwar in der Gestalt des Kalbträgers (um 570 v.Chr., Athen, Akropolis-Museum). Diese Figur meint allerdings nicht einen Hirten, vielmehr verkörpert sie den Stifter, der das Kalb als Opfertier der Athena darbringt. Die Botschaft des christlichen Guten Hirten ist dem aber diametral entgegengesetzt: nicht um Opferung geht es, sondern um Errettung und Erlösung.
Kalbträger (um 570 v.Chr.); Athen, Akropolis-Museum
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Der sanfte Charakter des Guten Hirten verdankt sich nicht zuletzt auch der Verquickung dieses Sujets mit der antiken Hirtendichtung, wie sie von Theokrit (gest. 260 v.Chr.) und Vergil (70–19 v.Chr.) geschaffen worden war. In der frühchristlichen Literatur wurde diese pagane Bukolik adaptiert (so etwa um 400 von Servus Sanctus Endelechius) und mit christlichen Bezügen ausgestattet.
Josef August Untersberger: Der Gute Hirte (um 1920); Chromolithografie
In der Kunst des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit appelliert die Symbolgestalt des Guten Hirten an die Bußfertigkeit des „verlorenen Schafes“. Im Barock zieren Darstellungen des „Pastor bonus“ zahllose Kanzeln, weil die Verkündigung als zentrale Aufgabe des Hirtenamtes verstanden wird. Im 19. Jahrhundert, als sich der sanftmütig-weltentrückte Christustypus der Nazarener ausbreitet, findet das Motiv nochmals großen Anklang: Immer wieder wird ein sensibler, duldsamer Jesus als gütiger Hirte inmitten seiner Schafe variiert. Es handelt sich um einen kitschig-süßlichen Christus, der schließlich als dekorative Chromolithografie die Wohn- und Schlafzimmer der Bürger erobert. Die Kunstindustrie mit ihrer Massenproduktion begünstigte eine Trivialisierung überkommener christlicher Ikonografie.

Literaturhinweise
Barasch, Moshe: Das Bild des Unsichtbaren. Zu den frühen Christusbildern. In: Moshe Barasch, Das Gottesbild. Studien zur Darstellung des Unsichtbaren. Wilhelm Fink Verlag, München 1998, S. 38-52;
Braunfels, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 2. Rom u.a. 1970, Sp. 289-299;
Hinz, Paulus: Deus Homo. Das Christusbild von seinen Ursprüngen bis zur Gegenwart. Bd. 1.: Das erste Jahrtausend. Berlin 1973, S. 55-67;
Sachs, Hannelore u.a.: Wörterbuch der christlichen Ikonographie. Schnell & Steiner, Regensburg 92005, S. 163-164;
Schneider, Norbert: Geschichte der mittelalterlichen Plastik. Von der frühchristlichen Antike bis zur Spätgotik. Deubner Verlag, Köln 2004, S. 84/85.

(zuletzt bearbeitet am 29. April 2024) 

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