Donnerstag, 31. Januar 2019

Prähistorisches Bibel-Kino – Fernand Cormons Monumentalgemälde „Kain“


Fernand Cormon: Kain (1878-1880); Paris, Musée dOrsay (für die Großansicht einfach anklicken)
Es ist ein Bild, dass allein schon durch seine Ausmaße im Pariser Musée d’Orsay die Aufmerksamkeit auf sich zieht: Kain, ein zwischen 1878 und 1880 entstandenes Gemälde des französischen Malers Fernand Cormon (1845–1924), ist sieben Meter breit und vier Meter hoch. Auf der monumentalen, von Erdfarben dominierten Leinwand zieht eine Horde prähistorischer Männer, Frauen und Kinder durch eine karge Wüstenlandschaft. Bei ihrem Anführer ganz rechts handelt es sich um Kain, der, wie die Bibel in 1. Mose 4,1-16 erzählt, nach dem Mord an seinem Bruder Abel von Gott zu einem unsteten Leben auf der Flucht verdammt worden war. Kain stapft mühsam voran; seine Söhne schleppen auf einer Holzbahre eine Frau mit ihren schlafenden Kindern und blutige Fleischstücke hinter ihm her. Andere Männer, Jäger, begleiten sie durch die kahle Ebene. Einer von ihnen trägt eine junge barbusige Frau in den Armen: Ihr elfenbeinernes Inkarnat sticht deutlich von der runzligen, wettergegerbten Haut der anderen Sippenmitglieder ab – sie entspricht erkennbar dem zeitgenössischen weiblichen Schönheitsideal. Den Abschluss des sich horizontal von links nach rechts erstreckenden Zuges bilden mehrere Hunde.
Vergleichsfiguren helfen sehr, um sich eine Vorstellung von den Proportionen eines Bildes zu machen ...
Die zerzauste, barfüßige Sippe ist nur mit Tierfell-Lendenschurzen bekleidet; den Schatten, den die Gruppe in der Sonnenglut wirft, hat Cormon überlängt: „So entsteht der Eindruck, als verfolge das erdrückende Licht der Wahrheit diesen schuldbeladenen Stamm über das unfruchtbare Land hinweg“ (Muhr 2006, S. 413). Kain ist nicht durch ein äußeres Mal gekennzeichnet, wie die Bibel erwähnt (1. Mose 4,15), sondern durch seinen dumpfen Blick, die durch die Mordtat niedergedrückten Schultern und seinen Finger, „der auf kein erreichbares Ziel zeigt“ (Kermani 2015, S. 104). Zuversicht oder Freude sind nirgends auch nur angedeutet, nicht in den Gesichtern, nicht in der Landschaft. Was wir vor uns sehen, ist nackter Daseinskampf. „Eyes are cast down or stare blankly ahead. They are bodies and only bodies, engaged in a Darwinian struggle to survive“ (Lucy 2002, S. 118).
Der Künstler hat auf seinem Gemälde nicht nur eine auf den ersten Seiten der Bibel geschilderte Episode dargestellt – es ging ihm vor allem um die Rekonstruktion der menschlichen Frühgeschichte. Cormon bemühte sich, eine Vorstellung vom Aussehen und Gebaren unserer prähistorischen Vorfahren zu vermitteln, und dabei orientierte er sich vor allem an wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht mehr an der christlichen Bildtradition. Körperbau und Gesichtszüge, Bekleidung und Frisuren, Werkzeuge und Waffen der Urmenschen sollten den zeitgenössischen Forschungsergebnissen und Funden entsprechen und wurden von Cormon sozusagen als „kinorealistische Vision“ (Kermani 2015, S. 105) im Breitwandformat wiedergegeben.
Rekonstruiertes Aussehen eines Neanderthalers; Mettmann, Neanderthal Museum
1878, als der Maler mit der Arbeit an seinem Kain begann, wurde der Anthropologie auf der Weltausstellung in Paris eine ganze Sektion eingeräumt: Der Pavillon war überfüllt mit prähistorischem Werkzeug und Knochenfragmenten; Vitrinen an den Wänden zeigten mehr als 1400 chronologisch geordnete Schädel vom Neanderthaler bis zum modernen Menschen. Das Thema Prähistorie erlangte mit dem Fund des Neanderthalers 1856, der Veröffentlichung von Charles Darwins Die Abstammung des Menschen 1871 und spätestens dann mit der Entdeckung der paläolithischen Felszeichnungen in der spanischen Altamira-Höhle 1879 großes öffentliches Interesse. Kain und seine Rotte bilden „the visual analogue of descriptions of Neanderthal man, whom scientists had determined was a being with distinctly bent legs and that lacked the convex spine for upright posture“ (Lucy 2002, S. 118).
Cormons Gemälde löste 1880 auf dem Pariser Salon, der damals renommiertesten Kunstausstellung der Welt, heftige Kontroversen aus und war dennoch ein großer Erfolg, der ihm eine „Medaille-d’or“ sowie zahlreiche Aufträge einbrachte. Die Bemühungen des Künstlers, prähistorisches Leben darzustellen, fanden später im Pariser Naturkundemuseum die ihnen angemessene Umgebung: Cormon führte dort Wand- und Deckendekorationen aus, auf denen er die Entwicklung des Menschengeschlechts schilderte. Damit stellte sich der Maler noch weiter in den Dienst der Wissenschaft, auch wenn seine Figuren heute geschönt erscheinen.

Literaturhinweise
Muhr Stefanie: Der Effekt des Realen. Die historische Genremalerei des 19. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2006
Kermani. Navid: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. Verlag C.H. Beck, München 2015, S. 101-105;
Lucy, Martha: Cormon’s Cain and the Problem of the Prehistoric Body. In: Oxford Art Journal 25 (2002), S. 109-126.

(zuletzt bearbeitet am 27. Dezember 2019) 

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