Fernand Cormon: Kain (1878-1880); Paris, Musée d’Orsay (für die Großansicht einfach anklicken) |
Es ist ein Bild, dass allein schon durch seine
Ausmaße im Pariser Musée d’Orsay die Aufmerksamkeit auf sich zieht: Kain, ein zwischen 1878 und 1880
entstandenes Gemälde des französischen Malers Fernand Cormon (1845–1924), ist
sieben Meter breit und vier Meter hoch. Auf der monumentalen, von Erdfarben
dominierten Leinwand zieht eine Horde prähistorischer
Männer, Frauen und Kinder durch eine karge Wüstenlandschaft. Bei ihrem Anführer
ganz rechts handelt es sich um Kain, der, wie die Bibel in 1. Mose 4,1-16
erzählt, nach dem Mord an seinem Bruder Abel von Gott zu einem unsteten Leben
auf der Flucht verdammt worden war. Kain stapft mühsam voran; seine Söhne
schleppen auf einer Holzbahre eine Frau mit ihren schlafenden Kindern und
blutige Fleischstücke hinter ihm her. Andere Männer, Jäger, begleiten sie durch die kahle Ebene.
Einer von ihnen trägt eine junge barbusige Frau in den Armen: Ihr elfenbeinernes
Inkarnat sticht deutlich von der runzligen, wettergegerbten Haut der anderen
Sippenmitglieder ab – sie entspricht erkennbar dem zeitgenössischen weiblichen
Schönheitsideal. Den Abschluss des sich horizontal von links nach rechts
erstreckenden Zuges bilden mehrere Hunde.
Vergleichsfiguren helfen sehr, um sich eine Vorstellung von den Proportionen eines Bildes zu machen ... |
Die zerzauste, barfüßige Sippe
ist nur mit Tierfell-Lendenschurzen bekleidet; den Schatten, den die Gruppe in
der Sonnenglut wirft, hat Cormon überlängt:
„So entsteht der Eindruck,
als verfolge das erdrückende Licht der Wahrheit diesen schuldbeladenen Stamm
über das unfruchtbare Land hinweg“ (Muhr 2006, S. 413). Kain ist nicht durch ein
äußeres Mal gekennzeichnet, wie die Bibel erwähnt (1. Mose 4,15), sondern durch
seinen dumpfen Blick, die durch die Mordtat niedergedrückten Schultern und
seinen Finger, „der auf kein erreichbares Ziel zeigt“ (Kermani 2015, S. 104). Zuversicht
oder Freude sind nirgends auch nur angedeutet, nicht in den Gesichtern, nicht
in der Landschaft. Was wir vor uns sehen, ist nackter Daseinskampf. „Eyes are
cast down or stare blankly ahead. They are bodies and only bodies, engaged in a
Darwinian struggle to survive“ (Lucy 2002, S. 118).
Der Künstler hat auf seinem Gemälde nicht nur
eine auf den ersten Seiten der Bibel geschilderte Episode dargestellt – es ging
ihm vor allem um die Rekonstruktion der menschlichen Frühgeschichte. Cormon
bemühte sich, eine Vorstellung vom Aussehen und Gebaren unserer prähistorischen
Vorfahren zu vermitteln, und dabei orientierte er sich vor allem an
wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht mehr an der christlichen
Bildtradition. Körperbau und Gesichtszüge, Bekleidung und Frisuren, Werkzeuge
und Waffen der Urmenschen sollten den zeitgenössischen Forschungsergebnissen
und Funden entsprechen und wurden von Cormon sozusagen als „kinorealistische
Vision“ (Kermani 2015, S. 105) im Breitwandformat wiedergegeben.
Rekonstruiertes Aussehen eines Neanderthalers; Mettmann, Neanderthal Museum |
1878, als der Maler mit der Arbeit an seinem Kain begann, wurde der Anthropologie auf
der Weltausstellung in Paris eine ganze Sektion eingeräumt: Der Pavillon war überfüllt
mit prähistorischem Werkzeug und Knochenfragmenten; Vitrinen an den Wänden
zeigten mehr als 1400 chronologisch geordnete Schädel vom Neanderthaler bis zum
modernen Menschen. Das Thema Prähistorie erlangte mit dem Fund des Neanderthalers
1856, der Veröffentlichung von Charles Darwins Die Abstammung des Menschen 1871 und spätestens dann mit der Entdeckung
der paläolithischen Felszeichnungen in der spanischen Altamira-Höhle 1879 großes
öffentliches Interesse. Kain und seine Rotte bilden „the visual analogue of
descriptions of Neanderthal man, whom scientists had determined was a being
with distinctly bent legs and that lacked the convex spine for upright posture“
(Lucy 2002, S. 118).
Cormons Gemälde löste 1880 auf dem Pariser Salon, der damals renommiertesten Kunstausstellung der
Welt, heftige Kontroversen aus und war dennoch ein großer
Erfolg, der ihm eine „Medaille-d’or“ sowie zahlreiche Aufträge einbrachte. Die
Bemühungen des Künstlers, prähistorisches Leben darzustellen, fanden später im
Pariser Naturkundemuseum die ihnen angemessene Umgebung: Cormon führte dort
Wand- und Deckendekorationen aus, auf denen er die Entwicklung des
Menschengeschlechts schilderte. Damit stellte sich der Maler noch weiter in den
Dienst der Wissenschaft, auch wenn seine Figuren heute geschönt erscheinen.
Literaturhinweise
Muhr
Stefanie: Der Effekt des Realen. Die historische Genremalerei des 19.
Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2006
Kermani.
Navid: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. Verlag C.H. Beck, München
2015, S. 101-105;
Lucy,
Martha: Cormon’s Cain and the Problem of the Prehistoric Body. In: Oxford Art
Journal 25 (2002), S. 109-126.(zuletzt bearbeitet am 27. Dezember 2019)
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