Jan Vermeer: Mädchen mit dem Perlenohrring (um 1665); Den Haag, Mauritshuis (für die Großansicht einfach anklicken) |
Das Mädchen mit dem Perlenohrring gehört ohne Frage zu den berühmtesten und beliebtesten Gemälden des holländischen Malers Jan Vermeer (1632–1675). Gerne wird es auch „die niederländische Mona Lisa“ genannt. Die 44,5 x 39 cm große, um 1665 entstandene Leinwand ist eines der nur insgesamt 37 heute noch bekannten Bilder Vermeers – ein sehr überschaubares Gesamtwerk also. Das Bruststück zeigt das nah gesehene, hell erleuchtete Gesicht einer jungen Frau vor neutralem, unstrukturierten Hintergrund. Dabei dreht sie sich von rechts nach links in die Bildmitte und wendet ihren Kopf über die linke Schulter dem Betrachter zu, bis sie nahezu in En-Face-Ansicht erscheint. Aus großen dunklen Augen, in denen das einfallende Licht Glanzpunkte hinterlässt, blickt sie uns intensiv an. Ihr feucht schimmernder Mund ist wie zum Sprechen leicht geöffnet. Das Licht spiegelt sich nicht nur auf den zartroten vollen Lippen, sondern hinterlässt auch spiegelnde Reflexe auf einer großen Perle, die in der verschatteten Körperhälfte vom linken Ohr herabhängt. Die glänzende Perle stellt die optische Verbindung der Lichtreflexe von Augen und Mund zum hell aufstrahlenden Kragen her.
Bekleidet ist die junge Frau mit einem gelblich-grünverschatteten Gewand und der extravaganten Kopfbedeckung eines kristallblau-gelben Kopftuchs in Form eines Turbans. Seine Stoffbahnen sind am Hinterkopf zu einem hochgesteckten Knoten gebunden und fließen von dort zitronengelb und blau-changierend über den Nacken zu den Schulterblättern herab. Kopfbedeckung und Gewand der jungen Frau sind mit großzügigen Pinselstrichen lediglich angedeutet. „Wie eine zäh ineinander fließende Masse erscheinen die Farben des Turbans aufgetragen, umfließen das kleine Gesicht und ziehen in dem gelben Stoffstreifen den Hinterkopf des Mädchens sanft nach unten, so dass sich ihre Kinnpartie leicht dem Licht entgegen hebt“ (Rambach 2007, S. 187).
Durch die Drehung aus dem Profil des Oberkörpers in die Dreiviertelansicht des Kopfes gewinnt die Bildfläche räumliche Tiefe und die Figur Plastizität. Von einer erhöhten Lichtquelle außerhalb des Bildes wird die rechte, uns abgewandte Gesichtshälfte der jungen Frau stark beleuchtet. Das Mädchen scheint sich nur für einen kurzen Augenblick umzuwenden – sie reagiert offenbar auf etwas oder jemand außerhalb des Bildes. Ihr Blick aus schwarzen Pupillen ist von unten leicht nach oben auf einen etwas höher angesiedelten Betrachterblick gerichtet; die Gesichtszüge selbst sind wie von einem zarten, porzellanartigen Schmelz überzogen.
1995 wurde das Gemälde eingehend technisch untersucht – Ergebnis: Der heute sichtbare, ins Schwarz tendierende Hintergrund, vor dem das Gesicht des Mädchens aufleuchtet, ist das Resultat einer Jahrhunderte einwirkenden Oberflächenbeschädigung durch Licht und Feuchtigkeit. Ursprünglich, so konnten die Restauratoren rekonstruieren, lag über einem dunklen Untergrund eine glatte, glänzende, kräftig grüne Farbe. Vermeer hat das Mädchen mit keinerlei Attributen versehen, an denen sich erkennen ließe, ob hier vielleicht eine allegorische oder mythologische Figur gemeint sein könnte (z. B. eine Muse oder eine Sibylle). Auch ein Auftragsporträt dürfte nicht vorliegen, dafür ist die Bekleidung zu exotisch bzw. zu wenig repräsentativ – sie gibt keinerlei Hinweise auf den gesellschaftlichen Stand der Dargestellten. Karl Schütz sieht in dem Mädchen mit dem Perlenohrring eine Kopfstudie – ein Bildtypus, der in der holländischen Malerei des 17. Jahrhundert weit verbreitet war und als Tronie bezeichnet wird. In eng gefasstem Bildausschnitt zeigen Tronien eine isolierte Figur, zumeist vor neutralem Hintergrund, die nach dem lebenden Modell angefertigt wurde, aber nicht als Porträt gemeint ist und deswegen anonym bleibt.
Michael Sweerts: Bildnis eines Jungen mit Hut (um 1659); Hartford, Wadsworth Atheneum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Als Vermeers Vorbild für den feucht schimmernden Glanz der Augen und des Mundes, die das Mädchen mit dem Perlenohrring auszeichnen, sowie die weich gezeichneten Konturen gilt die von Michael Sweerts (1618–1664) zwischen 1655 und 1660 geschaffene Reihe von Kinderköpfen. Sweerts’ Figuren – Brustbildnisse vor ebenfalls dunklem, undefinierten Hintergrund – haben zum Teil wie bei Vermeer die Lippen geöffnet, blicken über die rechte Schulter, schauen jedoch verträumt in eine unbestimmte Ferne; sie treten nicht in Kontakt mit dem Betrachter.
Glossar
Ein Bruststück zeigt den Kopf einer Figur mit einem Großteil des Oberkörpers, Schultern und Armabschnitten.
Bei einer En-Face-Ansicht ist das dargestellte Gesicht frontal auf den Betrachter gerichtet.
Literaturhinweise
Büttner, Nils: Vermeer. Verlag C.H. Beck, München 2010, S. 39-42;
Rambach, Christiane: Vermeer und die Schärfung der Sinne. VDG, Weimar 2007, S. 185-200;
Schütz, Karl: Vermeer. Das vollständige Werk. TASCHEN GmbH, Köln 2015, S. 230-231.
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